Der Dolmus – ein Sammeltaxi in der Türkei – in der zentralanatolischen Stadt Kirikkale ist bis auf den letzten Platz voll, und ich habe mir den einzigen freien Platz vorne beim Fahrer ergattert. Während ich begeistert und etwas erschöpft die vorbeiziehende Landschaft betrachte, erstrahlt der langsam dämmernde Abendhimmel in einem klaren Hellblau, das allmählich einem Mitternachtsblau weicht. Als wir uns Ankara nähern, befinden sich nur noch vier weitere Frauen hinten im Minibus, der Fahrer und der Mann neben mir. Im Inneren des Autos ist zunächst kein einziger Laut zu hören; bis auf die Stimme meines Sitznachbarn. Er telefoniert mit leicht erhobener Stimme; zunächst noch nicht herauszuhören, ob die andere Person männlich oder weiblich ist. Je länger das Gespräch dauert, desto deutlicher wird es, dass er mit seiner Ehefrau spricht; denn er redet auf sie mehrere Minuten lang ein. Sie solle ihre Entscheidung noch einmal überdenken, an die Familie und das gemeinsame Kind denken. Als er jedoch merkt, dass sie nicht von ihrer Entscheidung abweicht, ändert sich seine Stimme schlagartig; er spricht nun etwas leiser, aber dafür mit einer Strenge, die keine Widerworte erduldet. Er sagt: «Anscheinend hat jemand auf dich eingeredet und die Geschehnisse haben dich ermutigt. Du scheinst nicht mehr klar denken zu können. Meinst du wirklich, die werden dich retten können? Meinst du, dir kann nicht das Gleiche passieren?»
Emine Akbaba ist freie Fotografin und Dokumentarfilmerin und thematisiert in ihrer fotojournalistischen Arbeit Femizide in der Türkei. Neben Ausstellungen und Publikationen wurden ihre Arbeiten und Videoreportagen mehrfach ausgezeichnet.
Mit den «Geschehnissen» sind die landesweiten Proteste gemeint, die seit August 2019 eine Welle der Empörung in der Türkei auslösten, die seitdem nicht mehr zurückgegangen ist. Der Auslöser war unter anderem ein verwackeltes Smartphone-Video. Auf dem Video sind die verzweifelten Schreie eines jungen Mädchen zu vernehmen, während drei Personen im Hintergrund hektisch versuchen, aus einem Geschäft ins Freie zu gelangen. «Mama, Mama stirb nicht», fleht das junge Mädchen. Sie weint hemmungslos und greift mit ihren Händen nach ihrer Mutter und berührt sie an ihren schwarzen Haaren. Die Frau trägt eine blütenweiße Bluse und einen Rucksack. Mit der rechten Hand fasst sie sich an ihre Kehle. Sie ist zuerst nur von der Seite zu sehen. Das Ausmaß der Tat ist erst zu erkennen, als sich die Frau der Person zuwendet, die das Video macht. Die Vorderseite ihrer einst weißen Bluse ist getränkt mit ihrem eigenen Blut. Sie versucht vergeblich, die Wunde an ihrer Kehle zu schließen. Panisch schreit sie, «Ich will nicht sterben» und scheint dabei direkt in die Kamera zu schauen. Ihr Name ist Emine Bulut. Es sind die letzten Aufnahmen der 38-jährigen Türkin, die am 18. August 2019 von ihrem Ex-Mann vor den Augen ihrer zehnjährigen Tochter in einem Schnellimbiss erstochen wurde. Das neun Sekunden dauernde Video über den Mord verbreitete sich schlagartig auf Instagram; zuerst noch unzensiert, und schockte die Menschen in der Türkei. Am nächsten Tag wurde das Video mit einem Warnhinweis versehen. Das «Gleiche» soll anscheinend auch der Frau des Mannes in meinem Taxi passieren, wenn sie weiterhin auf einer Trennung beharrt.
