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Ein Gespräch mit Olga Schnyrowa, Leiterin des Zentrums für Gender Studies in Iwanowo, Russland

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Jelena Besrukowa, Projektmanagerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau, sprach mit Olga Schnyrowa, Genderforscherin, Autorin von Büchern zur Geschichte der Frauenbewegung und Leiterin des Zentrums für Gender Studies in Iwanowo.
 

Jelena Besrukowa: Olga, erzählen Sie doch bitte, wie Sie zur Frauenbewegung gefunden haben.

Olga Schnyrowa: Ich war schon als junge Frau sehr umtriebig, während meines Studiums habe ich so einiges an meiner Fakultät auf die Beine gestellt. Was die Gender Studies angeht, so bin ich Mitte der 90er dazu gekommen, im Grunde genommen durch einen Zufall. Ich war auf der Suche nach einem neuen Forschungsthema; davor hatte ich mich für die Arbeiterbewegung in Großbritannien und die Labour-Partei interessiert, aber dazu gab es schon viele marxistische Studien, und ich wollte etwas Neues finden. Etwa zum selben Zeitpunkt kam Olga Anatoljewna Chasbulatowa an unsere Uni – eine echte Kämpfernatur. Heute leitet sie den Apparat der Regionalverwaltung beim Gouverneur der Oblast Iwanowo. Ihr Leben lang war sie Mitglied der Kommunistischen Partei, die damals in einer offensichtlichen Krise steckte. In diesem Zusammenhang kam Olga zu uns an die Uni und brachte die Geschichte der Frauenbewegung als Thema mit. Sie hatte sich ja selbst lang mit der Frauenproblematik befasst, das war ihr Verantwortungsbereich. Olga schrieb eine der ersten Dissertationen über die Geschichte der Frauenbewegung und gab ein Buch zu diesem Thema heraus. Es war der Geschichte der russischen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende gewidmet, einer Zeit, die damals nur wenig erforscht war. Sie war es, die mir vorschlug, mich auch damit zu befassen. Und da ich mich vor allem für England interessierte, beschloss ich, zur Frauenbewegung in Großbritannien zu forschen. Später, im Jahr 1969, gründeten wir das Zentrum für Gender Studies und sind dadurch wohl auch selbst Teil der Frauenbewegung geworden. Gender Studies sind ja kaum von Aktivismus zu trennen.

Olga Wladimirowna Schnyrowa leitet das Iwanower Zentrum für Gender Studies (ICGS, Ivanovo Centre for Gender Studies). Sie ist promovierte Historikerin, Dozentin, Mitglied der American Association of the Advanced Slavic Studies und Vertreterin von Russland in RINGS (The International Research Association of Institutions of Advanced Gender Studies).

Und mit wem haben Sie damals kooperiert?

Eigentlich kamen wir erst relativ spät in diesen Bereich. Es gab bereits das Petersburger Zentrum für Genderprobleme unter der Leitung von Olga Lipowskaja. Die Historikerin Irina Jukina war dort unterwegs, und mit ihr kooperieren wir heute noch. Im Moskauer Zentrum für Gender Studies waren großartige Menschen wie Olga Woronina, Marina Malyschewa, Soja Chotkina tätig – die Einrichtung hat viel für die Gender Studies und die Weiterentwicklung der Frauenbewegung in Russland getan. Wenn ich mich nicht täusche, gab es auch schon das Zentrum für Gender Studies in Samara unter Leitung von Ljudmila Popkowa. In der Ukraine gab es das Charkiwer Zentrum für Gender Studies. Swetlana Ajwasowa, Jelena Sdrawomyslowa und Anna Temkina waren bereits aktiv. Ich fand mich gleich in sehr guter und hoch angesehener Gesellschaft und wurde sehr herzlich aufgenommen.

Wie würden Sie die Stimmung in der Gesellschaft Mitte der 90er Jahre einschätzen? Wie bereit und aufnahmefähig waren die Menschen für Genderfragen?

