News | Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus In der Abwärtsspirale

Hunger, Versorgungsengpässe, Verfall der Währung – die syrische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise

Information

Author

Harald Etzbach,

November 2020: lange Warteschlangen vor einer Bäckerei in Mezze, einem Stadtteil von Damaskus
November 2020: lange Warteschlangen vor einer Bäckerei in Mezze, einem Stadtteil von Damaskus
  Quelle: Syrian Network for Human Rights (SNHR)

Knapp zehn Jahre nach dem Beginn der syrischen Protestbewegung befinden sich offiziell wieder gut zwei Drittel des Landes unter der Kontrolle des Assad-Regimes. Mitte November wurde mit russischer Unterstützung in Damaskus eine Konferenz organisiert, bei der über die Rückkehr der Flüchtlinge und einen baldigen Wiederaufbau des Landes gesprochen werden sollte. Doch hinter dieser mühsam errichteten Fassade der Normalität verschärfen sich gleich mehrere Krisen, die zeigen, wie wenig das Regime tatsächlich Herr der Lage ist.

Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Westasiens und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Außenpolitik.

Syrien befindet sich in einer ökonomischen Abwärtsspirale. Nach Angaben der Weltbank betrugen die kumulativen Verluste im Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2011 bis Ende 2016 226 Milliarden US-Dollar, etwa viermal so viel wie das syrische BIP im Jahr 2010. Mittlerweile schätzt das Welternährungsprogramm, dass etwa 9,3 Millionen Syrer*innen (mehr als die Hälfte der im Land verbliebenen Bevölkerung) an Hunger leiden, weitere 2,2 Millionen sind akut von Hunger bedroht. Mehr als 80 Prozent der Syrer*innen leben unter der Armutsgrenze.

Ende Oktober tauchten Bilder von Menschen auf, die auf den Bürgersteigen in eine Art Käfig eingesperrt um Brot anstehen. Zuvor hatte die Regierung die Subventionierung von Brot stark eingeschränkt: Ein Haushalt mit zwei Personen erhält seitdem nur noch eine Packung Brot pro Tag, maximal erhält eine Familie nur noch vier Packungen Brot pro Tag, unabhängig von der Zahl der Familienmitglieder. Zugleich wurde der Preis für subventioniertes Brot und Mehl um 100 Prozent erhöht. Versorgungsengpässe hatte es allerdings bereits vor den Subventionskürzungen gegeben. Lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften oder Tankstellen gehören schon seit Langem zum Alltag vieler Syrer*innen.

Vertreter*innen des Regimes haben in der Vergangenheit immer wieder die internationalen Sanktionen für die Situation verantwortlich gemacht. Interessanterweise hat der syrische Präsident Assad selbst dies Anfang November bestritten. Die Krise habe schon vor dem von der US-Regierung Regierung unter Trump im Dezember 2019 verhängten «Caesar Act» und Jahre vor den anderen westlichen Sanktionen begonnen. Entscheidend sei vielmehr die Bankenkrise im Libanon: 20 bis 42 Milliarden US-Dollar sollen dort auf Konten syrischer Geschäftsleute liegen. Nachdem die libanesischen Banken Ende letzten Jahres zur Verhinderung von Kapitalflucht strenge Kontrollen für Abhebungen und Überweisungen ins Ausland eingeführt haben, sind diese Guthaben nun blockiert.

Massive Probleme gibt es bei der Versorgung mit Weizen. In den vergangenen neun Jahren ist die syrische Weizenproduktion um etwa die Hälfte gefallen, und um die Kontrolle über die Weizenversorgung streiten rivalisierende politische Kräfte. Ein großer Teil der Weizenproduktion befindet sich im Nordosten des Landes. Dieses Gebiet untersteht der kurdischen Selbstverwaltung, die in diesem Jahr den dort produzierenden Bauern untersagte, Weizen an Händler und Organisationen außerhalb der Region zu verkaufen. Ein anderes traditionelles Weizenanbaugebiet ist die Provinz Idlib im Nordwesten, die von oppositionellen Kräften gehalten wird.

In den vergangenen Jahren konnten die Ausfälle teilweise durch russische Weizenimporte kompensiert werden. Zwischen 2017 und 2018 importierte Syrien rund 2,2 Millionen Tonnen Weizen, 90 Prozent davon kamen aus Russland. Seit einiger Zeit jedoch gehen die Importe aus Russland zurück, eine Entwicklung, die durch die Coronakrise noch verstärkt worden ist, da Russland bemüht ist, seine eigene Versorgung abzusichern. Das syrische Regime hat darauf mit einer Diversifizierung seiner Importquellen und einer weitgehenden Lockerung der Importbestimmung für Weizen reagiert. Ende März 2020 entschied das syrische Ministerium für Wirtschaft und Außenhandel, dass alle Importeure, einschließlich privater Unternehmen, Weizenmehl importieren dürfen, unabhängig von seiner Herkunft. Zuvor hatte das Ministerium in regelmäßigen Abständen eine Gruppe von Ländern festgelegt, aus denen Mehl importiert werden konnte.