Es ist Ende November 2019, als der Mann, Mitte Dreißig, seine Frau mit dem Tod bedroht. Er scheint davon unbeeindruckt zu sein, dass ich neben ihm sitze und seine Todesdrohung mithöre. Ich hingegen bin schockiert, weiß zunächst nicht, wie ich reagieren soll, zweifele sogar, ob ich ihn richtig verstanden habe. Der Moment erscheint mir surreal, denn genau aus diesem Grund sitze ich zu dem Zeitpunkt in dem Dolmus, bereise seit zwei Wochen wieder einmal das Land und treffe in den verschiedenen Regionen der Türkei Familienangehörige; wie auch an diesem Tag in Kirikkale. Noch vor einigen Stunden sitze ich Fatma gegenüber, die ihre Tochter durch die Hand eines Mannes verloren hat, betrachtete alte Fotos ihrer Tochter, während sie mir liebevoll von ihr erzählt. Auf den Fotos ist eine junge Frau mit ihrer Tochter zu sehen, die nichtsahnend und voller Freude in die Kamera blicken. Es ist Emine Bulut; deren Tod und die daraus resultierten Proteste, die Frau am Telefon anscheinend ermutigt haben, sich von ihrem Ehemann zu trennen. Viele Frauen in der Türkei fühlen sich durch die stetigen Protestaktionen der Frauenrechtsorganisation «kadın cinayetleri durduracağız platformu» («Plattform wir werden Frauenmorde stoppen») ermutigt. Die Frauen trauen sich über Gewalt und Todesdrohungen zu sprechen. Sie suchen Rat bei der Plattform, die sich kontinuierlich für die Rechte der Frauen in der Türkei einsetzt und die Familien der ermordeten Frauen während der Gerichtverhandlungen unterstützt. Die Frauen fühlen sich der Situation nicht allein ausgesetzt. Für viele markierte Emines Tod einen Wendepunkt in der Gewalt gegen Frauen in der Türkei; mit der Hoffnung, dass die Mörder für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen und die Gesetze endlich strenger ausgelegt werden. Jedoch sind viele andere Frauen nach Emine getötet worden. Frauenrechtsorganisationen berichten sogar, dass Gewalt gegen Frauen in der Türkei seit der grausamen Tat häufiger und brutaler geworden ist.
Deshalb gingen am 8. März 2021, dem «Internationalen Frauentag», Frauen in 81 Provinzen der Türkei auf die Straße und hielten Plakate mit den Namen der getöteten Frauen in den Händen. «Wir schweigen nicht. Wir haben keine Angst. Wir gehorchen nicht» war auf den Straßen in Ankara, Istanbul und Izmir lautstark zu hören, denn Frauen gingen an diesen Tag auf die Straße, um als vollständige Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Zu Tausenden protestierten sie gegen Diskriminierung, Ungleichheiten und die brutalen Frauenmorde. Die Namen der ermordeten Frauen sollen nicht in Vergessenheit geraten, deshalb war auf den Plakaten auch Emine Buluts Name zu sehen.
Laut der«Plattform wir werden Frauenmorde stoppen» sind im letzten Jahr 300 Frauen von Männern ermordet worden, die ihre Tat damit rechtfertigen, dass die Frau den Tod aufgrund ihres «falschen» Verhaltens «verdient» habe (weil sie sich anders kleidet, die Trennung will, sich das Recht nimmt, eine Versöhnung abzulehnen und die Männer sich in ihrer «Ehre» verletzt fühlen). In 171 Mordfällen liege ein entsprechender «Verdacht» vor. Drei bis fünf Frauen werden täglich in der Türkei getötet. Die meisten Frauen werden von ihren Ehemännern oder Lebenspartnern umgebracht, weil sie eine Scheidung oder Trennung verlangen, deren Liebesgeständnisse nicht erwidern und nach Selbstbestimmung streben. Allerdings handelt es sich hier um eine Dunkelziffer, da keine offiziellen Statistiken über die Frauenmorde geführt werden.
«Uns wurde oftmals verboten, mit anderen Menschen über Emine zu sprechen. Angeblich zu unserem eigenen Wohl; denn die Interviews, die wir mit Journalisten führten, und die mediale Aufmerksamkeit könnten den Verlauf der Gerichtsverhandlungen negativ beeinträchtigen. Ich verstehe nicht weshalb, vermute jedoch, dass von Seiten der Justiz der Kampf der Frauen eingeschränkt und eine negative Sicht auf die derzeitige Regierung vermieden werden sollen», sagt Emines Vater.
Abends dringt die melodische Stimme des Imams durch die offenen Fenster in das Wohnzimmer der Familie und drängt die Stimme der Nachrichtensprecherin in den Hintergrund, die über Emine Bulut spricht. In der Mitte des Bildschirms ist Emines Foto zu sehen, das von weiteren Frauenportraits eingerahmt wird. «Es ist nun drei Monate und 15 Tage her seit ihrem Tod und es wurden weitere vierzig Frauen ermordet», sagt Fatma, die ihre Tochter immer mit ihrem zweiten Vornamen Badegül – Rose – angesprochen hat.
Auch am «Internationalen Frauentag» werden die Frauen in der Türkei nicht verschont werden; wie jeden Tag wird kurz über den Tod einer Frau berichtet werden, die auf brutale Weise getötet wurde, bis eine neue Frau ihren Platz in den Nachrichten einnimmt.