Es ist, als hätte ich ein Déjà-vu, die heutige Situation erinnert mich an damals. Ich wiederhole heute immer und immer wieder all das, was ich schon in den 90ern über Gender Studies erzählte. Zu der Zeit war «Gender Studies» ein ziemliches Fremdwort, und jetzt ist es wieder so. Der Unterschied liegt aber darin, dass die Menschen es damals spannend fanden, auch ein bisschen beängstigend, aber sie wollten etwas erfahren und waren nicht von vornherein feindlich gestimmt. Es zirkulierten viele neue Informationen, die vor allem aus dem Westen kamen, und die Menschen wollten verstehen, worum es sich handelte. Als wir damals erzählten, dass es bei Gender Studies und Feminismus im Grunde um Selbstbestimmung geht, reagierten die Menschen unaufgeregt darauf. Aber natürlich habe ich auch kuriose Situationen erlebt, etwa als bei einem meiner Vorträge für Lehrer*innen ein Zuhörer aus dem Publikum ständig reingrätschte und meinte, all das wäre für Männer eine Beleidigung und gegen den natürlichen Lauf der Dinge. Nach dem Vortrag rannte er zum Direktor, um sich zu beschweren, und ich wurde dort nie wieder für einen Vortrag eingeladen.

Sie sagen, dass die Situation Mitte der 90er mit unserer Zeit vergleichbar ist, dass es aber auch Unterschiede gibt. Können Sie das etwas weiter ausführen?

Gestern wurde im Lokalfernsehen von Iwanowo ein Interview mit mir ausgestrahlt. Die Einladung dazu hat mich überrascht, denn sie kam von einem durchaus konservativen und religiösen Menschen. Und er hat dann in der Sendung sämtliche Klischees bedient, die es zu den Gender Studies gibt: Es ging um «Elternteil Nummer eins» und «Elternteil Nummer zwei» – dadurch würden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verwischt und die Institution Familie zerstört usw. Der Unterschied zu früher besteht darin, dass die Menschen damals nicht wussten, was Gender Studies sind, sie wussten nicht, was Gender ist. Mittlerweile wissen sie das zwar, aber es handelt sich um ein klischeebehaftetes Wissen. Es ist deshalb wirklich wichtig, sich mit den Leuten zu unterhalten und ihnen das Thema so zu erklären, dass sie es auch richtig verstehen. Diesen September hatten Jelena Sdrawomyslowa und ich eine interessante Erfahrung in der Region Altai, man hätte uns nämlich beinahe verprügelt. Jelena hatte angefangen, über Gender zu sprechen, wie sie es vor dem aufgeschlossenen Publikum in der Hauptstadt immer tut: Es gäbe viele Gender, es handle sich um ein gesellschaftliches Konstrukt … Das Publikum in Gorno-Altaisk hat es nicht verstanden und ausgesprochen negativ darauf reagiert.  

An welchen Tendenzen liegt das, Ihrer Meinung nach?

Na, das liegt vor allem daran, dass unsere Regierung bekanntermaßen auf ein traditionelles Wertesystem setzt. 

In Moskau gibt es so ein Zentrum, was spricht denn dagegen, dass wir auch eins gründen?

Lassen Sie uns nochmal zurückblicken. Erzählen Sie bitte etwas mehr darüber, wie das Zentrum für Gender Studies in Iwanowo entstanden ist.

Wie gesagt, haben wir es 1996 gegründet. Niemand von uns kannte sich mit der Gründung von Organisationen aus, weshalb ich mir von Freund*innen einen Gesellschaftsvertrag für ein normales gewerbliches Unternehmen besorgte, das wir dann als Vorlage benutzten. Das Zentrum war eigentlich nicht meine Idee, der Impuls kam von Olga Chasbulatowa. Sie war zu einer Konferenz des Moskauer Zentrums für Gender Studies gereist und kam mit der Vision eines solchen Zentrums zurück. Sie bestellte mich und meine Studierende zu sich und sagte: «In Moskau gibt es so ein Zentrum, was spricht denn dagegen, dass wir auch eins gründen?»

