News | Rassismus / Neonazismus - Migration / Flucht - Türkei Rassismus? Frag mich mal! Teil 1 der Interviewreihe

In Deutschland geborene und/oder dort lebende Menschen berichten von ihren Erfahrungen mit Rassismus

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Gamze Kafar,

Als Autorin mit sogenanntem Migrationshintergrund, die seit einer Weile in Deutschland lebt, werde ich immer mal wieder mit Rassismus konfrontiert. Rassismus ist eine gefährliche Krankheit, von der die Menschen sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen Teilen der Welt betroffen sind. Diese Definition stammt von Karl Marx, der den Rassismus als Kinderkrankheit bezeichnete, an der man bereits in jungen Jahren erkrankt. Rassismus ist außerdem eine Ideologie, die jeglicher Logik entbehrt und die zeitgleich mit der Idee des Nationalstaats entstand und dazu dient, Vorstellungen von Überlegenheit und Minderwertigkeit zu etablieren. In der Türkei lernte ich Rassismus über die Erfahrungen anderer kennen, die nicht türkischer Herkunft sind. Aber jetzt, da ich selber mit einem kulturellen Hintergrund in Deutschland lebe, der als andersartig gilt, erfahre ich Rassismus auch direkt. Das zeigt, dass der Rassismus wirklich gar keiner Logik folgt, denn eine bestimmte Kultur, ethnische Herkunft, Religionszugehörigkeit oder Religionspraxis, die in einem Land als überlegen gilt, wird in einem anderen Land wiederum als bedeutungslos betrachtet und rassistisch angefeindet. Außerdem sehen wir, dass Menschen, die in Deutschland aufgrund ihrer türkischen Herkunft angefeindet werden, daraus keine Lehren ziehen und in der Türkei ihren kurdischen Landsleuten gegenüber rassistisch gesinnt sind. Vielleicht ist der Rassismus genau deshalb eine Krankheit im Sinne von Marx’ Definition.

Gamze Kafar arbeitete für die kurdische, ausschließlich mit Frauen besetzte Nachrichtenagentur JINHA, welche 2016 durch die türkische Regierung geschlossen wurde. Von 2015 bis 2018 berichtete Gamze Kafar über den Konflikt in Nordsyrien. 2018 zog sie nach Berlin und arbeitet weiter als Journalistin.

Wenn ich Menschen begegne, die in Deutschland geboren oder aus irgendeinem Grund nach Deutschland eingewandert sind, tauschen wir uns über unsere Rassismuserfahrungen aus. Rassismus zu benennen und die Rassistin oder den Rassisten in uns zu bekämpfen, ist der beste Weg, um diese Krankheit auszukurieren. Im Rahmen dieser zweiteiligen Interviewreihe berichten in Deutschland geborene und/oder dort lebende Menschen von ihren Erfahrungen mit Rassismus.

Am Arbeitsmarkt immer benachteiligt

Merve ist 29 Jahre alt, wurde im Harz geboren und ist freiberufliche Gestalterin und Stylistin. Sie lebt seit ungefähr fünf Jahren in Berlin.

Als Deutsche mit sogenanntem Migrationshintergrund hat Merve über ihre Erfahrungen mit Rassismus Folgendes zu erzählen:  

Rassistische Vorurteile sind in Großunternehmen immer noch sehr präsent. Aufgrund meines Namens erhalte ich entweder Absagen auf meine Bewerbungen oder werde für Positionen vorgeschlagen, für die ich überqualifiziert bin. Dasselbe Spiel mit Werbeagenturen, in denen ausschließlich Weiße arbeiten: Sie haben Angst auf meine Mails zu antworten, weil sie fürchten, eine Person mit so einem Namen könnte ihrem Image schaden.

Dafür sprichst du aber richtig gut Deutsch.

Inwiefern bist du von Rassismus betroffen?

