News | Parteien / Wahlanalysen - Brasilien / Paraguay Brasilien: Prozess gegen Lula wird neu aufgerollt

Welche Folgen hat die Annullierung der bisherigen Strafverfahren gegen den Ex-Präsidenten?

Am 9. März überraschte der Richter Edson Fachin vom Obersten Bundesgerichtshof Brasiliens («Supremo Tribunal Federal», STF) mit seiner Einzelentscheidung zur Annullierung der bisherigen Prozesse gegen den Ex-Präsidenten (2003 bis 2011) Luiz Inácio Lula da Silva, «Lula», von der «Arbeiterpartei» PT. Das löste ein politisches Erdbeben in Brasilien aus, denn mit dieser Entscheidung kann Lula auch wieder bei Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten und hätte beste Chancen den amtieren Ultrarechten Jair Bolsonaro (parteilos) zu schlagen. Dessen Anhänger*innen reagieren aggressiv auf die Entscheidung und machen auch vor Morddrohungen nicht halt. In der politischen Linken wird eine mögliche erneute Präsidentschaftskandidatur Lulas indes vorwiegend positiv beurteilt. Innerhalb der linkssozialistischen PSOL wird jetzt bereits diskutiert, ob die «Partei für Freiheit und Sozialismus» dann auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur verzichtet.

Eine juristische Einschätzung nehmen Carol Promer und Juarez Tavaro vor. Das Interview führten Torge Löding und Jorge Pereira von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.

Carol Promer ist Professorin für Internationales Recht an der Universität von Rio de Janeiro (UFRJ) und Mitglied der Vereinigung Brasilianischer Juristen für die Demokratie (ABJD).
Juarez Tavares ist pensionierter Anwalt und Unterstaatsanwalt.

Beide haben sich ausführlich mit den Prozessen gegen Lula beschäftigt.

Frage: In der vergangenen Woche überraschte der Oberste Richter Edson Fachin mit einer Einzelentscheidung, in deren Folge die Strafverfahren gegen Ex-Präsident Lula ungültig werden. Ist Lula jetzt freigesprochen?

Carol Promer: Nein, er wurde nicht freigesprochen. Die Prozesse gegen ihn wurden aufgehoben. Gleichzeitig ist noch ein Befreiungsantrag («habeas corpos») zugunsten von Lula offen, in dem es um das Verhalten seines Anklagerichters Sergio Moro geht. Die Anwälte Lulas haben seine Freilassung beantragt, weil aus ihrer Sicht kein fairer Prozess gegen den Ex-Präsidenten stattgefunden hat und Richter Moro befangen war. Die grundlegenden Prozessgarantien wurden nicht eingehalten und dem Angeklagten nicht die vollen Rechte eingeräumt. Seine Anwälte wurden Opfer von illegalen Lauschangriffen. Von Anfang an musste der Eindruck entstehen, dass mit diesem Prozess etwas nicht stimmt. Diese Meinung wurde zunächst eher von jenen geteilt, die Lula politisch nahestehen. Mit der Veröffentlichung geleakter Telefonmitschnitte von Richter Moro und der Staatsanwaltschaft wurde dies dann 2019 auch einer breiteren Öffentlichkeit klar. Die Mitschnitte beweisen, dass es Geheimabsprachen gab, um den Angeklagten zu verfolgen und bereits vor dem Prozess zu verurteilen. Der Prozess wurde mit der Absicht auf ein nie dagewesenes Tempo beschleunigt, um Lulas Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu verhindern. Die Telefonmitschnitte beweisen, dass es sich um einen Justizskandal handelt.

Richter Fachin sieht das offenbar anders. Er hat sich gleich im Anschluss an seinen Einzelentscheid zu Lula im zweiten Senat des Obersten Gerichtes (STF) gegen eine Verurteilung von Sergio Moro ausgesprochen. Er begründete die Annullierung des Verfahrens gegen Lula damit, dass das Gericht in Curitiba, wo Lula verurteilt wurde, nicht zuständig gewesen ist.

Juarez Tavares: Lula steht nun ein neues Verfahren in der Hauptstadt Brasília bevor. Das brasilianische Justizsystem unterscheidet sich von dem deutschen – so gibt es in Brasilien keine Hauptverhandlung. Unser Justizsystem ist weniger komplex als das deutsche, denn alle strafrechtlichen Prozesse werden in erster Instanz entschieden. Ein einzelner Amtsrichter nimmt die Anklage auf, übernimmt die Verhandlung und kann dann eine Strafe von bis zu 30 Jahren verhängen. Der Ort der Straftat bestimmt die Zuständigkeit des Richters. Sergio Moro hat Lula in Curitiba verurteilt, obwohl dort keine der Taten begangen wurde, die ihm zu Last gelegt wurden. Also war Moro für Lula gar nicht zuständig. Deshalb hat Fachin nun entschieden, eine Verhandlung könne nur in der Hauptstadt geführt werden und die Prozesse damit wieder auf «Null» gesetzt.

