News | Kunst / Performance - Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Gaza 2020, durch das Brennglas der Kunst betrachtet

Duha Almusaddar im Gespräch mit Montaser Alsabe'

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Red Carpet Human Rights Film Festival archive
Red Carpet Human Rights Film Festival archive

Im Jahr 2012 veröffentlichte das UN-Länderteam (UNCT) der palästinensischen Autonomiegebiete einen Bericht, in dem es versuchte, die langfristigen Folgen und Implikationen damals aktueller entwicklungspolitischer und sozialer Trends darzulegen und aufzuzeigen, welche Herausforderungen sich daraus für den Gazastreifen ergeben. Im Mittelpunkt des Berichts standen das für den Gazastreifen erwartete Bevölkerungswachstum, die schweren Belastungen, denen das Bildungssystem sowie die Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung ausgesetzt waren, und die unter der israelischen Blockade leidende Wirtschaft. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass die Herausforderungen (Zugang zu Trinkwasser, angemessene soziale Standards in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Armutsbekämpfung) ohne effektive Gegenmaßnahmen und ein günstiges politisches Umfeld weiter zunehmen würden – bis hin zu der Prognose, dass Gaza bis 2020 unbewohnbar sein werde. Der Bericht war alarmierend und drängte auf rasches Handeln, um die Menschenrechte der Bevölkerung im Gazastreifen zu schützen.

Duha Almusaddar ist Projektmanagerin der Rosa-Luxembur-Stiftung in Gaza.

Montaser Alsabe', Regisseur ist aus dem Gazastreifen, ist geschäftsführender Leiter des Red Carpet Human Rights Film Festival.

Nun ist es 2020 und die Bewohner*innen des Gazastreifens haben alles getan, um ihre Lage zu verändern und die Probleme zu überwinden. Künstler*innen aus dem Gazastreifen haben daran gearbeitet, das Bewusstsein für die Situation zu schärfen, die Menschenrechte zu fördern, einen Brückenschlag zwischen dem isolierten Gazastreifen und der übrigen Welt vorzunehmen und eine lebendige Gesellschaft aufzubauen. Das 2015, fast ein Jahr nach dem Militärangriff auf Gaza, ins Leben gerufene Red Carpet Human Rights Film Festival ist eine der Initiativen, die versuchen, Leben in die zerstörten Häuser zu bringen und die Würde derer zu wahren, die schwerste Bombardierungen überlebt haben.

Der geschäftsführende Leiter des Festivals, Montaser Alsabe', ist ein junger Regisseur aus dem Gazastreifen. Er erklärt, wie die Idee des Festivals im Gespräch mit seinem Manager Khalil Almezayeen entstand, einem palästinensischen Regisseur, dessen Ziel es immer war, Gaza einen Zugang zu Kunst und Film zu verschaffen, wie ihn andere Städte der Welt auch haben. Im Jahr 2014, während des israelischen Militärangriffs auf den Gazastreifen, begann Khalil die Zerstörung der Viertel zu dokumentieren. Angesichts der Auswirkungen des Militärangriffs suchte er nach Wegen, um den betroffenen Menschen durch Kunst zu helfen. Montaser zufolge glaubte Khalil, dass ein Filmfestival mit rotem Teppich am besten im Viertel Al-Shuja'iyya abzuhalten sei. Erstens werde die Auslegung des roten Teppichs helfen, den von der Zerstörung und dem Tod ihrer Mitmenschen traumatisierten Einwohner*innen Respekt zu erweisen. Zweitens werde durch das Festival betont, dass die Menschen von Gaza Anspruch auf ein würdiges, normales und sicheres Leben haben. So traf sich Khalil mit Künstler*innen aus Gaza und stellte ein kleines Team zusammen, um das Festival zu organisieren, während er selbst die Filme einwarb, die in Gaza gezeigt werden sollten. Im Mai 2015 fand das Festival zum ersten Mal statt.

Montaser erläutert: «Als Künstler*innen, die im Bereich Film arbeiten, und als Teil dieser Gesellschaft, die den Militärangriff auf Gaza erlebt hat, war es uns wichtig, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Es war von ausschlaggebender Bedeutung, die Einwohner*innen von Al-Shuja’iyya zu würdigen und der Welt zu zeigen, dass diese vermeintlichen Opfer tatsächlich wertvolle Individuen sind. Diese Menschen sind keine bloßen Zahlen, über die in den Nachrichten berichtet wird. Deshalb wurde der rote Teppich in diesem zerstörten Stadtviertel ausgelegt: damit die Bewohner*innen darauf gehen können und geehrt werden wie die Stars und die Held*innen, die sie sind. Das Festival hat dazu beigetragen, Leben in dieses zerstörte Gebiet zu bringen. Das Bild der Menschen, die kommen, um Filme zu sehen, obwohl sie von Trümmern umgeben sind, hat uns geholfen, eine andere Botschaft zu erzeugen: Gaza wurde zerstört, ja, aber die Menschen dort lieben das Leben. Dies ist nicht nur ein Gebiet des Todes, sondern auch ein Ort des Lebens.»

