Interview | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Soziale Bewegungen / Organisierung - Krieg / Frieden - Nordafrika - Westasien - COP27 Nicht das Ende der Geschichte

Ivesa Lübben über die Zeit des Arabischen Frühlings und das, was davon blieb und bleiben wird.

Tahrir-Platz, Kairo, 2012
Tahrir-Platz, Kairo, 2012 Foto: Virginie Nguyen Hoang/Wostok Press/dpa

Dieses Interview ist in einer verkürzten Version Teil der «maldekstra #10», dem Auslandsjournal für globale Perspektiven von links.

Wo warst du, als der «Arabische Frühling» im Dezember 2010 in Tunesien begann, wie hast du den Beginn dieses revolutionären Aufbruchs wahrgenommen?

Am 17. Dezember 2010, als sich in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen Polizeiwillkür verbrannte, war ich in Deutschland. Die Tragweite des Ereignisses hat damals niemand wirklich wahrgenommen. In den meisten Nachrichtenagenturen ging die Nachricht zunächst unter. Ich selber habe mich damals vor allem mit Ägypten beschäftigt. Ich war gerade von einer längeren Forschungsreise aus Ägypten zurückgekommen. Dabei hatte ich mir auch die Parlamentswahlen, die dort am 5. Dezember stattgefunden hatten, angeschaut. Nie gab es so eklatante und offene Wahlfälschungen in Ägypten wie 2010. Zurück in Deutschland  hatte ich versucht, meinen Kolleg*innen an der Universität zu erklären, dass die Lage in Ägypten unglaublich explosiv ist. Ich war sicher, dass in den nächsten Monaten irgendetwas passieren würde. Es gab so  viele soziale und politische Widersprüche, die aufbrechen mussten. Viele fanden, ich übertreibe. Aber für mich war klar, dass es in Ägypten das gab, was man traditionell in der linken Theorie als eine «revolutionäre Situation» bezeichnet. Revolutionen entstehen ja nicht aus dem Nichts. Es gibt eine Verschärfung der Not, des Elends der unterdrückten Klassen, eine verstärkte Mobilisierung der Massen bei gleichzeitiger Unfähigkeit der herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in gehabter Form aufrecht zu erhalten. All diese Faktoren trafen auf Ägypten zu, was international wenig wahrgenommen wurde.

Ivesa Lübben war von 2017 bis 2020  Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis (Tunesien). Davor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) an der Universität Marburg.

Mit ihr sprach Kathrin Gerlof.

Die Revolution jedoch begann dann in Tunesien.

Richtig, Tunesien war der Auslöser. Aber Ägypten ist das zentrale Land, an dem man prototypisch viele Widersprüche aufdecken kann, die auch in anderen Ländern der Region aufbrachen - sowohl, was die Dynamik der Revolution, als auch die Rolle der Konterrevolution anbelangt.

Seit 2006 kam es in Ägypten immer wieder zu oft wochenlange Streiks, besonders in den großen Fabriken des Landes. Auslöser der Protestwelle war ein wilder Streik in der Textilfabrik in Mahalla al-Kubra im Nildelta, der größten Fabrik des Landes und einem Zentrum der ägyptischen Arbeiterbewegung, gewesen. Der Streik richtete sich gegen soziale Verschlechterung, gegen Privatisierung, gegen die Korruption des Staates und die Fälschung der Gewerkschaftswahlen durch die Staatsgewerkschaften und das Arbeitsministerium. Der Funke sprang dann  auf viele Regionen des Landes über. Seit 2008 bildeten sich überall unabhängige Gewerkschaften, die sich zu einem Koordinierungskomitee zusammenschlossen und für Anerkennung kämpften. Am 6. April 2008 stürzten die Arbeiter von Mahalla ein überlebensgroßes Bild des damaligen Präsidenten Hussni Mubarak, das den zentralen Platz der Stadt überragte. Das war in gewisser Weise, der erste symbolische Akt der Revolution.

