Hintergrund | Kommunikation / Öffentlichkeit - Golfstaaten Gegenhegemonie der Erinnerungen

Das kulturelle Erbe des Jemen wird digitalisiert

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Blick über Sanaa, seit 1990 Hauptstadt des wiedervereinigten Jemen
Digitalisierung kann helfen, gegenhegemoniale Geschichte zu bewahren. Blick über Sanaa, seit 1990 Hauptstadt des wiedervereinigten Jemen
  CC BY 2.0, Franco Pecchio, via Flickr

Als in Europa und anderen Teilen der Welt im März 2020 die Museen aufgrund von Corona-Maßnahmen schließen mussten, verlor die Öffentlichkeit ihren Zugang zu zumindest einem Teil ihrer historischen Sammlungen und ihrem kulturellen Erbe. Im Jemen hatte die Öffentlichkeit schon immer nur einen selektiven Zugang zum kulturellen, geschichtlichen und politischen Erbe des Landes. Heute tut die Gewalt des Krieges ihr Übriges, denn seit Beginn des Krieges wurden eine Vielzahl von Museen, Archiven und Sammlungen zerstört. Genau wie in Europa kann auch im Jemen die Digitalisierung dieses Erbes helfen, das Material zu schützen und öffentlich zugänglich zu machen. Gerade jetzt, wo die Geschichte des Landes von den Kriegsparteien manipuliert wird, ist es wichtig, durch die Digitalisierung von Erinnerungen gegenhegemoniale Geschichten zu bewahren.

Hala al-Sadi studiert Journalismus, Medien und Globalisierung und arbeitet als Kommunikations- und Social-Media-Forscherin. Sie hat einen Bachelor-Abschluss in Informationstechnologiemanagement von der Lebanese American University. 2019 arbeitete sie bei Dar El-Nimer für Kunst und Kultur mit einem Team von Fachleuten aus den Bereichen Sammlungen, Kuration, Medien und Öffentlichkeitsarbeit. Sie veröffentlicht regelmäßig Beiträge zu Kunst und Kultur im Jemen, unter anderen für Vice Arabia und Almadaniyamag.com.

Archive, antike Stätten, Ausgrabungen, Museen, Moscheen und Kirchen werden zerstört. Dies sind nur Beispiele, die das Ausmaß der Zerstörung des jemenitischen kulturellen Erbes andeuten. So fällt es Konfliktparteien leicht, das historische Gedächtnis zu manipulieren. Der Krieg im Jemen ist, wie jeder andere Konflikt auch, ein Krieg der Narrative. Um Anhänger zu mobilisieren, heben die jeweiligen Konfliktparteien Erinnerungen der eigenen Unterdrückung hervor und verzerren die Erinnerungen der anderen. Mit der Politisierung von Erinnerung werden immer auch Erinnerungen unterdrückt und zum Schweigen gebracht. Im Kern dieser Diskurse stehen die jemenitische Republik, die Beschaffenheit des jemenitischen Staates und die Identität der jemenitischen Nation.

Die Huthi, die seit dem Staatsstreich von September 2014 den Nordwesten des Landes beherrschen, setzen Schritt für Schritt ihre Vorstellungen von Staat und Gesellschaft um. Ihrer Tradition zufolge dürfen nur die Nachkommen des Propheten das Land regieren, die sogenannten Sayyids. Dies wurde im Jemen über Jahrhunderte so gehandhabt, bis eine Reformbewegung, inspiriert von Ereignissen in Ägypten, das Imamat der Sayyids 1962 stürzte und nach einem Bürgerkrieg die Republik ausrief. Die Republik wurde für viele zur Staatsräson, zum Gesellschaftsvertrag, eben das Versprechen, dass sich die Herrschaft aus dem Volk heraus legitimiert und nicht aus der familiären Abstammung vom Propheten. Für die Sayyid-Familien war dies ein Ausschluss, eine bittere Niederlage. Diese Revolution ist vor allen Dingen Teil der nordjemenitischen Geschichte.

Mareike Transfeld ist Leiterin der Forschungsabteilung am Yemen Polling Center, Doktorandin an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies und Associate Fellow beim Center for Applied Research in Partnership with the Orient (CARPO), Bonn.

Der Süden war zu dieser Zeit eine britische Kolonie. Nach dem Kampf für Unabhängigkeit in den 1960er Jahren entstand hier ein sozialistischer Staat. Diese historischen Meilensteine werden von den unterschiedlichen Konfliktparteien unterschiedlich interpretiert. Im Süden besinnt sich die Südbewegung auf ihre explizit andere Identität, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen fortschrittlicher als die des Nordens sei. So legitimiert sich ihr Anspruch auf einen unabhängigen Nationalstaat, der sich nun durch die Forderungen des Südübergangsrats ausdrückt. Der Nordjemen spricht dem Süden jedoch diese Identität ab, denn beide teilen ein und dieselbe Identität. Für den Norden ist die Vereinigung der zwei Jemen von 1990 ein Ereignis, das eine Nation zusammenbrachte, die natürlich zusammengehört. Für den Südjemen war die Vereinigung, die 1994 rückgängig gemacht werden sollte, etwas, das schließlich durch einen Bürgerkrieg erzwungen wurde.