Die Einzelentscheidung von Fachin wurde nun an das Plenum der Obersten Gerichtshofes zurückgegeben und soll dort bestätigt werden. Was bedeutet das?

Juarez Taveres: Das ist unkonventionell und ganz klar illegal. Die Entscheidung liegt klar definiert beim Zweiten Senat des STF. Aber im brasilianischen Justizsystem geschehen leider auch merkwürdige Dinge.

Carol Promer: Das ist eine Art bösartiges juristisches Schachspiel. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass die Entscheidung revidiert werden könnte. Verhindern könnte das die politische Stimmung in Brasilien. Im Gegensatz zu 2018 gibt es für einen «befreiten Lula» jetzt eine breite Akzeptanz. Dessen Rede am Mittwoch wurde sogar live vom TV-Sender Globo übertragen, einem Erzfeind des Ex-Präsidenten. Und moderate Vertreter*innen der politischen Rechten äußerten sich zu seinen Gunsten und gegen Moro. Es herrscht eine gesellschaftliche Stimmung der Akzeptanz sogar innerhalb der gemäßigten politischen Rechten von Lula angesichts der Erfahrung mit dem aktuellen Präsidenten Bolsonaro.

Aber eine politische Stimmung sollte doch keinen Einfluss auf die Entscheidung eines Obersten Gerichtes haben?

Juarez Taveres: Das mag absurd klingen, aber Brasilien ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen sich der Richter vorher zu dem Prozess äußerst, über den er später urteilen wird. Das wäre anderenorts undenkbar, denn es zeigt die Befangenheit des Richters.

Richter Fachin gilt als Befürworter der durch die Leaks in Verruf geratenen Antikorruptions-Einheit «Lavajato». Nun hat ausgerechnet er mit seiner Entscheidung Lulas Verurteilung annulliert. Was steckt dahinter?

Carol Promer: Ich glaube, er ahnte nicht im Ansatz, was seine monokratische Entscheidung für eine politische Wirkung haben könnte. Vermutlich hat er sich verkalkuliert. Er wollte nicht Lula helfen, sondern Moro schützen.

Juarez Tavares: Es existieren im brasilianischen Recht verschiedene Einspruchsmöglichkeiten gegen einen Strafprozess. Dazu gehören Zuständigkeits- und Befangenheitseinwände. Der Befangenheitseinwand hat dabei immer Vorrang. Es lagen diese beiden Befangenheitseinwände gegen das durch Moro geleitete Verfahren vor, aber Fachin hat illegalerweise zunächst den der Zuständigkeit behandelt und das Verfahren gegen Lula damit annulliert. Damit ist jetzt ausgeschlossen, dass der Punkt der Befangenheit gegen Moro verhandelt wird.

Carol Promer: Und damit will Fachin verhindern, dass alles was bei «Lavajato» gelaufen ist, diskutiert wird. Vor kurzem wurden neue geleakte Nachrichten veröffentlicht und die sind absolut skandalös – dabei geht es um neue illegale Praktiken und die Mittäterschaft einer der Obersten Richterinnen des STF. Ich vermute, es kommen noch andere Namen vor, auch der von Fachin selbst. Und auch Journalist*innen und Künstler*innen. Fachin wollte dieses Kapitel abschließen und Lula zu befreien schien ihm ein kleiner Preis dafür zu sein.

Kann Lula in Brasília denn einen fairen Prozess erwarten, wenn der dort neu eröffnet wird?

Juarez Tavares: Es wird per Zufallsgenerator entschieden, welche Amtsrichter*innen und welche/r Staatsanwalt/Staatsanwältin für ihn zuständig sein werden. Damit ist der Ausgang des Verfahrens also nicht von vorneherein besiegelt, wie mit Moro und dem Staatsanwalt in Curitiba, die sich auf eine Verurteilung geeinigt hatten, bevor Lula überhaupt vor Gericht stand. Die Staatsanwaltschaft wird dann erst einmal neu entscheiden, ob überhaupt Anklage erhoben wird. Bis zu einer Verurteilung sind Lulas politische Rechte dann auch wieder voll in Kraft, es ist damit sehr wahrscheinlich, dass er im Oktober 2022 bei den Präsidentschaftswahlen antreten kann, wenn er sich dafür entscheidet.