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Kultur als politischer Aktivismus

Information

Israels 13jährige Belagerung des Gazastreifens hat furchtbare Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung. Der wirtschaftliche Kollaps, die hohe Erwerbslosigkeit und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit für Personen wie für Waren führten zu außerordentlichen Härten im täglichen Leben. Die drei israelischen Militärangriffe der Jahre 2008/9, 2012 und 2014 hatten drastische Auswirkungen auf den Gesundheits- und Bildungssektor sowie die Wasser- und Stromversorgung. Trotz zahlreicher regionaler und internationaler Bemühungen um eine Entlastung des Gazastreifens und alternative Krisenstrategien bleiben die verheerenden Bedingungen bestehen, Menschenrechte werden weiterhin mit Füßen getreten.

Eine Reihe von UN-Berichten und Appellen hatte vor einer weiteren Verschlechterung der Situation gewarnt, etwa der Bericht des UN-Länderteams (UNCT) von 2012, in dem prognostiziert wurde, Gaza werde bis 2020 unbewohnbar sein. Für die Bewohner*innen des Gazastreifens war dies keine Schockmeldung, denn sie waren damals bereits zutiefst enttäuscht und misstrauten politischen Bemühungen, ja selbst internationalen Organisationen. Nun ist das Jahr 2020 vorüber, und sie stellen fest, dass die Ungerechtigkeit im Gazastreifen tatsächlich weiter anhält.

Neue Wege

Die palästinensische Jugend macht den größten Teil der palästinensischen Bevölkerung aus und ist insbesondere im belagerten Gazastreifen am stärksten von der politischen Realität betroffen. Ähnlich wie der «Arabische Frühling» von 2011 für junge Menschen in den arabischen Nachbarländern den Anlass zu einem kollektiven Erwachen und zur Gestaltung ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Realität gab, so kam es auch in der palästinensischen Jugend zu einem Paradigmenwechsel hin zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Angesichts ihrer außergewöhnlichen Umstände und insbesondere des stark polarisierten Verhältnisses der verschiedenen palästinensischen Fraktionen ging die Jugend von Gaza davon aus, dass die Kultur für sie das Tor zu Partizipation und politischem Engagement darstellen würde.

Kareem Abu Al-Roos, geboren in Gaza, ist ein palästinensischer Schriftsteller. Er erhielt seinen Master-Abschluss in Politikwissenschaften von der Saint Joseph Universität in Beirut, Libanon. Kareem ist Mitglied des Palästinensischen Schriftsteller*innenverbands und hat sowohl vor Ort als auch international mehrere Studien und Essays veröffentlicht. Zudem hat er den Roman A Drowning Man Doesn't Try to Survive («Ein Ertrinkender versucht nicht, zu überleben») veröffentlicht.

Daher war Kultur für die Jugend in Gaza ein erstes Instrument, um sich mit dem politischen System zu befassen, die nationale Versöhnung voranzubringen und durch nationale und internationale Aufrufe gegen die Abschottung vorzugehen. Diese neue, jugendliche Herangehensweise zielte darauf ab, von engstirnigem, vorurteilsbehaftetem Fraktionsdenken Abstand zu nehmen und die politische Spaltung sowie die geografische Isolation aufzuheben, um stattdessen auf die Erneuerung eines inklusiven nationalen Narrativs hinzuwirken. Die Jugendkultur sollte neue, unabhängige intellektuelle Räume als Alternative zu jenen herrschenden Mächten schaffen, die sich als unfähig zur Lösung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme erwiesen haben. So richtete die Jugend Räume für kulturellen Austausch ein und gründete Lesegruppen, zusätzlich zur Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit mit Angehörigen der Community, die sich bereits in zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen engagierten.