Mit den jeweiligen Interpretationen mobilisieren die Kriegsparteien ihre Anhänger, diskursive Fronten verhärten sich, und ein Dialog wird immer schwieriger. In den sozialen Medien lässt sich beobachten, wie historische Ereignisse von Meinungsführern uminterpretiert und diskursiv gefestigt werden und so die Gesellschaft polarisiert wird. Jahrzehntelang lag das kulturelle und politische Erbe des Jemen in der Hand der Autoritäten, oft hinter verschlossenen Türen, und diente lediglich dazu, das autoritäre Regime des Präsidenten zu legitimieren. Im staatlichen Museum von Sanaa wird das Imamat als Schreckensherrschaft dargestellt, unter der Menschen auf brutalste Weise durch Enthauptungen hingerichtet wurden, und Präsident Saleh als Held der Vereinigung von 1990 gefeiert. Heute, unter der Herrschaft der Huthi, finden sich wieder Bücher über die Herrschaft der Imame in den Bibliotheken. Hier erinnern sich die Autoren daran, wie im Imamat – im Gegensatz zur Republik – hart gegen Korruption vorgegangen wurde.

Für Frieden und Versöhnung müssen Gesellschaften Erinnerungen, auch scheinbar widersprüchlichen Erinnerungen, einen Raum nebeneinander geben. Genauso wie Krieg ein Narrativ hat, braucht auch Frieden eines. Ein oft vernachlässigter Teil des Peacebuilding ist es, neue Narrative über den Krieg und seine Gewalt zu schaffen und die Geschichte neu zu interpretieren. Während die Geschichtsschreibung der Regime hegemonial ist, sind die Erinnerungen der Bevölkerung gegenhegemonial. Im Angesicht der Zerstörung des kulturellen Erbes ist es daher wichtig, jetzt Maßnahmen zu ergreifen, um Erinnerungen zu sammeln, zu schützen und frei zugänglich zu machen. Digitale Technologien können in diesem Kontext einen wichtigen Platz einnehmen, um Erinnerungen und damit das kulturelle Erbe eines Landes schützen, dessen Orte der Erinnerung zerstört werden und staatliche Institutionen kaum Ressourcen oder das Interesse haben, ebendieses Erbe zu schützen.

Bereits jetzt gibt es eine Vielzahl an Initiativen, die digitale Technologie einsetzen, um das Erbe des Jemen zu schützen. Einige westliche Universitäten beschäftigen sich mit der Bewahrung jemenitischer Manuskripte. Die Universität Leiden digitalisierte rund 150 Manuskripte aus der Zeit zwischen dem 17. bis 20. Jahrhundert; sie wurden der Öffentlichkeit im September 2020 im Rahmen des Projekts «Zaydi Manuscript Tradition» zur Verfügung gestellt. Unter dem Namen «Yemeni Manuscript Digitalization Initiative» wurden an der Universität von Princeton drei private Bibliotheken aus der Hauptstadt Sanaa dokumentiert und digitalisiert – insgesamt 236 Manuskripte zwischen 2010 und 2013.

Es gibt aber auch jemenitische Projekte. Das «Jemen-Archiv», eine unabhängige Plattform, die 2017 ins Leben gerufen wurde, hat sich auf die Digitalisierung und Veröffentlichung von literarischen Werken jemenitischer Autor*innen spezialisiert. Auf der Plattform werden Bücher, Enzyklopädien, Gedichte, Romane oder Biografien veröffentlicht. Das Projekt möchte diese Inhalte auch über eine Android-App zugänglich machen. Ein weiteres jemenitisches Projekt ist «Jamakaneh», ein Raum für digitales Erbe, der Objekte des Alltäglichen von Familien aus Sanaa digitalisiert. Das Projekt der Basement-Kultur-Stiftung archiviert Briefe, Fotos, Notizen, Illustrationen und Manuskripte. Außerdem ist die Romooz-Kunststiftung an der Digitalisierung von Journalen und Kulturzeitschriften aus den 1940er Jahren beteiligt.

Schon jetzt greifen junge jemenitische Künstler*innen auf dieses digitalisierte Erbe zurück und verarbeiten es neu in ihren Werken. Durch diese Neuinterpretation tragen die Künstler*innen auch zur Schaffung neuer Narrative bei und schaffen Identitäten, die über den aktuellen Kriegsdiskursen und den Gräben zwischen den Konfliktparteien stehen. Ein solches Beispiel ist die Plattform «Jemen Used to Be», in dem Künstler*innen altes Bildmaterial und Videos aufbereiten und dadurch zeigen, dass Jemenit*innen eine Geschichte reich an Kultur und Austausch haben und ihre Identitäten eben nicht nur in Gewalt wurzeln.

Gerade jetzt, wo Museen weltweit aufgrund von Corona-Lockdowns umdenken müssen und ihre Sammlungen oft online ausstellen, ergeben sich neue Möglichkeiten für jemenitische Projekte. Die Digitalisierung des kulturellen Erbes bedarf nicht nur technischen Knowhows, sondern interdisziplinären Wissens, das die Objekte sozial- und geschichtswissenschaftlich ein- und zuordnen kann. Hier gibt es über die Förderung von Projekten hinaus viele Anknüpfungspunkte für internationalen Austausch.