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Zum Tod des Vizepräsidenten Seif Sharif Hamad und zur Corona-Politik auf Sansibar

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Hildegard Kiel,

Seif Sharif Hamad beim Internationalen Filmfestival in Sansibar, 2013
Seif Sharif Hamad beim Internationalen Filmfestival in Sansibar, 2013 CC BY-SA 2.0, Peter Bennett / ZIFF, via Wikimedia Commons

Am 17. Februar 2021 gegen 11 Uhr verstarb Seif Sharif Hamad, der amtierende Vizepräsident Sansibars und Vorsitzende der Oppositionspartei ACT Wazalendo – wenige Wochen nachdem die Partei seine Erkrankung an Covid-19 bekanntgegeben hatte. Das Land verliert einen der charismatischsten und erfahrensten Oppositionspolitiker, eine eloquente Vaterfigur, die sich für die Unabhängigkeit Sansibars einsetzte, einen unermüdlichen Verfechter von Dialog und Versöhnung und scheinbar das letzte Bollwerk gegen die Übermacht der Regierungspartei CCM (Chama cha Mapinduzi). Mit seinem Tod endet eine Ära. Tausende von Menschen haben sich auf den Weg gemacht, um dem geliebten Politiker «Maalim Seif» – benannt nach seinem ersten Beruf als Lehrer – die letzte Ehre zu erweisen. Sein Leichnam wurde von Daressalam erst zu Gebeten in Unguja und dann zur Beerdigung an seinen Geburtsort Pemba geflogen. Dicht gesäumt waren die Straßen von trauernden Anhänger*innen.  Es gab kaum ein Haus auf den beiden Inseln Sansibars, in dem keine Tränen flossen.

Hildegard Kiel ist Projektmanagerin für Nord- und Ostafrika im Zentrum für Internationalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie lebte über 20 Jahre in Tansania, davon 16 Jahre in Sansibar.

«Maalim Seif»

Seif Sharif Hamad wurde 1943 in Pemba geboren. Auf Anfrage der Regierung arbeitete er nach Beendigung seiner Schulbildung neun Jahre als Lehrer an Sekundarschulen in Sansibar-Stadt, um den nach Abzug der Briten entstandenen Lehrermangel auszugleichen. 1975 schloss er sein Studium an der Universität in Daressalam in Politikwissenschaft und internationalen Beziehungen ab und begann seine politische Karriere bei der Partei CCM unter der Führung des ersten Präsidenten Tansanias, Julius Nyerere. Von 1984 bis 1988 war er Premierminister von Sansibar, wurde jedoch nach Meinungsdifferenzen hinsichtlich der politischen Unabhängigkeit der Inseln mit (seinem späteren Nachfolger) Hussein Ali Mwinyi, Idris Abdul Akil und vor allem mit Julius Nyerere erst aus der Partei ausgeschlossen und später unter dem Vorwand der Anstiftung unerlaubter Versammlungen und wegen illegalen Besitzes von vertraulichen Dokumenten angeklagt. Dies führte zu seiner Inhaftierung von Mai 1989 bis November 1991– was er in einem Interview vor den Wahlen im Oktober 2020 als seine größte politische Tragödie bezeichnete.

Nachdem Tansania 1992 zum Mehrparteienstaat erklärt wurde, gründete er zusammen mit anderen ehemaligen Parteimitgliedern die Civic United Front (CUF), die lange die größte Oppositionspartei auf Sansibars Inseln war. An der Spitze der CUF kandidierte Seif Sharif Hamad 1995 erstmalig für das Amt des Präsidenten von Sansibar, gefolgt von weiteren Kandidaturen in den Jahren 2000, 2005, 2010 und 2015. Zum sechsten Mal trat er im Oktober 2020, diesmal für die Partei ACT Wazalendo an, zu der er 2019 übergetreten war. Dieser Übertritt folgte einem (politisch gesteuerten) Gerangel um die Parteispitze, die sein Opponent, Professor Lipumba vorerst gewann. Sehr schnell fand dieser sich jedoch an der Spitze einer ausgehöhlten Partei ohne Wählerschaft wieder – denn die Anhänger*innen blieben dem Lehrer «Maalim Seif» treu und folgten ihm – ein Zeugnis seiner großen persönlichen Überzeugungskraft als Mensch und als Politiker. Während seiner gesamten politischen Karriere setzte er sich für gewaltfreie Lösungen und diplomatische Verhandlungen ein, als Friedensarchitekt vermochte er es immer wieder erneut, politische Kompromisse auszuhandeln, die die Rechte der vom Festland benachteiligten Inselbewohner*innen wahrte und die Parteien befriedete. Er hatte Charisma, Humor, war ein begnadeter Redner und verlor nie den Kontakt zu seiner Wählerschaft, die ihn auch für seine Bodenständigkeit liebte.

