News | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Soziale Bewegungen / Organisierung - Libanon / Syrien / Irak «Die Regierung behandelt die Demonstrant*innen als ihre Feinde»

Interview with Nabaz Khalid zu den aktuellen Protesten in Irakisch-Kurdistan und zur Geschichte der Linken.

Proteste in Irakisch-Kurdistan in der 1990er Jahren
«Arbeiter*innen aller Länder vereinigt Euch!» Proteste in Irakisch-Kurdistan in der 1990er Jahren Foto: FB/Arbeiter*innenkommunistische Partei des Irak

Im Dezember 2020 gab es die letzte Welle von Protesten in Sulaimaniyya, die damit endeten, dass Sicherheitskräfte auch auf Demonstrant*innen schossen und es Tote gab. Welche Gründe gibt es für diese anhaltenden Proteste?

Nabaz Khalid: Für die Proteste werden oft ökonomische Gründe genannt, ganz praktisch ist das die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und die ausbleibende Zahlung von Gehältern. Allerdings sind die Demonstrationen nicht nur ökonomischer Natur. Besonders in linken Kreisen werden diese Demonstrationen oft zum Anlass genommen zu sagen, dass es sich um einen Klassenkampf handelt. Meiner Meinung nach gibt es einen anderen sehr wichtigen Grund für die Proteste, und das ist der Angriff auf die Würde der Menschen. Was bedeutet das? Sicherlich befinden sich einige Menschen in Europa auch in einer schwierigen ökonomischen Situation, aber es gibt immerhin Institutionen und ein System, das deine Rechte als Bürger*in schützt. Unser Problem hier ist allerdings, dass ich zum Beispiel gerade in Sulaimaniyya sitze und jederzeit Sicherheitskräfte in mein Haus kommen können, selbst, wenn wir hier zehn Menschen sind, und die könnten uns hinbringen, wo sie wollen. Keiner könnte uns finden, und es gäbe keine rechtliche Möglichkeit, dagegen vorzugehen.

Wir haben eine autoritäre, oligarchische Regierung. Diese Regierung erklärt uns immer wieder, dass es eine ökonomische Krise gibt. Aber keiner von uns versteht, was diese Krise sein soll und wie sie zustande gekommen ist. Normalerweise weiß man, dass z.B. Ölpreise schwanken und dass der Handel zurückgeht usw. Da aber die gesamte Wirtschaft in Kurdistan in den Händen von 6–10 Leuten ist, weiß niemand, was der Grund der sogenannten ökonomischen Krise ist. Man weiß nur, dass von dem Öl, das in die Türkei geht, kaum Profit nach Kurdistan zurückkommt. 70 Prozent des Profits gehen in die Türkei, und den Rest erhält die lokale Oligarchie.

Nabaz Khalid hat 1991 in Sulaimaniyya als Mitglied der radikalen Linken Räte aufgebaut und am Aufstand gegen die Baath-Diktatur von Saddam Hussein teilgenommen. Er lebt und arbeitet heute in Sulaimaniyya.

Nabaz Khalid interviewt hat Vian, eine kurdisch-irakische Politikwissenschaftlerin, sie lebt derzeit in Bagdad.

Ein weiteres Problem ist also, dass es keine Transparenz gibt. Gäbe es Transparenz, wüssten wir, was die Gründe unserer politischen Probleme sind und die Bevölkerung könnte tatsächlich teilhaben an politischen Prozessen im Land.

All diese Aspekte häufen sich und sind im Alltag spürbar. Eines der größten Probleme ist also die Würde der Menschen bzw. das Nichtvorhandensein der Menschenwürde. Natürlich ist dies eine Konsequenz der ökonomisch-politischen Probleme in Kurdistan, aber es ist eben nicht nur eine ökonomische Frage. Diese alltäglichen Erfahrungen führen regelmäßig zu Demonstrationen.