Ich kann mich daran erinnern, dass 2010  neben den Streiks  überall in Kairo Protestcamps von Arbeiter*innen, Slumbewohner*innen, die modernen Bauprojekten weichen sollten, und von Bauern und Bäuerinnen, die von ihrem Land vertrieben worden waren, errichtet wurden. Teilweise campierten die Menschen  wochenlang  vor den Regierungsgebäuden. Dadurch nahm auch der urbane Mittelstand wahr, was in den Provinzen und Arbeitervororten im Land passiert. Niemand konnte mehr über das soziale Elend hinwegsehen. Diese Camps wurden später zur Blaupause für die Ägypter*innen, die zwei Wochen lang den zentralen Tahrir-Platz in Kairo besetzt hielten.

Parallel zu den Arbeiterstreiks formierten sich politische Bewegungen wie «Kafaya». Das Wort bedeutet: «Es ist genug». Diese Bewegungen wollten verhindern, dass Hussni Mubarak, der damalige Staatspräsident, bei den Präsidentschaftswahlen 2005 wieder kandidiert oder seinen Sohn Gamal Mubarak inthronisiert. Das meiste waren Cross-Over-Bewegungen, an denen Persönlichkeiten aus dem gesamte politische Spektrum von ganz links bis zu den Muslimbrüdern beteiligt waren. Diese Bewegungen gewannen ab 2010 erneut Auftrieb. 2011 standen die nächsten Präsidentschaftswahlen an. Und es war in Kreisen des Regimes ausgemacht, dass entweder Mubarak oder sein Sohn antreten werden.

Und dann gab noch die Bewegung der Richter, die sich gegen die Wahlfälschung wehrten und für rechtsstaatliche Prinzipien auf die Straße gingen. Hier muss man erwähnen, dass laut der damaligen Verfassung die Richter für die Durchführung und Beaufsichtigung der Wahlen verantwortlich waren. Für sie waren die gewaltsamen Eingriffe der Sicherheitsorgane in den Wahlprozess ein Affront gegen die Judikative. Über die Bewegung der Richter und ihre Kritik am autoritären Staat entdeckten auch viele einfache Menschen, dass sie Staatsbürger sind, dass sie legitime Rechte haben, dass ihre Stimme zählt und ihr Wunsch nach  Absetzung Mubaraks durch Wahlen auch juristisch legitim ist. Das führte zu einem enormen Politisierungsschub im Massenbewusstsein.

Auch die Jugend spielte zu der Zeit eine große Rolle.

Es gab in Ägypten Jugendbewegungen, die sich überwiegend aus dem gebildeten modernen Mittelstand nährten. Junge Menschen, die einfach die Nase voll von dem Mief im Lande waren; die sich nicht mehr entmündigen lassen wollten. Sie wollten ihr Land und ihre Zukunft kreativ und frei mitgestalten können. Ausgangspunkt dieser Bewegungen war der Kampf gegen das Monopol der staatlichen Studentengewerkschaft an den Universitäten. Diejenigen, die im Januar 2011 initiativ wurden kamen vor allem aus diesen Jugendnetzwerken, die ebenfalls aus allen politischen Spektren kamen. Gleichzeitig haben sich diese jüngeren Aktivist*innen über Altherrenstrukturen in den verschiedenen politischen Oppositionslagern hinweggesetzt.

Das sind aber auf den ersten Blick sehr voneinander getrennte soziale Schichten und Milieus – die Streikenden in den Fabriken, die Protestierenden an den Universitäten.

Diese Jugendaktivisten haben die Erfahrungen traditioneller Bewegungen wie «Kafaya» ausgewertet. Die wichtigste Lehre, die sie gezogen haben, war, dass sie sich mit den Arbeiterbewegungen verbünden und Massenhaft mobilisieren müssen. Das größte und bekannteste Jugendnetzwerk ist die «Bewegung des 6. Aprils». Sie spielte eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung der Demonstration am 25. Januar 2011, dem Auftakt der Revolution. Schon der Name steht für die Orientierung an der Arbeiterbewegung. Der 6. April ist das Datum des Arbeiteraufstandes in Mahalla al-Kubra. Den jungen Aktivist*innen war bewusst, dass man die politische Frage und die Demokratiefrage mit der sozialen Frage verbinden muss. Das kam auch in dem Slogan «Brot, Freiheit, Menschenwürde» zum Ausdruck. So kam es zu Kooperationen mit Arbeiter*innen und Bewohner*innen in Slumvierteln  sowie den Fußball-Ultras. Es war der Versuch, Klassenbündnisse zu gründen. Am Fehlen dieses Bündnisses waren die Proteste 2005 ja gescheitert.

Waren dies auch Kämpfe gegen neoliberalen Umbau in den Staaten, bei einem gleichzeitigen großen Demokratiedefizit?

Auf alle Fälle. Es gab einerseits traditionell in allen arabischen Ländern einen starken staatskapitalistischen Sektor, andererseits aber seit den 1990er Jahren auf Druck internationaler Finanzorganisationen wie dem IMF einen starken Druck hin zu neoliberalen Reformen. Die mündeten in Privatisierungen, Abbau von Subventionen und sozialen Rechten und in der Folge zu einer starken sozialen Differenzierung. Von den Privatisierungen profitierten Kräfte, die dem Regime nahestanden. Sie hatten Zugriff auf Staatsressourcen, die sie dann privat umleiteten. So entstand neben den traditionellen Staatsklassen eine neue Business-Elite – Crony-Kapitalisten, die ihren wirtschaftlichen Aufstieg ihren Beziehungen zur Staatsführung und nicht einer klugen Geschäftspolitik oder einer kreativen Idee für ein Start-Up verdankten. Beide Kapitalfraktionen gerieten bei der Konkurrenz um Ressourcen zunehmend in Widerspruch zueinander. Diese Entwicklung lässt sich übrigens in allen arabischen Ländern beobachten.

In Ägypten führte das bei den Parlamentswahlen Ende 2010 zu einem bizarren Phänomen. In vielen Wahlkreisen kandidierte je ein Vertreter der beiden Flügel der Regierungspartei. Wahlen hatte schon immer eine legendäre Tradition von Wahlfälschungen und waren auch immer extrem gewalttätig. Bei den Wahlen 2010 gab es jedoch die  größten und gewalttätigsten Auseinandersetzungen  zwischen diesen verschiedenen Lagern des Regimes. Man konnte förmlich beobachten, dass das herrschende Lager drohte, auseinanderzubrechen. Es war eine strukturelle Systemkrise.

Die Wirtschaftsliberalisierung führte nicht nur zu wachsender sozialer Ungleichheit, sondern zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen und infolge zu massiver sozialer Marginalisierung. Es gab immer mehr Menschen, die das System nicht mehr brauchte, die für die herrschenden Klassen «überflüssig» wurden. Statistisch drückt sich das in der extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit und dem wachsende informellen Sektor in allen Ländern der Region. In Nordafrika sind inzwischen über die Hälfte aller Beschäftigten im informellen Sektor beschäftigt – unterbezahlt, ohne Sozialversicherung, ohne Zukunftsperspektiven. In Tunesien z.B. gibt es ganze Provinzen an der Grenze zu Algerien und Libyen, die fast ausschließlich vom Schmuggel leben, weil es keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.  

All diese Faktoren – die Systemkrise, die sozialen Kämpfe, die Jugend, die die Nase voll hatte von politischer Marginalisierung – haben dazu geführt, dass die Situation explodierte.

Das gilt für alle arabischen Länder, egal, ob sie prowestlich waren oder sich auf eine Art Pseudo-Sozialismus beriefen, ob es Republiken handelte oder Monarchien, ob sie erdölreich oder nicht waren. Aus diesem Grund konnte der Funke, der in Tunesien begann, so schnell auf andere arabische Länder überspringen.

Es haben also gleichzeitig viele Menschen in verschiedenen Ländern erkannt, dass sie ohne die anderen nicht weiterkommen. Entstanden daraus neue, klassenübergreifende Bündnisse?

Das war sehr unterschiedlich von Land zu Land. Ich würde die These wagen, dass in der ersten Welle der «Arabellion» die Bewegungen dort erfolgreich waren, wo der Schulterschluss zwischen urbanen jugendlichen Mittelschichten und Arbeiterbewegung gelang, nämlich in Tunesien und Ägypten.

Anders als in Ägypten begann die Revolution in Tunesien in der verarmten Provinz, breitete sich langsam zunächst im Süden aus und erreichte erst in der letzten Phase die Hauptstadt. Wichtiger Träger waren hier von Anfang an lokale Gewerkschaftsbüros der Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale Tunisienne de Travail). In Tunesien gab es traditionell schon immer eine sehr starke Gewerkschaftsbewegung. Während der Zeit der Befreiungsbewegung hat sich die UGTT nie der bürgerlich geführten Bewegung unterworfen. Sie verstand sich stattdessen als gleichberechtigte Partnerin im Kampf gegen die Franzosen. Dieses kooperative Bewusstsein, unabhängig zu sein, auch in Zeiten der Diktatur, war ein wichtiger Faktor für das große Widerstandspotenzial der tunesischen Gewerkschaft. Schon 2008 kam es zu einem monatelangen Aufstand  im tunesischen Minengürtel (Phosphate), in der Provinz Gafsa, an der Grenze zu Algerien. Die Region ist ökologisch und sozial kaputt, das Wasser kontaminiert, die Felder verdorrt. Alle leben von der Bergwerkindustrie. Sie  produzieren den Reichtum, profitieren jedoch nicht davon. Die Profite fließen in die Küstenregion, dahin, wo die Elite des Landes herkommt. In dem Aufstand 2008 sehen viele Tunesier den Vorboten der Revolution. Auch während der Revolution 2010/11 stellten die lokalen Gewerkschaftseinheiten den Protestierenden ihre Infrastruktur zur Verfügung und halfen die Proteste landesweit zu vernetzen. Gleichzeitig reisten junge Aktivist*innen aus der Hauptstadt Tunis in die Provinz um über soziale Medien über die Protestbewegung zu berichten. Arbeiterbewegung und urbane Jugendbewegungen wuchsen in der Revolution zusammen.

Es gab in vielen anderen Ländern der Region Demonstrationen junger Aktivist*innen: in Algerien, Marokko, Libyen, Jordanien, Bahrein, Syrien. Aber in keinem dieser Länder gelang der Schulterschluss zur Arbeiterbewegung – obwohl es gerade in Algerien und Marokko seit den Nullerjahren eine starke Arbeiterbewegung gab.   

An der Frage arbeiten sich heute viele ab: Wieso ist, obwohl es so stark und hoffnungsvoll begann, ein wirklicher Aufbruch war, davon so wenig übrig ist, bzw herrschen. in so vielen Ländern heute desaströse politische Zustände? War dieses Scheitern in den Anfängen bereits enthalten?

Da muss noch viel analytische Arbeit geleistet werden, um aus einer linken Perspektive zu beurteilen, was alles schiefgelaufen ist. Ich glaube, die meisten haben in der Euphorie über den schnellen Sturz der Regime in Ägypten und Tunesien  die Macht der Konterrevolution unterschätzt. In Tunesien war der Sturz des alten Regimes vielleicht noch am einfachsten. Die Wirtschafts- und Staatsmacht konzentrierte sich in den Händen der Präsidentenfamilie Zine el-Abidine Ben Alis, oder korrekter gesagt in den Händen der Familie seiner Frau, den berüchtigten Trabulsis. In Tunesien gibt es keine  starke Armee, die eng mit der Wirtschaft verflochten ist und ihre eigenen Interessen verfolgt. In Tunesien konnte vieles positiv verändert werden – wenngleich die sozio-ökonomische Transformation hinter der politischen Transformation enorm hinterherhinkt, die Frustration in breiten Schichten der Bevölkerung wächst und die politische Elite vor allem mit internen Streitereien beschäftigt ist.

Aber in fast allen anderen arabischen  Ländern gibt es das, was Politologen als «Deep State» oder «tiefen Staat» bezeichnen. Das sind parallele, durch nichts legitimierte Machtstrukturen, die in einem rechtsfreien Raum agieren und eng mit wirtschaftlicher Macht verbunden sind oder wichtige Bereiche der Wirtschaft kontrollieren. Das kann die Armee sein, wie in Ägypten, wo sie alle Bereiche der Gesellschaft durchsetzt. Auch in Algerien gibt es die starke Armee, die trotz formal demokratischer Strukturen, Staatsapparat und Petro- Industrie kontrolliert. In Jordanien und Marokko zum Beispiel gibt es parallel zu Regierung und Parlament eine parallele Staatsstruktur in Form des königlichen Diwans um nur einige Beispiele zu nennen.

In der Euphorie des schnellen Abgangs von Mubarak haben viele nicht sehen wollen, mit was für einem starken, über Jahrzehnte erfahrenen Gegner man es zu tun hat und dass es nicht nur um den Sturz der Präsidentenfamilie, sondern um die Transformation des ganzen vom Militär und von Sicherheitsorganen getragenen Systems geht. Im Gegenteil – viele Aktivist*innen waren so naiv, in der Anfangsphase der Revolution im Militär einen Verbündeten zu sehen – zunächst gegen Mubarak und dann gegen die Präsidentschaft des Muslimbruders Mohammed Mursis. Hinter den Kulissen wurde das ägyptische Militär bei der Vorbereitung des Putsches von den Golf-Ländern, vor allem von den Vereinigten Emiraten und Saudi-Arabien, unterstützt. Diese Länder wollten verhindern, dass der Funke der Revolution auf ihre Länder überspringt. Denn selbst in den Golfländern gibt es Forderungen nach konstitutionellen Monarchien mit frei gewählten Regierungen. Auch die Macht der regionalen Verflechtungen dieser Gegner ist unterschätzt worden.

Drittens gab es nicht wirklich Konzepte für einen transformativen Übergang, die an den Realitäten ansetzen und zugleich über das System hinausweisen. Wie soll die demokratisch gerechte, soziale Gesellschaft aussehen? Wie kommen wir dahin? Wie können wir den Staatsapparat umgestalten und schrittweise die Macht des «Deep State» einschränken? Welche Bündnisse brauchen wir dafür? Welche Wirtschaftsreformen sind nötig, aber auch möglich?

Nach den gescheiterten Revolutionen sind diese Länder ja nicht auf den Status Quo zurückgegangen, stattdessen wurden und werden sie verheert. Krieg, Bürgerkrieg, Diktaturen, Abbau der Demokratie – ein dramatischer Rückschritt. Du hast drei Gründe dafür genannt. Welchen Anteil hat der sogenannte Westen an diesem Scheitern?

Natürlich muss man auch jedes Länderbeispiel für sich betrachten. Vor allem im ostarabischen Raum ist die Situation sehr verworren. Hier ist ein politisches Vakuum entstanden. Sowohl reaktionäre Regionalmächte, wie Großmächte konkurrieren darum, dieses zu füllen. Eigentlich fing das bereits 2003 mit dem Sturz des Saddam Hussein-Regimes durch die US-amerikanische Intervention an –also lange vor Beginn der Revolutionen. Interessanterweise hat gerade der amerikanische Erzfeind Iran davon profitiert, der als Nachbarland des Irak und als Schutzmacht der irakischen Schiiten – immerhin 60 Prozent der irakischen Bevölkerung – seinen Einfluss im Schatten der amerikanischen Intervention enorm ausdehnen konnte. Syrien ist durch den Bürgerkrieg enorm geschwächt. Die demokratische Opposition konnte durch die Brutalität des Regimes weitgehend zerschlagen werden. Das Regime kann sich nur noch mit russischer und iranischer Unterstützung halten, während bewaffnete Gruppen von der Türkei, den Saudis, den Kataris und den Emiratis unterstützte werden, die alle ihren Einfluss auf syrischem Territorium ausdehnen wollen. Auch die Großmächte,  v.a. die US-Amerikaner und die Russen, versuchen, auf dem Rücken dieser Revolutionen die internationalen Gleichgewichte zu ihren Gunsten zu verschieben.

In Europa sind die Revolutionen zwar bejubelt worden sind, es hat aber keine in sich konsequente Politik der Unterstützung von demokratischen Kräften gegeben. In den ersten Jahren der syrischen Revolution gab es verzweifelte Bitten von zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen um Unterstützung bei der Aufrechterhaltung von Infrastruktur und   Versorgungsstrukturen in den befreiten Gebieten. Diese Hilfe kam nicht, gleichzeitig haben salafistische Scheichs aus den Golfländern mit Millionen rumgespielt, und dazu gab es kein Gegengewicht. Die westlichen Länder sind immer schnell, wenn es darum geht, Milliarden  für militärische Intervention zu requirieren, wenn es aber darauf ankommt, die Zivilbevölkerung beim Aufbau demokratischer Strukturen zu unterstützen, stehen im Verhältnis dazu nur Kleckerbeträge zur Verfügung.