Der Alltagsrassismus ist in unserer Gesellschaft fest verankert. Das spiegelt sich wider in Äußerungen wie «Dafür sprichst du aber richtig gut deutsch!» oder «Du siehst gar nicht türkisch aus!», und mittlerweile macht mich das nicht mehr traurig, sondern wütend. Manchmal ist es unmöglich, rassistische Angriffe als solche zu erkennen, weil sie unterschwellig sein können. Zum Beispiel türmte sich 2016 ein großer, weißer Mann grundlos vor mir in einem Bus in Berlin auf. Er sprach anfangs mit leiser Stimme, aber dadurch bestärkt, dass wir alleine waren, wurde er lauter und fragte mich, warum ich saß, während er stehen müsse. Er gab mir zu verstehen, dass wir ungleichwertig wären. Ohne etwas erwidern zu können, sah ich mich genötigt, den Bus an der nächsten Haltestelle zu verlassen.

Der Druck, den man spürt, wenn man zwischen zwei Welten lebt

Wann und wie hast du erstmals Rassismus erfahren?

Mit Rassismus wurde ich schon sehr früh konfrontiert, was seitdem auch nicht aufgehört hat. Als ich in die Schule kam, wurde ich gegenüber anderen deutschen Kindern oft benachteiligt. Mein Deutschlehrer nahm mich immer als Letzte dran, und meine Mitschüler*innen stellten mir oft rassistische Fragen, wobei ich damals zu jung war, um zu verstehen, dass darin Rassismus steckt. Ich nahm damals hin, dass mir diese rassistischen Fragen gestellt wurden, denn ich wollte – genauso wie man das von mir erwartete – integriert sein. Ich habe es zugelassen, weil ich auch dazu gehören wollte, und spürte einen immensen Druck, wenn ich versuchte, zwischen diesen zwei Welten zu navigieren.

Nachdem ich für ein Austauschprogramm meinen Heimatort verließ, begann ich meine Erfahrungen zu teilen und erkannte, was für einen Einfluss diese Erlebnisse auf mich und meine Identität bis heute haben. Ich arbeite immer noch daran, mutiger und selbstbewusster zu werden.

 
Eine weitere Betroffene von Rassismus ist Roza, die ebenfalls in Deutschland geboren wurde. Rozas kurdisch-alevitische Familie erhielt 1988 politisches Asyl und immigrierte aus der Türkei nach Deutschland. Nachdem Roza in Deutschland ihre Hochschulreife erlangte, zog sie für ihr Studium in die Niederlande. In Potsdam absolvierte Roza ihr Masterstudium und arbeitete für unterschiedliche Institutionen. Zurzeit ist sie als Beraterin für einen Abgeordneten einer linksorientierten Partei im Deutschen Bundestag tätig. Roza, die als Kind eine «demokratische Bauchtänzerin» werden wollte, sagt scherzhaft: «Scheinbar ist mir das gelungen.»

Rassismus fängt in der Schule an

Welche Erfahrungen hast du mit Rassismus in Deutschland – sowohl beruflich als auch privat – gemacht?

Ich wuchs in einer ländlichen deutschen Gegend auf, in der es nicht viele Migrant*innen gab, und wurde sehr früh in der Schule mit Rassismus konfrontiert. Obwohl ich eine der besten Schüler*innen war, riet mir mein Klassenlehrer davon ab, das Gymnasium zu besuchen, da ich es – ihm zufolge – unter «deutschen» Kindern viel schwieriger haben würde. Auf Drängen meiner Familie hin konnte ich mich letztendlich doch am Gymnasium anmelden.

Obwohl ich mich dort im Deutschunterricht sehr anstrengte, waren meine Noten immer nur durchschnittlich. Als ich nach dem Grund dafür fragte, erklärte man mir: «Dies ist eine gute Note für jemanden, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist.» Als mein Lehrer kurz vor dem letzten Schuljahr wechselte, wurde ich plötzlich zu eine der Besten im Deutschunterricht und verstand schließlich, dass das Problem nicht an mir lag, sondern an der rassistischen Gesinnung meines ehemaligen Lehrers. Aus diesem Grund wollte ich an einer englischsprachigen Universität in den Niederlanden studieren.