Jede der sechs Wahlen war von gravierenden Unregelmäßigkeiten und zum Teil gewaltsamen Ausschreitungen gegen seine Anhänger*innen gekennzeichnet. Seif Sharif Hamads Wahlerfolg wurde immer wieder knapp verhindert. So wurden 2001 mindestens 45 seiner Anhänger*innen in Pemba erschossen (die genaue Zahl ist bis heute nicht offiziell bekannt), Hunderte wurden verletzt und bis zu 2.300 Menschen flüchteten an die kenianische Küste. Seine Größe bewies Maalim Seif damit, dass er trotz allem immer wieder bereit war, Gespräche zu führen und Abkommen zu schließen, die den leidgeprüften Inselbewohner*innen Hoffnung gaben. Verhandlungen zwischen CCM und CUF führten zu zwei Kooperationsabkommen 1999 und 2001 (unter dem Namen Muafaka I und II) sowie erstmals zur Bildung der gemeinsamen Regierung GNU (Government of National Unity) im Jahr 2010. Die Wahl von 2015 wurde annulliert, nachdem sich ein klarer Wahlsieg für CUF und Seif Sharif Hamad abgezeichnet hatte. Aus Protest boykottierten die CUF und ihre Anhänger*innen die Wiederholung der Wahl.

Die letzte Wahl im Oktober 2020 hat – körperlich wie seelisch – tiefe Wunden hinterlassen und war durch den härtesten und brutalsten Wahlverlauf seit 2001 gekennzeichnet. Aus diesem Grund musste Ismail Jussa Ladhu (Mitglied des Parlaments und der ACT) an der Trauerfeier für Seif Sharif Hamad im Rollstuhl sitzend teilnehmen, auf den er nach gravierenden Misshandlungen durch Polizei und Armee im Verlauf der Wahlen angewiesen ist. ACT-Mitglied Nassor Ahmed Mazrui, der während des Wahlkampfes verschleppt wurde und viele Tage verschwunden war, kann seine Position als Wirtschaftsminister im aktuellen Kabinett aufgrund seiner gesundheitlichen Konstitution nach Folter und Prügel noch immer nicht antreten. Trotz dieser massiven Gewalt gegenüber seinen Parteigenossen arbeitete Maalim Seif jedoch mit dem seit Oktober 2020 auf Sansibar regierenden Präsidenten Hussein Ali Mwinyi zusammen, um an seiner Seite die politische Spaltung des Landes zu überwinden und um Versöhnung und Dialog voranzutreiben.

Corona-Politik in Tansania

Während für die Menschen auf Pemba und Unguja die Trauer und der persönliche Verlust der Vaterfigur Seif im Vordergrund standen, schlug die Ursache seines Todes national wie international hohe Wellen: Maalim Seif starb an Covid-19, und das in einem Land, in dem das Virus von Regierungsseite lange bewusst ignoriert worden war. Seit Präsident Magufuli im April 2020 Corona-Tests als unzuverlässig deklarierte, wurden in Tansania keine Zahlen mehr veröffentlicht. Mit Aufrufen zu Gebeten und zu Behandlungen mit natürlichen Heilmitteln wurde das Virus schnell als besiegt erklärt. In einer Gesellschaft, in der 44 Prozent der Bevölkerung jünger als 15 Jahre alt sind, blieb der befürchtete Kollaps des Gesundheitssystems auch vorerst aus. Tansania öffnete die Grenzen für den Tourismus, worauf Sansibar vor allem von Russ*innen und Pol*innen als neues Ferienparadies entdeckt wurde. Ab November 2020 belebte sich der Massentourismus und die Branche atmete auf. Mehrere Charterflüge bringen derzeit jede Woche Hunderte von erholungsbedürftigen und partyhungrigen Menschen in ein maskenfreies Scheinparadies. Die einzige Einreisebestimmung ist ein obligatorischer Fieberscan, ein negativer Covid-Test wird von staatlicher Seite nicht verlangt. Die vor Kurzem noch leeren Hotels sind nun bereits bis Ende der ersten Saison 2021 ausgebucht, zum Teil zu Dumpingpreisen von 40 US-Dollar für die Vollpension pro Tag.