Welche Projekte waren für Sie zentral, was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Da wir sehr lange an die Uni angegliedert waren, haben wir viel mit Schulen, Studierenden und Dozent*innen gearbeitet – Bildung war von Anfang an unser Schwerpunkt. Ich erhalte erstaunlicherweise immer noch Briefe von Teilnehmer*innen unserer ersten Sommerschule, die wir 2001 in Pljos veranstalteten. Es war eine extreme Erfahrung. NGOs, Universitätsdozent*innen, Forscher*innen, Doktorand*innen haben uns zugehört – dabei hatten wir keinen blassen Schimmer. Übrigens organisieren wir bis heute Sommerschulen. Damals reisten über dreißig Personen aus unterschiedlichen Ländern an, und wir hatten so gut wie keine Infrastruktur. In der Herberge, die wir angemietet haben, gab es keine Kantine, deshalb brachten wir einen eigenen Koch mit. Als mich eine Freundin ansprach, die unbedingt mitkommen wollte, auch unbezahlt, beschloss ich, sie mitzunehmen – sie war nämlich Ärztin und in der Herberge gab es keinerlei medizinische Versorgung. Wir hatten also einen eigenen Koch, einen Chauffeur, eine Ärztin. Auch Computer haben wir aus der Uni angeschleppt, zwar gab es kein Internet, aber wir wollten natürlich trotzdem einen Computerraum haben. Und dann sind alle Beteiligten an Darmgrippe erkrankt. Unsere Ärztin hatte alle Hände voll zu tun, denn unter diesen Umständen hatten wir alle ständig irgendwelche Probleme, fast jeden Tag. Natalja Gafisowa (Mitglied des ICGS) musste täglich mit dem robusten UAZ-Kleintransporter, den man uns bereitgestellt hatte und der im Volksmund «Brotlaib» genannt wird, zum Markt in Iwanowo fahren, um Lebensmittel einzukaufen, und regte sich jedes Mal beim Verladen von Säcken auf: «Also echt, ich habe doch einen Doktortitel, ich bin keine Lastenträgerin!». Einmal machten wir mit den Teilnehmer*innen einen Bootsausflug – das Boot liehen wir uns für eine Flasche Wodka von der Polizei. Es war eine völlig durchgeknallte Zeit! Bei alledem war auch Michael Kaufman dabei, der Initiator der White Ribbon Kampagne und einer der renommiertesten Genderforscher – das war seine einzige Russlandreise. Nicht zuletzt deshalb ist diese Sommerschule von 2001 allen in Erinnerung geblieben.

Bei einem anderen äußerst spannenden Projekt ging es um die berufliche Förderung von weiblichen Führungspersönlichkeiten in den Kommunen. Das Programm lief zwei Jahre, von 2005 bis 2007. Wir rekrutierten eine Gruppe von Frauen, die bei den Kommunalwahlen in den Siedlungen, den Bezirken bzw. für Stadtdumas kandidieren wollten. Etwa 60 Prozent der Programmteilnehmerinnen bekamen tatsächlich ein Mandat, aber danach stellte sich heraus – wie hätte es auch anders sein können – dass eine Frau ungleich qualifizierter sein muss als ihre männlichen Kollegen, wenn sie es in die Führungsebene schaffen will. Die Frauen brauchten Weiterbildungskurse, also organisierten wir welche. Zum Schluss gab es wieder eine große Sommerschule in Pljos, an der Leiterinnen von kommunalen Gebietskörperschaften unterschiedlicher Ebenen aus ganz Russland teilnahmen. Zunächst lief alles sehr gut, aber später ging die Entwicklung immer mehr in Richtung Zentralisierung der Macht, und viele der Frauen traten der Regierungspartei bei, denn da gab es die größten Aufstiegschancen. Diese Frauen fuhren dann zu offiziellen Parteiworkshops. Aber ich stehe immer noch mit vielen aus diesem Netzwerk in Kontakt.

Wie hat sich Ihre Arbeit im Laufe der Zeit verändert?

Objektiv gesehen werden zivilgesellschaftliche Organisationen immer professioneller. Auch ältere Organisationen wie unsere müssen mit dieser Entwicklung Schritt halten und sich verstärkt professionalisieren. Eine weitere Herausforderung sind Finanzierungsschwierigkeiten. Aber vor allem muss man, wenn man sich für feministische Ideen stark machen will, die Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins im Auge behalten. 

Eine letzte Frage: Was würden Sie angehenden, jungen Aktivistinnen und Forscherinnen raten?

Ich finde es toll, was heute in der jungen Frauenbewegung passiert: Es gibt viele neue Gesichter und Organisationen. Aber aus meiner Erfahrung möchte ich nur eins raten: weniger Streit, mehr kollektives Handeln.