«Dadurch, dass wir uns der Künste bedient haben», fügt Montaser hinzu, «wurde es für uns viel einfacher, die Menschen zu erreichen und andere Bilder von Gaza zu zeigen als die in den Nachrichten und im politischen Diskurs vermittelten. Als wir Regisseur*innen und Künstler*innen aus aller Welt kontaktierten, um sie um Filmbeiträge für das Festival zu bitten, warf dieses Vorgehen für sie viele Fragen auf, etwa: ‹Gaza? Derselbe Ort, der so häufig bombardiert wird, will ein Filmfestival abhalten?› So haben wir viele Künstler*innen erreicht und die Botschaft überbracht, dass es durchaus möglich ist, in dem als Todesort bekannten Gaza ein Filmfestival abzuhalten und dass Künstler*innen und Intellektuelle sich dort aufhalten können. Das neue, über die Medien verbreitete Bild des Gazastreifens wurde von den Menschen selbst produziert, als sie nach dem schweren Bombardement in ihrer zerstörten Nachbarschaft über den roten Teppich liefen, um Filme zu sehen. Das war ein Ausdruck der Sehnsucht dieser Menschen nach einem normalen und sicheren Leben.»

Montaser fährt fort: «Da Al-Shuja'iyya während des Angriffs 2014 massiv zerstört wurde und auch nach zehn Monaten noch in Trümmern lag, fanden die Menschen die Idee, in diesem zerstörten Gebiet einen roten Teppich auszulegen, zunächst überraschend. Es galt als unmöglich, Filme zu zeigen und ein Festival an einem Ort zu veranstalten, an dem es nicht einmal Strom gab. Wir waren dann aber sehr überrascht über die lebhafte Teilnahme der Menschen und insbesondere der Bewohner*innen dieses zerstörten Viertels, die noch immer in Notunterkünften inmitten der Trümmer hausten. Männer, Frauen und Kinder kamen, um in diesem als unbewohnbar geltenden Gebiet Filme zu sehen. Das zeigt, wie sehr die Menschen in Gaza – ganz so wie Menschen in aller Welt – ein menschenwürdiges Leben anstreben. In Anbetracht dieser Resonanz und des Engagements der Menschen sowie ihres Wunsches nach mehr Veranstaltungen dieser Art haben wir die Idee entwickelt, von einer einmaligen Aktion zu einem professionell organisierten Festival überzugehen, das jährlich im November stattfindet. Wir haben Themen festgelegt, die mit Menschenrechten und Freiheit zusammenhängen, haben ein solides Management aufgebaut, Anmeldeverfahren und Kriterien für die Filmeinreichung entwickelt, außerdem ein Komitee gegründet, dem Regisseur*innen und Künstler*innen aus verschiedenen Ländern angehören. Das Festival ist auch erweitert worden: Es findet jetzt auch in anderen Gouvernements des Gazastreifens sowie im Westjordanland statt, und es dauert jetzt acht anstatt wie früher nur drei Tage. Diese Erfolgsgeschichte hat dazu beigetragen, dass man das Festival ins Human Rights Film Network aufgenommen hat. Es ist sogar das einzige Festival, das die palästinensischen Gebiete innerhalb dieses Netzwerks vertritt. Zusammen mit zwölf Filmfestivals aus dem arabischen Raum haben wir im Anschluss daran das Arab Network for Human Rights Film Festival (ANHAR) gegründet. Das verleiht dem Festival mehr Einfluss, da jetzt mehr Länder Filmbeiträge einreichen und die Behandlung von Menschenrechtsthemen in den Filmen stärker rezipiert wird. Menschenrechtsfragen mögen sich anderswo anders stellen als in dem von der israelischen Besatzung und von militärischen Konflikten geprägten Gaza, doch es gibt auch viele Gemeinsamkeiten, etwa was Frauenrechte und die freie Meinungsäußerung angeht. Das hat den Brückenschlag zwischen Gaza und der übrigen Welt erleichtert, indem es den Menschen in Gaza gezeigt hat, wie die Thematik der Bürger- sowie der sozialen und wirtschaftlichen Rechte anderswo behandelt wird, während gleichzeitig der übrigen Welt vor Augen geführt worden ist, dass diese Thematik für die Bewohner*innen von Gaza auch trotz der Besatzung wichtig ist. Es hat auch dazu beigetragen, das Interesse der Menschen in Gaza an der Filmkultur zu wecken: Sie bringen sich als Filmemacher*innen ein und organisieren auch weitere Filmfestivals, die in Gaza normaler geworden sind.»