Es scheint, als ob sich dieses ökonomische Fenster nun wieder schließen würde. Die zweite Welle hat auch Tansania erreicht und mit dem Tod von Maalim Seif ist die Illusion eines offiziell Corona-freien Landes zerbrochen. Nicht nur auf dem Festland häufen sich die respiratorischen Krankheits- und Todesfälle (offiziell als Lungenentzündungen deklariert), auch auf Sansibar ist Corona weit verbreitet. Über Infektions- und Inzidenzwerte kann weiterhin nur spekuliert werden, doch der Druck, Informationen zu geben und Maßnahmen zu verhängen, wächst auch innerhalb des Landes. Alle großen religiösen Verbände haben im letzten Monat Warnungen an ihre Anhänger*innen herausgegeben. Die Oppositionspartei befürwortet schon lange einen strengeren staatlichen Kurs gegen das Virus als die Empfehlung von Naturheilmitteln und Kräuterinhalationen. Nun schwenkt auch die Regierung langsam um und empfiehlt zum Beispiel eine Maskenpflicht in Bussen. Aktuell scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Charterflüge wieder eingestellt werden.

Während der globale Norden die psychischen Folgen der Corona-Maßnahmen mehr oder weniger außer Acht lässt, setzt Präsident John Magufuli ganz auf die Psyche der Landesbewohner*innen – und ignoriert die körperliche Gefahr, auch aus wirtschaftlichen Gründen. Der autoritäre Führer hat im Land durchaus viele Anhänger*innen. Sein Appell an den Glauben wird zwar im Westen belächelt, hat aber eine anfängliche Massenpanik (und auch Xenophobie gegenüber Europäer*innen) verhindert und vielen Menschen Kraft und Stärke gegeben, denn Religion und Glauben bilden einen wichtigen Bestandteil des Alltags für die meisten Tansanier*innen. «Furcht ist die schlimmere Krankheit» scheint nach wie vor das Credo des Präsidenten zu sein.

Ohne Zweifel hätten zumindest grundlegende Sicherheitsmaßnahmen Schlimmeres für die zweite Welle verhindert. Maskenpflicht in den dicht bepackten Bussen, Corona-Tests für einreisende Gäste, separate Abteilungen für Corona-Patient*innen im staatlichen Krankenhaus von Stone Town, ausreichende Reserven an Sauerstoffflaschen, funktionierende Covid-Tests … all das ist nicht passiert.

Stimmen aus dem Land

Dennoch erscheint auch der erhobene Zeigefinger der internationalen Geldgeber mit Forderungen nach Maßnahmen im westlichen Stil zum Teil als lebensfremd. Miriam D.*, die seit über zehn Jahren mit einem Sansibari verheiratet ist und mit drei Kindern im Land lebt, bezeichnet die Corona-Politik als «einen Krieg gegen die dritte Welt». Ein Lockdown, wie er in Europa durchgeführt wird, erscheint sinnlos, wenn die Menschen dicht gedrängt bei über 30 Grad in stickigen Zimmern ausharren sollen und das öffentliche Leben überwiegend im Freien stattfindet.

Es gibt auf Sansibar kaum jemanden, der nicht vom Tourismus lebt.  Im Jahr 2018 wurden 28 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und etwa 80 Prozent der Devisen im Tourismus erwirtschaftet. Bei Taxifahrern, Bootsführern, Hotelinhaber*innen, Fremdenführer*innen und all denen, die vom Geld internationaler Gäste abhängig sind, überwiegt die Erleichterung, dass es wieder Einnahmen gibt, wenn auch in weit geringerem Maße als vorher.