Kultur als Mittel politischer Mobilisierung

Die Belagerung des Gazastreifens hat die Bewohner*innen gezwungen, innerhalb enger geografischer Grenzen eine eigene Kultur hervorzubringen. Diese Kultur blieb jedoch weitgehend fragmentiert, in sich widersprüchlich und intellektuell voreingenommen; in ihr kamen negative Konzepte wie Unsicherheit, politische und gesellschaftliche Entfremdung oder auch die Abwesenheit individuellen Glücks zum Ausdruck. Im kulturellen und gesellschaftlichen Zerfall zeigte sich auch, dass die Regierungsbehörden von Gaza ihre Aufgaben nicht erfüllten, ganz zu schweigen von ihrem illegalen Vorgehen bei der Unterdrückung sozialer und persönlicher Freiheiten. Die Gesamtheit dieser Umstände hat im kollektiven Bewusstsein ein Opfernarrativ entstehen lassen, das extreme und radikale Denkweisen begünstigt. Die Jugendlichen waren dennoch in der Lage, Initiativen zu gründen und über soziale Medien einen Brückenschlag zur Außenwelt vorzunehmen; dies gelang in den meisten Fällen über zivilgesellschaftliche Organisationen. So sind im Gazastreifen Jugendgruppen wie etwa die «Bewegung 15. März» aus dem Jahr 2011 entstanden, die sich auf sämtliche palästinensische Gebiete ausgebreitet haben, stets mit dem Aufruf zur Beendigung der politischen Spaltung und zur nationalen Versöhnung.

Neue Orte der Jugendarbeit

Durch ihre kulturellen Bemühungen hat die Jugend auf indirekte Weise dem politischen Bereich zugearbeitet, ohne dabei mit einer der beiden politischen Fraktionen (Fatah und Hamas) in Konflikt zu geraten. Die kulturelle Arbeit der Jugendlichen hat sich auf das Narrativ der Besatzung, das Leben im Belagerungszustand und die dringenden, nach internationaler Hilfe verlangenden humanitären Anliegen in Gaza konzentriert. Die Jugend des Gazastreifens hat durch ihre Kultur also nicht nur ihre Erfahrungen, Träume und Botschaften gegenüber der Außenwelt zum Ausdruck gebracht, sondern auch ihre umfassenderen Ziele einer alternativen Vision und eines neuen politischen Diskurses geteilt. Schließlich entsprechen die Bestrebungen der Bevölkerung von Gaza nicht denen der Politiker*innen. Die Jugend von Gaza hat deutlich gemacht, dass sie ein würdevolles, sicheres Leben und Freiheit[1] einschließlich Bewegungsfreiheit will, außerdem mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, die Beseitigung der Armut, eine Lösung der Strom- und Wasserprobleme sowie Maßnahmen zur Bewältigung der Bevölkerungsdichte und ihrer Auswirkungen.

Kultur als Motiv zur Überwindung sozialer Frustration

Obwohl die kulturellen und sozialen Praktiken der Jugendlichen meist unabhängig, nicht finanziert und nicht institutionell angebunden waren, konnten sie der internationalen Öffentlichkeit die furchtbare Realität des Lebens unter Bedingungen der Belagerung und Isolation erfolgreich vermitteln. Das zeigt sich etwa an der Beteiligung von Frauen und Mädchen an Bewegungen, die mit Kampagnen in den sozialen Medien begannen und die dann auf die Straße gingen, um für Frauenrechte einzutreten, etwa für eine Anhebung des gesetzlichen Mindestalters beim Heiraten und für Maßnahmen gegen die Tötung von Frauen. Diese Kampagnen beinhalteten Konzepte, die emanzipatorischer waren als die in der Gesellschaft vorherrschenden. Kulturelle Praktiken spielten auch bei der Bewusstseinsbildung sowie bei der Herstellung gesellschaftlicher Rechenschaftsstrukturen eine bedeutende Rolle, denn sie boten in einer konservativen Gesellschaft wie der von Gaza einen Raum für die mutige Diskussion kontroverser Themen. In ihren Sitzungen und Diskussionsgruppen haben die Jugendlichen neue, informative und aufklärende Themen angesprochen, die bis dahin selten erwähnt wurden. Zu diesen Themen zählten beispielsweise: «Säkularismus und Religion», «Zwei-Staaten-/Ein-Staaten-Lösung aus palästinensischer Sicht», «Palästinensische Spaltung und Versöhnung» und «Auswirkungen der Belagerung auf die Wirtschaft und die Jugend».

Kultur als Instrument der Gleichberechtigung

Die Außenwelt weiß kaum etwas über Gaza, denn sie kennt nur jene Bilder der Zerstörung, der militärischen Angriffe und der Armut, die zwar alle die Realität vermitteln, aber auch andere Bilder überschatten. In der Zwischenzeit ist es den Jugendlichen durch ihre kulturellen Praktiken und die Nutzung sozialer Medien gelungen, die Initiativen, die Künste und das Wissen ihrer Community für die Welt greifbar zu machen und sich zugleich in wissenschaftliche, kulturelle und soziale Angelegenheiten einzubringen. Auch der technologische Bereich gehört zu denen, in denen sich die Jugend von Gaza an innovativen Projekten beteiligt und diese mitgetragen hat. All das hat eine Grundlage für die Kommunikation mit anderen Communitys geschaffen, und es hat die Jugendlichen ermächtigt, die Herausforderungen zu überwinden, vor denen sie in Gaza in jedem Lebensbereich stehen.

Soziale Medien als Instrument zur Wiederbelebung eines erloschenen Narrativs

Vom Rest der Welt getrennt, hat sich die Jugend den sozialen Medien gewidmet, um wieder eine Stimme zu haben und ihre Sache voranzubringen. Ihr Ziel war es, durch Nutzung ihrer Fähigkeiten und Kompetenz im Bereich der sozialen Medien die eigene Existenz unter Beweis zu stellen, um Themen anzusprechen, die sie für wichtig halten. Ein Beispiel dafür ist das 28 Magazine, das eine Plattform für sämtliche palästinensischen Jugendlichen geschaffen hat, damit diese durch Schreiben und über verschiedene künstlerische Formen kommunizieren und miteinander in Dialog treten können. Das 28 Magazine hat sich auch als Instrument erwiesen, gegen die herrschende Politik in Gaza zu protestieren.

Versuche, das gute Leben zu finden

In einer fremdbestimmten Realität wie der des Gazastreifens gibt es genügend Gründe zu verzweifeln, aufzugeben und sich zurückzuziehen. Eine solch negative, von Niederlagen bestimmte Perspektive vermag es jedoch nicht, die Alternative eines Lebens zu entwerfen, in dem die Menschenwürde und die Menschenrechte geachtet werden. Es ist zwar legitim, dass Menschen, die unter Bedingungen von Besatzung und Belagerung leben, ihren Kampf und ihre Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Doch stößt ein solches Sprechen auch an Grenzen. Als Reaktion auf solche Frustrationen entwickeln die Jugendlichen, entsprechend ihrer Vision hoffnungsvoller Perspektiven neue Instrumente und Herangehensweisen zur Überwindung von Besatzung und Belagerung sowie der qualvollen politischen Verhältnisse. Die Jugendinitiativen sind in dieser Hinsicht vielfältig: Einige konzentrieren sich darauf, sich an die internationale Öffentlichkeit zu wenden, andere darauf, kulturelle Inhalte zu produzieren, wieder andere darauf, nach tatsächlicher Veränderung zu rufen, die sich in Protest und direkter Opposition niederschlägt, aber stets auf der Grundlage informierter Äußerungen.

Einige Beispiele solcher Jugendinitiativen und Jugendbewegungen in Gaza:

Jugendräte: Nach dem Militärangriff auf Gaza 2014, der den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung und des Zivilschutzes nach sich zog, entstand die Idee, ein Team von Jugendlichen zu bilden, das in Notfällen und Krisensituationen Hilfe leisten könnte; später entwickelte sich die Zielsetzung dahingehend weiter, dass auch soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Fragen angegangen werden sollten. Die Jugendräte sind mit der «Save Youth Future Society» verbunden, der größten ehrenamtlichen Jugendorganisation im Gazastreifen, die in all seinen Gouvernements vertreten ist. Sie ist bestrebt, junge Menschen und Hochschulabsolventen für die Mobilisierung der Community, Bewusstseinsbildung und Kampagnenarbeit zu aktivieren. Die Jugendräte, die von den Jugendlichen selbst gewählt werden, stärken die Fähigkeiten und Fertigkeiten der jungen Menschen in verschiedenen Bereichen, einschließlich Bildung und Community-Arbeit.

