News | Geschlechterverhältnisse - Arbeit / Gewerkschaften - Westasien - Golfstaaten - WM Katar 2022 - Westasien im Fokus Das Kafala-System besteht fort

Zum zehnjährigen Jubiläum der WM-Vergabe an Katar

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Vani Saraswathi,

Das Leben unter dem Kafala-System aus Sicht der Arbeitsmigrant*innen
«Low-income migrant workers often face limited, difficult choices in the Gulf. What would you do in their place?» 

Die interaktive Webstory von Migrant-Rights.org gibt Einblick in das Leben unter dem Kafala-System aus Sicht der Arbeitsmigrant*innen. www.migrant-rights.org

Am 2. Dezember dieses Jahres jährte sich die Vergabe der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2022 an Katar zum zehnten Mal. Das sportliche Großereignis zieht seit Jahren tausende Migrant*innen ins Land, die auf den Baustellen, aber auch in den Haushalten des Emirats arbeiten. Nach anhaltender internationaler Kritik an den Arbeitsbedingungen traten in Katar im September Arbeitsrechtsreformen in Kraft. Die UN-Arbeitsorganisation ILO sprach von einem «historischen Schritt», ob sich die Situation der Arbeiter*innen tatsächlich verbessert ist aber fragwürdig.

Es gibt die Tendenz, jede noch so kleine Reform und jedes neue Arbeitsgesetz als die Abschaffung des Kafala- oder Bürgschaftsystems zu feiern.[1]  Behaupten Staaten dergleichen mithilfe ihres gesamten PR-Apparats lautstark genug, werden die offiziellen Verlautbarungen ohne nennenswerte Kritik oder Analyse akzeptiert – bis sich die Erkenntnis einstellt, dass altbekannte, Kafala-verwandte Probleme fortbestehen. So verschaffen sich Staaten mehr Zeit, um das Kafala-System «abzuschaffen» – zum wiederholten Mal.

Vani Saraswathi ist Mitherausgeberin und Projektleiterin bei Migrant-Rights.org.

Bei weitem am meisten kritisiert, aber auch gelobt, wird Katar. Seit 2014 behauptet die dortige Regierung, sie habe das Kafala-System abgeschafft. Zunächst handelte es sich um eine bloße Namensänderung – das Kafala-System wurde als Vertragssystem bezeichnet. Dann wurden die Bedingungen für einen Arbeitsplatzwechsel teilweise gelockert. Daraufhin wurde das bisherige Verfahren zur Erlangung einer Ausreiseerlaubnis schrittweise aufgehoben. Schließlich hat man das sogenannte No Objection Certificate (NOC) – das Zeugnis des Bürgen/Arbeitgebers, ohne das Arbeiter*innen den Arbeitsplatz nicht wechseln durften – ganz abgeschafft.

Im vorliegenden Beitrag geht es um das Kafala-System in Katar – nicht, weil die Missstände hier schlimmer als anderswo wären, sondern weil sowohl Menschenrechtsaktivist*innen als auch die Regierung selbst – vor allem aufgrund der Aufmerksamkeit, die die für 2022 geplante FIFA Fußballweltmeisterschaft mit sich bringt – hier die sichtbarste Arbeit geleistet haben.

Zwar war es eine konzertierte globale Kampagne, die Katar gezwungen hat, sich zur Achtung der Menschenrechte von Migrant*innen zu bekennen. Doch sollte auch anerkannt werden, dass Katar eine in der Region beispiellose Bereitschaft an den Tag gelegt hat, mit internationalen NGOs, Gewerkschaften und UN-Agenturen zusammenzuarbeiten. Die technische Zusammenarbeit mit der UN- Arbeitsorganisation und die Einrichtung eines Projektbüros hatten auch zur Folge, dass die Gesetze und Vorschriften internationalen Standards entsprechen.  

Die Reformen der vergangenen sechs Jahre sind bemerkenswert. Sie betreffen in erster Linie das Arbeitsrecht, das dem Ministerium für Verwaltungsentwicklung, Arbeit und soziale Angelegenheiten (MADLSA) untersteht. Doch ein Gesetz ist nur so wirksam wie seine Umsetzung und nur so gut wie die schlechtesten Gesetze, die das Gesetzbuch ansonsten beinhaltet – in diesem Fall die Einwanderungsgesetze, für die das Innenministerium zuständig ist. Zudem hat das Innenministerium in der Hierarchie der Regierungsbehörden die Oberhand. 