Kultivierte Formen des Rassismus

Ich kehrte nach Deutschland zurück und begann zu arbeiten. Als mein damaliger Arbeitgeber meine Eltern kennenlernte, stelle er ihnen Fragen zu meinem Alkoholkonsum und ob ich ein Kopftuch tragen müsse oder nicht. Auch im privaten Bereich bin ich auf kultivierte Formen des Rassismus gestoßen: Für die Reparaturarbeiten in der Wohnung, in die wir neu eingezogen waren, rief meine deutsche Mitbewohnerin – ohne mein Wissen – einen meiner Freunde an, der ebenfalls einen sogenannten Migrationshintergrund besitzt. Meine Mitbewohnerin bat meinen Freund um Hilfe, während sie ihren deutschen Freund zum Weintrinken einlud. Als ich mich irritiert zeigte, antwortete sie mir: «Ich weiß, dass Hilfsbereitschaft in deiner Kultur großgeschrieben wird.»

Im Dienste des Kapitalismus

Mit Alltagrassismus umzugehen, ist sehr anstrengend und psychisch sehr aufreibend. Da ich in Deutschland keine «Deutsche» bin, werde ich seit meiner Kindheit ständig unterschätzt. Kaum hast du dir Selbstvertrauen aufgebaut und gelernt, dich zu verteidigen, wirst du ins Berufsleben geworfen. Der Kapitalismus beutet besonders uns «Migrant*innen» bis ins Mark aus. Nach acht Stunden Arbeit fehlt dir jede Energie, um auf den Rassismus im Alltag zu reagieren. Und sobald du versuchst, dich zu integrieren, wirst du psychologisch nur noch mehr zermürbt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der Rassismus für den Kapitalismus eine sehr nützliche Ideologie ist. Er blockiert die Klassensolidarität und das Einstehen für Klassengerechtigkeit. Aus diesem Grund gehören antirassistischer und antikapitalistischer Kampf auch zusammen und müssen gemeinsam geführt werden.

Normalisierung durch die Mainstream-Medien

Welche Ausmaße hat Rassismus in Deutschland? Woher bezieht der Rassismus, dem du persönlich ausgesetzt bist, seine Kraft?

Rassismus beschränkt sich nicht nur auf den rechten Skinhead mit Hitlerbart, der körperliche Gewalt für legitim hält. Rassismus kommt auch in Gestalt weißer Hemden und Hundekrawatten und zeigt sich in den Parlamenten und Institutionen dieses Landes. Dadurch, dass die Mainstream-Medien der Hassrede soviel Raum einräumen, tragen sie zu ihrer systematischen Verbreitung und gesellschaftlichen Normalisierung bei. Zum Beispiel kann unser Innenminister anlässlich seines 69. Geburtstags feierlich 69 Geflüchtete nach Afghanistan abschieben oder erklären, dass Migration die Mutter aller Probleme sei. Dagegen wird in keiner Weise vorgegangen. Wenn die Regierung dieses Landes sich so verhält, wird Rassismus enttabuisiert, und was vorher im Geheimen ausgelebt wurde, kann nun offen zur Schau gestellt werden.

Ich hätte unter den Ermordeten sein können

Ein weiteres Warnsignal sind die in den letzten Jahren zunehmenden rechtsterroristischen Anschläge auf Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Besonders der 19. Februar 2020, der Tag des Anschlags in Hanau, hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt. An diesem Tag waren unsere Kehlen zugeschnürt und wir weinten. Unter den Ermordeten hätten meine Freund*innen und Verwandte sein können. Nach diesem Tag nahmen meine Ängste und Sorgen zu. Wir können uns nicht mehr sorglos in eine Shisha-Bar setzen, denn wir verbinden diesen einst sicheren Raum nun mit Rechtsterrorismus. Gleichzeitig habe ich aber auch das Gefühl, trotz all dem stärker zu werden.

Der Polizeigewalt muss Einhalt geboten werden

Denkst du, dass der Kampf gegen Rassismus in Deutschland ausreichend geführt wird? Wenn nicht, was muss getan werden?

Definitiv nicht. Vor allem gegen rassistische Strukturen innerhalb der Polizei müssen in Deutschland wirksame Maßnahmen getroffen werden und strengere rechtliche Regelungen müssen her, um der Polizeigewalt Einhalt zu gebieten. Rechtsextreme Aussagen fördern rassistische Gewalttaten in Deutschland und müssen stärker geahndet werden. Wie Migrationsverbände außerdem vorgeschlagen haben, muss die Bundesregierung eine Rassismus-Studie in Auftrag geben.

 
[Übersetzung von Çiğdem Ücüncü und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective]