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Zum zehnten Jahrestag der syrischen Revolution

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Rabab al-Boutty,

Eine Gruppe von Männern bei Protesten in Aleppo 2013
Proteste in Aleppo 2013 Foto: Joud Hassan

Gestern Abend versuchte ich, meine Gefühle und Gedanken zur syrischen Revolution, die vor über zehn Jahren ihren Anfang nahm, in Worte zu fassen. Dann schickte ich den Text an meinen Freund, dessen kritische Meinung ich sehr schätze. Als er mich wenig später anrief, hielt er sich wie üblich nicht mit Höflichkeiten auf. Mein Text strotze nur so vor abgedroschenen Formulierungen, sagte er mir. Wo sollte ich sie auch hernehmen, diese nicht abgedroschenen Formulierungen? Was könnte ich schreiben, was nicht schon alle Syrerinnen und Syrer tausendmal gelesen haben? Was könnte ich noch erzählen, was nicht die ganze Welt schon weiß? Wenn ich über die Revolution rede, so färben sich meine Worte stets rot und tragen Trauer, außer wenn ich an ihre Anfänge denke, dann spricht der Stolz und der Überschwang dieser Zeit aus ihnen.

Erbärmlich erscheint mir mein Wortschatz angesichts meiner Gefühle und zu schwer die Buchstaben, wenn ich aus ihnen enge Sätze baue, in denen schlammige Flüchtlingslager und Fliegerbomben Platz finden müssen. Fliegerbomben... Flüchtlingslager... Diese Worte haben wir alle auswendig gelernt, diese und noch viele mehr! Warum kommen sie mir nur so schwer über die Lippen? Schwer wie das Gewicht des Todes auf meinen Schultern, das mir den Rücken krümmt. Gramgebeugt gehe ich durch die Welt ohne irgendetwas tun zu können. Ich kann die Revolution weder feiern, noch vorgeben, sie habe nicht stattgefunden. Sie ist eine unvollendete Revolution, mehr kann ich dazu nicht zu sagen.

Rabab al-Boutty ist eine syrische Aktivistin und Soziologin aus Damaskus. Nachdem sie wegen ihrer friedlichen Proteste vom Assad-Regime bedroht wurde, floh sie 2013 in die Türkei und später nach Frankreich, wo sie momentan in Paris lebt und im Bereich Kommunikation arbeitet.

Übersetzung: Mirko Vogel, Mahara

Letztlich ist es egal, ob ich die Revolution verehre, verfluche oder behaupte, es gäbe sie nicht. Sie hat mich verändert und diese Veränderung kann nicht rückgängig gemacht werden. Sie hat mich, meinen Verstand, mein Herz und meine Seele entzweigerissen, und keine dieser Hälften wird je ihre andere Hälfte treffen. Mein Innerstes ist ein Scherbenhaufen und ich bin erfüllt von Widersprüchen. Wie soll ich diese Revolution beschreiben? Sie ist Stolz und Trauer, sie ist die Unvollendete. Wie ein spurloser Duft, wie ein traumloser Schlaf. Wie alles zu verlieren, wenn man gerade alles zu gewinnen meint.

Wegen ihr ziehe ich mein Oberteil jeden Morgen falsch herum an und trinke ich meinen Kaffee mit Salz. Wegen ihr halte ich die Bücher kopfüber beim Lesen. Wegen ihr renne ich die Straße hinunter ohne jemals anzukommen. Sie macht, dass mir die Worte in der Kehle stecken bleiben, wenn ich singe. Wegen ihr weine ich mit trockenen Augen, und werde im Spiegel zu einem Scherbenwesen. Wegen ihr schlafe ich auf einem Nadelbett. Wegen ihr stirb die Rose in meiner Hand, kaum, dass ich sie gepflückt habe. Wegen ihr stürmen alle Ängste der Welt auf mich ein, wenn ich versuche zu lieben, nur um kurz darauf weiter zu ziehen.

Das sind Nichtigkeiten angesichts von Inhaftierung, Folter und Hungersnot, angesichts von Zeltstädten, Belagerung und Tod. Dennoch lebe ich als halber Mensch, als Fremde in einem fremden Land, in dem sich selbst die Fremden fremd sind. Gemein ist uns nur die Enttäuschung und die Zerbrochenheit, die unsere Gesichter zeichnet.

Vergessen

Seit einiger Zeit stelle ich fest, dass ich mich an Erlebnisse aus der Anfangszeit der Revolution nicht mehr erinnern kann. Ich vergesse die Namen und sogar die Gesichter. Ich vergesse die Demonstrationen, die Treffen und die Gespräche, obwohl einige Freunde nicht müde werden, sie mir ins Gedächtnis zu rufen. Ein gewaltiger Schreck durchfuhr mich, als ich zufällig auf einen Chat zwischen mir und einem jungen Mann aus dem Jahr 2011 stieß: Obwohl wir offenbar ineinander verliebt gewesen waren, hatte ich keinerlei Erinnerungen an ihn oder unsere Beziehung. Ob sie wohl in die Brüche gegangen war, weil unserer Erwartungen bei unserem ersten Treffen enttäuscht wurden, wie das so oft passiert, wenn man sich im Netz kennengelernt hat?

Über diese Frage dachte ich nicht lange nach, beschäftige mich doch eine andere: Wie konnte es sein, dass ich diese intensiven Gefühle, die aus unseren Worten sprachen, vollständig vergessen hatte? Und dass diese Worte, die ich ja selbst geschrieben hatte, keinerlei Erinnerungen bei mir auslösten? Kein Name, kein Gesicht, nichts. Gab es etwa eine zweite Person, die meine Seele und mein Herz für viele Monate meines Lebens in Besitz genommen hatte, so dass ich nun nichts von ihnen wusste? Wie kann eine junge Frau die Liebe vergessen, die sie für einen jungen Mann empfunden hat? Es ist, als hätte mein Verstand diese Liebesgeschichte gemeinsam mit andern Erinnerungen aus der Anfangszeit der Revolution in eine Truhe gesteckt, diese zugesperrt und in seinen hintersten Winkel geräumt. Weder kann ich die Truhe finden, noch hätte ich einen Schlüssel, sie zu öffnen.

Die zentralen Ereignisse des Aufstands gegen den Diktator, seine Familie und seine Parteigänger habe ich nicht vergessen. Ich habe nicht vergessen, wie sie uns jahrzehntelang in Totenstarre ausharren ließen, bevor sie begannen, uns wirklich umzubringen. Ich habe die Demonstrationen nicht vergessen, auch nicht die Hymnen und auch nicht die Wände mit den Parolen. Ich erinnere mich noch immer an die Massaker, an die Namen der Gefallenen und Gefangenen. Ich erinnere mich an das Weinen der Mütter auf dem Friedhof, wenn sie ihre Söhne und Töchter begruben –  oder das, was das Regime von ihren Körpern übriggelassen hatte. Ich erinnere mich an die hilflosen Schläge auf die Wangen regungsloser Gesichter, jedes Mal, wenn Asads Flugzeuge oder die seiner Unterstützer wieder ein Wohngebäude, ein Krankenhaus oder eine Schule in Schutt und Asche gelegt hatten. Ich habe das Geheul der Bomber noch immer in den Ohren, genauso wie die Einschläge der Raketen, die aus benachbarten Vierteln auf uns geschossen wurden. Ich erinnere mich noch an die angstverzerrten Gesichter der Kinder, die von Hunger und Kälte gezeichnet waren, und an den Abdruck ihres Leids in den Gesichtern der hilflosen, verzweifelten Eltern. Ich habe die Revolution nicht vergessen. Aber ich habe mich vergessen lassen, dass ich ein Teil von ihr war.

Der Fall von Aleppo

Auch nachdem ich Syrien im Jahr 2013 verlassen hatte, blieb die Revolution der Mittelpunkt meines Lebens. Nach all dem, was ich in ihren ersten beiden Jahren erlebt hatte, weigerte ich mich zu glauben, dass ich kein Teil mehr von ihr sei. Fast zwei Jahre lang tat ich nichts Anderes als über die Revolution zu schreiben, wobei ich die Gefühle, die sie mir geschenkt hatte, in all ihrer Widersprüchlichkeit immer wieder durchlebte. Es war als sei ich vor ihr nicht lebendig gewesen und würde es nach ihr nie wieder sein. Ich kann nicht genau sagen, wann sich der Teil meiner Seele, der für die Revolution brannte, in Asche verwandelte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nach der Einnahme von Aleppo geschah.

An dem Tag, an dem Aleppo fiel, war ich in Paris bei meiner Schwester. Während ich die Nachrichten verfolgte, war mir als würde mir das Herz aus der Brust gerissen. Meine Schwester entschied, ich müsse aus dem Haus um nicht in meinem Schmerz zu versinken, also gingen wir spazieren. Wir betraten eine auf einem Hügel gelegene Kirche, wo gerade eine Messe stattfand. Die Gläubigen trugen Kerzen durch den Kirchenraum und ihr liturgischer Gesang klang so traurig, als handele es sich um ein Begräbnis. Genau in dem Moment, als sie an uns vorüberzogen, passierte es. Meine Schwester und ich taumelten aus der Kirche und brachen draußen weinend zusammen. Wir hatten beide das gleiche Bild gesehen. Anstelle der Prozession der Gläubigen hatten wir die Prozession der aus Aleppo Flüchtenden vor Augen gehabt, wie sie sich an den Toten vorbeischleppen, die links und rechts des Weges liegen. Ich konnte den Schmerz nicht aushalten. Diese vernichtende Niederlage erschütterte mein Innerstes. Kannst Du Dir vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn Dein Traum vor deinen Augen stirbt? Wenn Dir die Seele aus der Brust gerissen wird von jenen, die Deinen Totenschein bereits vor langer Zeit ausgestellt hatten? Nachdem sie Dir den Tod versprochen hatten, haben sie ihr Versprechen nun eingelöst.

Vergessen war offenbar die einzige Strategie, die meinem Verstand in den Sinn kam, um mich zu schützen. Sonst wäre ich sicher an den höllischen Schmerzen gestorben. Ich musste vergessen, dass ich dort gewesen war. Ich musste vergessen, dass ich geträumt, gehofft, geliebt und gelebt hatte, für die Revolution und durch sie. Sie hatte uns die Liebe zum Leben entdecken lassen und dieses Geschenk hätten wir an unsere Kinder weitergeben können.

Ich musste alles vergessen, was ich gewollt hatte. Den Sieg dieser Revolution, der ich mein Herz, meine Seele und mein Leben gewidmet hatte. Ich war auf die Straßen gegangen, hatte Parolen gebrüllt, Hymnen gesungen und mich wie ein Fabelwesen gefühlt, dass sich in die Lüfte zu erheben vermag. Kannst Du Dir vorstellen, was ein Vogel fühlt, wenn ihm die Flügel ausgerissen werden?

Ja, es ist eine unvollendete Revolution. Und so lange sie nicht ganz ist, können auch wir nicht ganz sein. Verrückt vor Sehnsucht suchen wir nach unseren verloren Hälfen, die auf den Gesichtern der Gefangenen umherirren und sich mit ihnen krümmen, wenn sie unter Folter schreien. Wir werden zersplittert bleiben, solange unsere Revolution unvollendet bleibt. Erst wenn das Böse aus unseren zerstörten Häusern, aus unserem Land und aus jedem Land vertrieben ist, erst dann werden wir wieder ganz sein.