Dass die Rechte von Migrant*innen nur aus arbeitsrechtlicher Perspektive betrachtet werden, ist ein Grund dafür, dass die Probleme fortbestehen. Die Abwesenheit von Gewerkschaften, einer formellen Zivilgesellschaft und Möglichkeiten des Rechtsbeistands führen außerdem dazu, dass auch sinnvolle Reformen nicht greifen.

Um zu verstehen, warum das Kafala-System fortbesteht, ist es wichtig zu wissen, was dieses System genau bedeutet. «Kafala» ist ein Begriff, der zu allgemein und zu starr ist, um etwas Sinnvolles über das Wohlergehen von Wanderarbeiter*innen auszusagen. Das Kafala-System ist in jedem Staat, in dem es zum Einsatz kommt, anders beschaffen. Der einzige gemeinsame Nenner besteht darin, dass die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis eines/r jeden ausländischen Arbeitnehmer*in an ein einziges Individuum oder eine einzige Körperschaft gekoppelt ist. 

Die Einreise und das Recht, im Land zu leben und zu arbeiten, werden vom Arbeitgeber kontrolliert. Wanderarbeiter*innen können ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht selbst verlängern; das kann nur der Arbeitgeber. Tut er das jedoch nicht, wird der Wanderarbeiter zu einem irregulären oder «illegalen» Einwohner und damit bestraft und kriminalisiert.

Was Katar (wie auch andere Golfstaaten) im Laufe der Jahre unternommen hat, ist, relativ strenge Arbeitsgesetze zu verabschieden, die Mindeststandards für Arbeitszeiten, Ruhezeiten, Ansprüche und Löhne vorsehen – zumindest auf dem Papier.

Halten die Arbeitgeber diese Mindeststandards nicht ein, werden sie dafür kaum oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen, da die Arbeiter*innen es sich nicht leisten können, auch nur kurze Zeit auf die Rechtsprechung zu warten. Während des gesamten Beschwerdeverfahrens bleiben die Migrant*innen der Gnade des Arbeitgebers ausgeliefert, gegen den sie klagen.

Das ist bedauerlich, da die Prozesse, die dem Arbeitsministerium unterstehen, relativ arbeitnehmerfreundlich geführt werden und die Online-Plattform für den Arbeitsplatzwechsel leicht nutzbar und zugänglich ist. Kommt ein Fall vor das Arbeitsgericht, wird ausnahmslos zugunsten der Arbeiter*innen entschieden. 

Der Angeklagte kann jedoch zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens unter Berufung auf eine Vielzahl von Gründen und ohne die Pflicht zur Vorlage stichhaltiger Beweise eine Gegenklage gegen den Beschwerdeführer einreichen. Klagende Arbeiter*innen kämpfen dann nicht nur um Gerechtigkeit, sondern müssen auch die eigene Unschuld beweisen, das heißt, sich gegen Anschuldigungen verteidigen, die von «Flucht» oder «Verlassen des Arbeitsplatzes» bis hin zu Diebstahl oder Finanzbetrug reichen können.

Ein guter Anfang

Seit der Abschaffung des NOC müssen Arbeiter*innen über ein unkompliziertes Onlineverfahren nur noch bei ihrem aktuellen Arbeitgeber kündigen und einen Arbeitsplatzwechsel beantragen. Sind diese beiden Schritte erledigt, erhalten sie eine Benachrichtigung über die Genehmigung. Dieses System ist tatsächlich lobenswert. 

Da die Aufenthaltsgenehmigung jedoch weiterhin an den Arbeitgeber gekoppelt ist, erhält dieser eine Benachrichtigung über die Kündigung und kann über eine App namens «Metrash» per Knopfdruck eine Klage gegen den oder die Arbeiter*in einreichen oder aber dessen bzw. deren Personalausweis (Qatar ID Card oder QID) für ungültig erklären. Arbeiter*innen, deren QID abgelaufen oder für ungültig erklärt worden ist, haben eine neunzigtägige Frist, um den Arbeitsplatz zu wechseln, bevor ihnen wegen des Ablaufs der Aufenthaltsgenehmigung ein Bußgeld auferlegt wird. Sie müssen allerdings einen gesonderten Antrag auf die Erneuerung ihrer QID einreichen, bevor sie einen Arbeitsplatzwechsel beantragen können. 