Die Buchausstellung von Gaza: Diese wurde ins Leben gerufen, nachdem man es einer Gruppe junger Schriftsteller*innen aus Gaza verboten hatte, den Grenzübergang Erez zu passieren, um an der Internationalen Buchmesse von Ramallah teilzunehmen. Die jungen Schriftsteller*innen aus Gaza hätten auf der Messe ihre Bücher signieren und Preise (teilweise erste Preise) entgegennehmen sollen. Die Jugendlichen von Gaza beschlossen, für die Schriftsteller*innen die Ausstellung in Gaza zu organisieren. Zusätzlich zur Ausstellung von Büchern und Kunstwerken aus Gaza wurden auch drei Tage lang Seminare und Diskussionsveranstaltungen organisiert. Als die erste Veranstaltung dieser Art ist die Buchausstellung zum Bezugspunkt für weitere kulturelle Aktivitäten geworden.

Die «We-Want-to-Live»-Bewegung» von 2019: Nach dem Scheitern des nationalen Versöhnungsprozesses zur Beendigung des Fatah-Hamas-Konflikts, aber auch sämtlicher palästinensischer und internationaler Bemühungen um eine Beendigung der Belagerung, änderte die Jugend ihren Diskurs: Die sich verschlechternden Lebensbedingungen wurden Hamas angelastet, insbesondere nach der Einführung höherer Steuern auf Güter und Dienstleistungen. Insofern hat die Jugend auch ihre Prioritäten geändert. Sie hat, zunächst auf Facebook und dann auf der Straße, eine Bewegung gegen die Steuererhöhungen und für wirtschaftliche Verbesserungen sowie Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen ins Leben gerufen. Die Bewegung wurde jedoch gewaltsam unterdrückt, was die Jugendlichen veranlasst hat, eine Einheits-, keine Einparteienregierung zu fordern.

Fazit

Der UN-Sicherheitsrat hat mehrere Resolutionen zu Jugendlichen verabschiedet, etwa die von vielen Organisationen unterstützte Resolution 2250, die Regierungen dazu aufruft, Strategien zur Einbindung der Jugend in Entscheidungsprozesse zu entwickeln. Internationale Organisationen werden den Problemen und Forderungen der Jugendlichen jedoch bis heute nicht gerecht; das gilt insbesondere in dem von der israelischen Besatzung und seiner anhaltenden Belagerung geprägten Gazastreifen.

Trotz des begrenzten Interesses der palästinensischen politischen Autoritäten und trotz der unzureichenden Auseinandersetzung internationaler Organisationen mit Jugendfragen haben die Jugendlichen von Gaza ihre eigenen Versuche entwickelt, die Bedingungen, die sie zu ertragen haben, zu überwinden. Auch wenn diese Versuche kritisch gesehen werden können, so waren es doch vor allem sie, die dem politischen Engagement der Jugendlichen den Weg geebnet haben. Die Jugendlichen haben ihre Stimme erhoben und ihre Botschaft und Hoffnung auf eine freie, demokratische Gesellschaft mit der übrigen Welt geteilt. Sie haben auch die Verbindung zu Menschen außerhalb von Gaza gehalten und damit die anhaltende Beteiligung dieser Menschen an der neuen Stimme von Gaza ermöglicht. Ich denke, dass sich aus den Erfahrungen der Jugendlichen viel lernen lässt, da es diesen Jugendlichen trotz der in Zusammenhang mit der Besatzung erfahrenen Härten, trotz der Belagerung und der politischen Spaltung des Fatah-Hamas-Konflikts gelungen ist, die eigene Stimme hörbar werden zu lassen und nicht zu verzweifeln. Leider ist der Kampf, den sie um die Verwirklichung ihrer gerechten Forderung nach einem freien und würdevollen Leben führen, noch nicht gewonnen. 

[1] Gedanken- und Glaubensfreiheit, freie Meinungsäußerung, Freiheit eines intellektuellen, wissenschaftlichen und kulturellen Schaffens, das in der Lage ist, die Botschaft der Jugend (ohne Zensur) an die Außenwelt zu unterstreichen.