Sauti-za-Busara-Festival

Alljährlich findet im Februar das international bekannte Sauti-za-Busara-Musikfestival statt, so auch dieses Jahr. Yusuf Mahmoud, der Direktor des Festivals, widersetzte sich erfolgreich dem Druck der westlichen Geldgeber, das Event 2021 abzusagen, und ärgert sich über die Darstellung Tansanias in den westlichen Medien. Im Gespräch mit der Autorin sagte er:  «Wir wussten bis zum letzten Tag nicht, ob wir es stattfinden lassen können. Aber die Menschen brauchen Hoffnung und für viele der Musiker*innen war dies die erste Gelegenheit seit Langem, einmal wieder etwas Geld zu verdienen.» Das Festival ist auch eine Möglichkeit, traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit mit neuer Kraft und Hoffnung zu begegnen. Der Dankbarkeit für diese Gelegenheit gaben auch fast alle Musiker*innen auf der Bühne Ausdruck. So sagte Sandra Nankoma aus Uganda: «Die Pandemie hat uns so hart getroffen. Danke für die Gelegenheit, hier zu sein.»

Die Pandemie kennzeichnete freilich das Festival, das auf zwei Tage reduziert war: Fast alle Gruppen stammten aus Tansania, da Reisen ausländischer Musiker*innen abgesagt worden waren. Es gab Sicherheitsvorkehrungen – so wurde bei Eintritt Fieber gemessen, es gab Handwaschstationen, und das Tragen von Masken wurde empfohlen (aber nur wenige nahmen dies ernst). Soziale Distanz zu wahren, war auf der großen Rasenfläche des alten Forts möglich, trat mit zunehmender Begeisterung im Verlauf des Abends dann allerdings auch wieder in den Hintergrund.

Wie geht es weiter?

Nicht nur in Stone Town teilen sich die Meinungen – auch auf den Dörfern ist die Spaltung der Gesellschaft und sind die Erinnerungen an die jüngsten Misshandlungen und Verschleppungen im Zuge der Wahlen im Oktober präsent. Bei vielen ist etwas zerbrochen – der Glaube an einen Fortschritt, an eine Gerechtigkeit, die dem politischen System bei allem Mangel immer noch innewohnt. Nach dem Tod eines Dorfältesten und Historikers, der nach der Wahl verschwand und letztendlich seinen Wunden erlag, schloss Sandra Estham, eine tansanische Staatsangehörige mit englischem Ursprung*, ihre Krankenstation, in der sie viele Jahre lang die Menschen unentgeltlich behandelt hatte. «Ich kann nicht mehr. Ich mag die Leute, die für so etwas verantwortlich sind, nicht auch noch versorgen.»

Im Dorf Matemwe wurden die Dorfältesten im Oktober 2020 nackt in einem Lastwagen abtransportiert. Nach vorsichtigen Erkundigungen und Verhandlungen tauchten sie nach mehreren Tagen wieder auf. Offiziell berichtet wird über Vorfälle dieser Art grundsätzlich nicht, geschweige denn, dass die Schuldigen angeklagt würden. Verantwortlich für solche Misshandlungen sind immer auch die Spitzel der Regierungspartei – die Nachbar*innen, die ebenfalls im Dorf leben. Und fragt man die Betroffenen, wie sie die Demütigungen und Verletzungen ertragen können, dann erhält man die Antwort: «Wir vergeben.»

Direkt neben dem Alten Fort in Stone Town, in dem das Sauti-za-Busara-Festival stattfand, befindet sich das «Haus der Wunder». Das heutige Weltkulturerbe, das 1883 für Sultan Barghash bin Said errichtet und für seine grandiose Architektur wie seine technischen Innovationen berühmt wurde, stürzte im Dezember 2020 nach Jahrzehnten der Vernachlässigung zu großen Teilen ein – ein vielsagendes Gleichnis dafür, wie in Sansibar heute Feierlichkeiten und Verfall nebeneinanderstehen.

Auch Seif Sharif Hamad hat Zeit seines Lebens seinen politischen Gegnern vergeben und den Dialog und eine Politik der Versöhnung gesucht. Dafür wurde er geliebt und verehrt. Es sind diese weisen Stimmen, die durch Corona nun zunehmend ausgelöscht werden. Was bleibt, ist nicht nur die Frage, wie sich sein Nachfolger Othman Masoud Othman bewähren wird, sondern vor allem, wie sich die Pandemie und damit eine Gesellschaft weiter entwickeln wird, in der die Erfahrung und Lebensweisheit der älteren Generation gegenüber den hitzigeren Stimmen der Jugend zunehmend fehlen.
 

* Die Namen wurden geändert, um Identitäten zu schützen.