Arbeiter*innen schrecken davor zurück, irgendetwas zu unternehmen, was ihren Bürgen verärgern könnte, da dieser die Möglichkeit hat, ihnen Unannehmlichkeiten und rechtliche Schwierigkeiten zu bereiten, wodurch zudem ein weiteres langwieriges Verfahren erforderlich wird. Die Einschüchterung erfolgt keineswegs immer auf verdeckte Weise. Die meisten Arbeiter*innen mit niedrigem Einkommen leben in hochgradig überwachten Unterkünften, in denen ihr Kommen und Gehen genau kontrolliert wird. Erfährt der Arbeitgeber davon, dass geklagt werden soll, hindert er den Arbeiter oder die Arbeiterin daran, zu Anhörungen oder weiteren Terminen zu erscheinen, um die Klage voranzubringen.

Es liegt auf der Hand, dass Arbeitnehmer*innen grundsätzlich benachteiligt und von Abschiebung bedroht sind, sobald ihre Fälle in die Zuständigkeit des Innenministeriums fallen. Selbst wenn zusätzlich eine Klage beim Ministerium für Verwaltungsentwicklung, Arbeit und soziale Angelegenheiten (MADLSA) eingereicht wird, ist zu befürchten, dass die Ansprüche nicht geltend gemacht werden können.

Was die globalen Kampagnen und der Aktivismus gegen das Kafala-System nicht erkannt haben, sind die eigenen Wissenslücken; womöglich wurde die eigene Forderung (nach Abschaffung des Kafala-Systems) nicht vollständig erfasst. Anders als bei der Sklaverei, mit der das Kafala-System oft gleichgesetzt wird, gibt es keine allgemeine Definition des Bürgschaftssystems. Es wird von den Menschen je nach ihrem Umfeld, ihrer Nationalität und ihrem Wohnort unterschiedlich erlebt und begriffen. Es ist also an der Zeit, von pauschalen Forderungen nach einer Reform des Kafala-Systems abzurücken, um sich konkret mit den Praktiken und Gesetzen auseinanderzusetzen, die im Widerspruch zu den allgemeinen Menschenrechten stehen.

Alles hat sich geändert – aber nichts hat sich gebessert

Auch sechs Jahre, nachdem erstmals behauptet wurde, das Kafala-System sei abgeschafft worden, sind die Erfahrungen der Arbeiter*innen weitgehend dieselben geblieben, wie aus den Interventionen und Untersuchungen von Migrant-Rights.org hervorgeht. Das 2015 eingeführte sogenannte Lohnschutzsystem[2] hat bislang keine Eindämmung des Lohnraubs zur Folge gehabt. 

Die Einbehaltung von Reisepässen ist zwar illegal, bleibt aber weitverbreitet, und die Arbeitgeber werden dafür nicht belangt.

Der 2018 eingerichtete Unterstützungs- und Versicherungsfonds für Arbeitnehmer*innen verkürzt noch immer nicht die Zeit, die Arbeiter*innen auf die Auszahlung einbehaltener Löhne warten müssen und die Bedingungen, unter denen vom Fonds Gebrauch gemacht wird, bleiben unklar. Die Erleichterung des Arbeitsplatzwechsels genügt ebenfalls nicht, um den Würgegriff zu lockern, in dem die Arbeitgeber ihre Beschäftigten halten. 

In den Jahren 2017 und 2018 wurden 1.200 Beschäftigte der Vertragsfirma HKH mehrere Monate lang nicht entlohnt und waren damit mittellos. Viele Beschäftigte verzweifelten und kehrten mit leeren Händen in ihre Heimatländer zurück. Diejenigen, die vor Gericht zogen, konnten Mitte 2019 ein Urteil zu ihren Gunsten erstreiten. Dieses Urteil wurde jedoch erst im dritten Quartal 2020 vollstreckt und die Kläger*innen erhielten lediglich den ihnen geschuldeten Lohn, ohne jedwede Entschädigung für die von ihnen erlittenen Härten. Das Unternehmen gehört einem Angehörigen der Herrscherfamilie Katars. 

Etwa zur selben Zeit, im Jahr 2018, wurden 800 Arbeiter*innen bei Hamton International ohne fließendes Wasser oder sanitäre Einrichtungen untergebracht und über ein Jahr lang nicht bezahlt. Zwei Arbeiter*innen starben. Das Unternehmen wurde von einem indischen Manager geleitet, der aus dem Land floh. Sein katarischer Partner, der vergleichsweise wenig Einfluss hatte, wurde verhaftet. Die Arbeiter*innen mussten auf einen Teil des ihnen geschuldeten Lohns verzichten, um den Arbeitsplatz zu wechseln oder das Land verlassen zu können. 