Unabhängig vom Ursprung der Einfuhren sind jedoch alle Importeure – egal, ob staatlich oder privat – mit dem Problem des zunehmenden Verfalls des syrischen Pfunds konfrontiert. Im November musste man für einen US-Dollar 2.890 syrische Pfund zahlen, für einen Euro 3.422 syrische Pfund. Zum Vergleich: Vor einem Jahr wurde ein US-Dollar auf dem Schwarzmarkt für 1.000 syrische Pfund gehandelt, und dies galt schon als stark inflationär. Der immer ungünstiger werdende Wechselkurs erhöht die Preise für Importe und treibt die Verbraucherpreise massiv in die Höhe. Nach Angaben der Vereinten Nationen lagen die Preise für Lebensmittel im Oktober um 90 Prozent höher als ein halbes Jahr zuvor, die Steigerungsrate über das ganze Jahr betrug 236 Prozent.

Im Sommer führten schließlich eine Reihe von schweren Waldbränden in den Provinzen Latakia und Tartus zur Zerstörung von etwa 9.000 Hektar landwirtschaftlich genutztem und bewaldetem Land (andere Berichte sprechen sogar von bis zu 35.000 Hektar). Zwar sind Waldbrände im August und September in der Region ein durchaus häufiges Phänomen, doch waren sie in diesem Jahr häufiger und breiteten sich schneller und weiter aus. So verzeichnete etwa die Provinz Latakia vom 1. Juni bis zum 25. September 580 Brandmeldungen, verglichen mit 160 im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Ursachen sind illegaler Holzeinschlag, Misswirtschaft und Überweidung und die zunehmende Umwandlung von land- und forstwirtschaftlichen Flächen in bebaute Gebiete. Am 11. September erklärte das Innenministerium, es seien im Zusammenhang mit den Bränden sechs Personen verhaftet worden. Diese hätten illegale Brandrodungen vorgenommen, um ihren Landbesitz zu vergrößern.

Eine Menschenrechtsgruppe in Latakia berichtete gegenüber der Internetpublikation «Syria Report» allerdings auch, dass hinter einigen der diesjährigen Waldbrände Organisationen steckten, die Land an russische Investoren verkaufen wollten. Die Brände seien systematisch gelegt worden, und russische Hubschrauber hätten nicht eingriffen, obwohl sie in der Nähe gewesen seien. «Syria Report» betont, dass diese Berichte nicht überprüft werden konnten.

Bei einer Besichtigung der von den Waldbränden betroffenen Küstenstädte sagte Präsident Assad im Oktober großzügige Hilfen zu. Kurze Zeit unternahm auch Präsidentengattin Asma al-Assad eine ähnliche Rundreise. Die Besuche des Präsidentenehepaars, das sonst aus Sicherheitsgründen nur selten die Hautstadt Damaskus verlässt, wurden als Reaktion der herrschenden Familie auf die Kritik am Regime interpretiert, das sich als unfähig erwiesen hatte, die Brände einzudämmen.

Die wirtschaftlichen Probleme führen zunehmend auch zu Unzufriedenheit und Protesten bei Teilen der syrischen Bevölkerung, die sich bisher neutral verhielten oder sogar zu den Unterstützern des Regimes zählten. Die seit Jahren größten Demonstrationen in den vom Regime gehaltenen Gebieten fanden im Juni in der mehrheitlich von Drus*innen bewohnten Stadt Suweida im Süden des Landes statt. Zwar gab es hier seit 2011 immer wieder Proteste, im Allgemeinen blieben sie jedoch eher klein, weil die drusische Bevölkerung versuchte, neutral zu bleiben. Die Proteste standen unter dem Motto «Wir wollen leben». In Suweida waren die Preise für Lebensmittel zwischen Januar und April um 152 Prozent gestiegen. Die Demonstrant*innen gingen aber nicht nur auf die Straße, um auf ihre katastrophale wirtschaftliche Lage aufmerksam zu machen, sondern forderten sehr schnell auch ein Ende der Diktatur. Obwohl diese Demonstrationen in einem relativ eng begrenzten Teil Syriens wohl keine direkte Bedrohung für das Assad-Regime darstellen und schließlich auch niedergeschlagen wurden, sind sie bemerkenswert, da viele sehr junge Menschen daran teilnahmen, die 2011, zu Beginn der Revolution, noch Kinder waren. Es gibt womöglich eine neue Generation von Aktivist*innen, die sich nicht mit Korruption, einer bankrotten Wirtschaft, einem zerstörten Land und politischer Unfreiheit abfinden wollen.