In Bezug auf den UN-Bericht meint Montaser: «UN-Berichte beruhen auf einer Quantifizierung lebensnotwendiger Güter wie Wasser, Lebensmittel usw., ohne jene menschliche Handlungsfähigkeit zu berücksichtigen, die in Gaza nach Wegen sucht zu leben. Ich persönlich war sehr besorgt über die Tatsache, dass uns in der Stadt, in der ich geboren wurde und lebe, 2020 die lebensnotwendigen Güter ausgehen könnten. Jetzt haben wir 2020 und Gaza existiert weiter, die lebensnotwendigen Güter stehen mit gewissen Einschränkungen weiter zur Verfügung, und das Leben hat sich nicht allzu sehr geändert gegenüber 2012. Es ist dennoch wichtig, den spezifischen Kontext von Gaza zu berücksichtigen, wenn darüber diskutiert wird, ob das Gebiet noch bewohnbar ist oder nicht: Dieser Kontext ist der eines Gebiets, das durch Grenzschließungen von der übrigen Welt isoliert wird. Insofern ist es meiner Ansicht nach weniger die Verfügbarkeit von Dingen oder lebensnotwendigen Gütern, die sich auf das Leben im Gazastreifen auswirkt, als vielmehr die Frage, wie diese Dinge zugänglich gemacht werden können, und da sind wir bei der Frage, ob die Grenzübergänge offen oder geschlossen sind. Sind sie offen, können lebensnotwendige Güter angeliefert werden, sodass es möglich wird, über Wasser, Strom und funktionierende Kläranlagen zu verfügen, doch sind sie geschlossen, kommt alles zum Stillstand. Es könnte auch sein, dass die Situation 2012, als der UN-Bericht veröffentlicht wurde, viel schlimmer war als heute: Wir hatten zwei Militärangriffe hinter uns (2008/2009 und 2012), das Elektrizitätswerk war vollständig zerstört, wodurch es etwa 18 Stromausfälle am Tag gab, und importiert werden durften im Wesentlichen nur Lebensmittel – ein lebensnotwendiges Gut. Andererseits sind zwar mittlerweile einige Beschränkungen gelockert worden, und es können mehr Dinge eingeführt werden, aber die wirtschaftliche Lage der Menschen ist viel schlechter als 2012.»

«Wenn die lebensnotwendigen Dinge zur Verfügung stehen, dann ist Gaza bewohnbar», so Montaser. «Für mich ist es aber wichtig, nicht nur Wiederaufbaumaßnahmen und Entwicklungsprojekte zu sehen. Das Leben besteht auch noch aus anderen Dingen. Die Menschen in Gaza leben seit 2006 im Belagerungszustand: Eine ganze Generation ist in dieser Ära geboren worden! Sie kennen nichts außer Gaza; wenn sie an die Welt denken, denken sie an Gaza und stellen sich vor, alle anderen Menschen würden ebenfalls ohne Strom und Wasser leben und auch ihnen sei es verboten zu reisen oder ein normales Leben zu führen. Durch unsere künstlerische und filmische Arbeit bauen wir Brücken der Kommunikation zwischen den Zivilisationen – zwischen den Einwohner*innen von Gaza und der übrigen Welt –, damit die Welt über die Realität von Gaza informiert wird und damit die Menschen in Gaza begreifen, dass ihnen ihre Rechte und ein normales Leben verwehrt werden. Ziel ist es, die Menschen zu mobilisieren, damit sie ihre Grundrechte und Freiheiten einfordern.»

«Das Gaza, von dem ich träume, ist jenes, dessen Geschichte ich studiert habe und in dem die Menschen, Frauen wie Männer, frei waren», so Montaser abschließend. «Jenes Gaza, das zehn Kinos, einen Flughafen und einen Seehafen hatte, ein weltoffenes Gaza. Wenn es mir gegeben sein sollte, in der Zukunft ein schönes Gaza zu erleben, dann wird dessen Schönheit daher rühren, dass es frei, offen und in die Welt integriert ist – nicht von ihr isoliert. Ich würde Gaza gern so sehen, wie ich es früher kannte: voller Tourist*innen aus aller Welt, mit Einwohner*innen, die ein normales und sicheres Leben führen und sich nicht vor einem weiteren Militärschlag fürchten müssen. Ich würde gern ein Gaza ohne wirtschaftliche Probleme sehen, mit Kinos, in die die Menschen gehen können. Dieses Gaza wäre so lebhaft wie jede andere Stadt auf der Welt.»
 

Übersetzung aus dem Englischen: Gegensatz