Die Arbeiterin Abbie musste von 2016 bis 2018 lange Arbeitszeiten, sexuelle Belästigung und psychische Belastungen ertragen. Obwohl sie kündigte, durfte sie nicht ausreisen, da ihr Arbeitgeber gedroht hatte, sie und ihre Kolleg*innen wegen Flucht zu verklagen. Sie zögerte, eine förmliche Beschwerde einzureichen, da sie wenig Vertrauen in das System hatte.

In den Jahren 2019 und 2020 wurden Beschäftigte der Firma Qatar Meta Coats, die auf einem WM-Gelände tätig waren, mehrere Monate lang nicht bezahlt. Die Arbeiter*innen reichten Beschwerde ein und schöpften alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ohne Erfolg aus. Erst ein Bericht von Amnesty International bewirkte, dass die Arbeiter*innen entlohnt wurden. Einer der Betroffenen fasst das Problem zusammen: «Das Unternehmen ist gegenüber den Arbeiter*innen derart im Vorteil, dass die Arbeiter*innen es bereuen, vor Gericht gezogen zu sein. Wozu auch immer sich das Unternehmen entschließt, Katar unterstützt es. Die Arbeiter*innen leiden, weil die Unternehmen herrschen.»

Im Jahr 2019 erhielten etwa 550 Beschäftigte der Imperial Trading and Contracting Company keinen Lohn mehr. Klagen gegen das Unternehmen haben wenig bewirkt; die Arbeiter*innen warten weiterhin auf ihr Geld. Das Lohnschutzsystem (Wage Protection System) hat diesen Fall nicht rechtzeitig erkannt, und der Fonds, durch den die Arbeiter*innen zeitnah unterstützt werden sollten, wurde nie in Anspruch genommen.

In den vergangenen sieben Monaten haben wir erlebt, wie Arbeitgeber ihre unbegrenzte Macht immer mehr ausspielen. Während des coronabedingten Lockdowns und im Zuge des wirtschaftlichen Abschwungs haben Arbeitgeber versucht, sich der Pflicht zu entziehen, ihren Arbeiter*innen Unterkunft und Verpflegung zu stellen, indem sie die mit dem System nicht vertrauten und damit hilflosen Arbeiter*innen fälschlich des unzulässigen Verlassens des Arbeitsplatzes und des Diebstahls beschuldigten.

Im Gegensatz zum Ministerium für Verwaltungsentwicklung, Arbeit und soziale Angelegenheiten (MADLSA) arbeitet das Innenministerium nicht effektiv mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen. Die in Katar anwesenden ausländischen Botschaften verfügen sogar über Formbriefe, mit denen sie die Freilassung inhaftierter Arbeiter*innen oder die Schlichtung von Streitfragen fordern können. Ein solches Schreiben beschleunigt das Verfahren aber nicht unbedingt. Arbeiter*innen, deren Land über keine diplomatische Vertretung in Katar verfügt, können sehr lange in Haft bleiben, es sei denn, ihr Arbeitgeber zeigt sich «nachsichtig».

Die Rechte von Arbeiter*innen gehen über das Arbeitsrecht hinaus und bei ihrem Zugang zu Rechtsmitteln geht es nicht nur um das Arbeitssystem. Entscheidend ist letztlich, wer ihr Bürge ist. Das ist der Grund, weshalb das Kafala-System trotz der Reformen weiterhin in Kraft bleibt.  

Je mächtiger die Kafeel oder Bürgen sind, umso weniger werden sie zur Rechenschaft gezogen. Wenn einige auch mächtiger sein mögen als andere: Die Mehrheit dieser kleinen Gruppe verfügt über genügend Macht, um ihre Beschäftigten einzuschüchtern.


[1]     Das Kafala- oder Bürgschaftsystem ist ein in arabischen Ländern, vor allem in den arabischen Golfstaaten verbreitetes arbeits- und aufenthaltsrechtliches System, bei dem ein/e Arbeitgeber*in als «Bürg*in» von ihm beschäftigter migrantischer Arbeitskräfte fungiert und damit erheblichen Einfluss auf deren aufenthaltsrechtlichen Status erlangt (Anm. d. Übers.).

[2] Lohnschutzsystem (Wage Protection System): ein vom Ministerium für Verwaltungsentwicklung, Arbeit und soziale Angelegenheiten sowie der Zentralbank Katars betriebenes elektronisches System zur Dokumentierung und automatisierten Auszahlung von Löhnen (Anm. d. Übers.).