Ein anderer Fall ist Ägypten: Ich kann mich noch daran erinnern, dass nach dem Sturz des Mubarak-Regimes im Februar 2011 viele westliche Politiker nach Ägypten flogen und sich auf dem Tahrir-Platz mit jungen Aktivist*innen fotografieren ließen, darunter der britische Ministerpräsident David Cameron, die Außenbeauftragte der EU Catherine Ashton, die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton und der deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Nach dem Militärputsch in Ägypten zwei Jahre später machten die meisten Regierungen westlicher Länder – Europäer wie Amerikaner - einen politischen 180-Grad-Schwenk von der enthusiastischen Unterstützung der neuen Welle der Demokratisierung zu einem außenpolitischen Stabilitätsparadigma. Heute gelten Diktatoren wie der Ägypter Abdel Fattah al-Sisi wieder als Garanten westlicher Interessen, z.B. bei der Abwehr von Migrationsbewegungen oder als Verbündete im Kampf gegen den Iran oder gegen radikale Islamisten. Mit ihnen werden Milliardengeschäfte abgewickelt. Saudi-Arabien ist heute weltweit größter Importeur von Waffen. Ägypten ist auf Platz drei. Davon profitiert auch die deutsche Waffenindustrie.

Ich möchte noch einen weiteren problematischen Punkt westlicher Politik gegenüber den sogenannten arabischen Transformationsländern erwähnen, der besonders am Beispiel Tunesiens deutlich wird.  Das ist die Gleichsetzung von Demokratie und Marktfreiheit durch westliche Entwicklungsagenturen.  Wachsende soziale Ungleichheit und die Marginalisierung von immer größeren Teilen der Bevölkerung, sind ja gerade Ergebnis der Liberalisierung der Wirtschaft, die seit den 90er Jahren überall in der arabischen Welt auf Druck des Westens begann. Wenn jetzt von europäischen Regierungen – der deutschen eingeschlossen – noch mehr Markfreiheit z.B. in Form von Freihandelsabkommen, Privatisierung staatlicher Unternehmen und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gefordert wird, werden die sozialen Verwerfungen, die ja Auslöser der Revolutionen waren, nicht behoben, sondern verschärft. 

Es ist schwer, in die Zukunft zu schauen, wie ist deine Einschätzung: Wird es einen zweiten Arabischen Frühling geben? Was siehst du, wenn du heute hinschaust?

Ganz persönlich gesprochen: Es tut weh, wenn man verfolgt, was in Ländern wie Ägypten, Libanon, Syrien geschieht. Ich habe drei Jahre in Syrien und 16 Jahre in Ägypten und gelebt. Ich kenne persönlich viele Menschen, die heute im Gefängnis sind. Andere, die fliehen mussten

Andererseits braucht man aber eine gewisse analytische Distanz, um die Entwicklungen zu beurteilen. Und da bin ich gedämpft optimistisch. Das, was sich in der arabischen Welt abspielt, ist ein Prozess historischen Ausmaßes. Wir haben es in der gesamten Region mit einer Systemkrise der staatskapitalistischen Form von Rentenkapitalismus gepaart mit Fragmenten des Neoliberalismus zu tun. Diese Systemkrise ist systemimmanent langfristig nicht lösbar, sondern nur durch die Überwindung des Systems. Das ist ein langer Prozess.

Wir müssen uns angesichts der eigenen Geschichte die Frage stellen, wieviel Zeit in Europa von Beginn der Französischen Revolution bis hin zu halbwegs friedlichen, demokratischen, bürgerlichen Verhältnissen vergangen ist: Es gab immer wieder Rückschritte, Aufstände, Revolutionen und Konterrevolutionen, Kriege. Man muss ein wenig Abstand nehmen von der Vorstellung, dass Revolutionen einfach sind. Sie sind historische Prozesse, die viel Opfer fordern und manchmal Jahrzehnte  dauern. Ich glaube aber auch, dass die Gründe für die Revolution in der arabischen Welt und der Wille der Menschen, etwas zu verändern immer noch da sind. Seit 2019 sind wir Zeugen einer zweiten Welle der Arabellion im Irak, im Libanon, in Algerien, im Sudan. Das zeigt, dass der revolutionäre Umbruch in der arabischen Welt noch lange nicht vorbei ist. Und die Menschen haben aus den Erfahrungen der ersten Welle gelernt.