Dort zeigt sich immer wieder, mit welcher Leichtigkeit die Sicherheitskräfte Menschen umbringen. Wir haben fast keine Demonstration, bei der niemand getötet wird. Zuletzt starben zehn Menschen in Sulaimaniyya, es hat sich groteskerweise mittlerweile normalisiert. Die Regierung behandelt Demonstrant*innen als ihre Feinde und nimmt sich die Golfstaaten und auch Saudi-Arabien zum Vorbild.

Wenn du von der Regierung sprichst, meinst du die beiden Regierungsparteien KDP (Demokratische Partei Kurdistans), geleitet von Masud Barzani, und PUK (Patriotische Union Kurdistan/ Yekiti), die von dem mittlerweile verstorbenen Jalal Talabani gegründet wurde. Was ist ihre Antwort auf die Proteste? Wie positionieren sie sich?

Nabaz Khalid: Gewalt zur Durchsetzung von Herrschaft zu nutzen, ist ein Merkmal autoritärer Regierungen. Es zeugt davon, dass die Regierung weiß, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen ihre Politik ist. Die Gesellschaft in Kurdistan ist an einen Punkt gekommen, an dem sie der Regierung vor dem Hintergrund der Gewalt und der vielen Toten ihre Versprechen von Versöhnung und Reformen nicht mehr glauben kann.

Die Regierungsparteien sehen zur Durchsetzung und Erhaltung ihrer Macht nur die Anwendung von Gewalt, Einschüchterung und Diffamierung der Protestierenden als Spione und Unruhestifter. Natürlich ist es absurd, den Tod eines Menschen damit zu rechtfertigen, dass man ihn als Spion bezeichnet. Die Leute fragen sich auch, wie denn ein Fünfzehnjähriger ein Spion sein kann? Für wen soll er denn ein Spion sein? Die Regierung hat doch gute Beziehungen zum Iran – und zur Türkei sowieso. Die Beziehungen zu den USA sind hervorragend, sie haben sogar ihre Stützpunkte in Kurdistan, ihre Militärs laufen offen im Bazar herum. Also stellt sich für uns als Protestierende die Frage, wessen Spione sollen das denn sein?

Die Regierung stellt einfach Behauptungen auf, aber wir wissen, dass sie nicht stimmen und nur Instrumente ihrer autoritären Herrschaft sind. Das Problem ist allerdings, dass es keine echten politischen Alternativen gibt, das heißt, keine anderen Bewegungen oder Akteure, die die Unzufriedenheit der Menschen verstehen und politisch entsprechend handeln.

Kommen wir zur Rolle der Oppositionsparteien in Kurdistan. In Kurdistan haben sich verschiedene Oppositionsparteien wie die Gorran-Partei (Partei für Veränderung) und die Naway Nwe (Partei der neuen Generation) gebildet, zudem gibt es auch islamisch-kurdische Parteien. Wie stehen sie zu den Demonstrationen und wie sind sie involviert?

Nabaz Khalid: Die Oppositionsparteien agieren innerhalb der selben korrupten Logik, sie haben keinen transformativen Einfluss auf das System. Sie äußern sich in den Medien vielleicht manchmal kritisch zur Regierungspolitik, doch hat dies wenig Einfluss auf die tatsächliche politische Situation.

Die Oppositionsparteien haben auch nur wenig zu tun mit den Demonstrationen, die in diesen Tagen in Sulaimaniyya stattfinden, die sind selbstorganisiert. Beim letzten Mal zum Beispiel haben wir uns koordiniert und einen Tag vorher angekündigt, dass morgen eine Demo stattfinden wird. Es haben sehr viele Menschen teilgenommen, und die allermeisten von ihnen haben keine Verbindungen zu politischen Parteien.

Trotz alledem leben wir angeblich in einer Demokratie. Im Gegensatz zu Erbil und Dohuk, die sich unter Kontrolle der KDP befinden, gibt es in Sulaimaniyya zwar Meinungsfreiheit. Aber unter dem Motto: «Du kannst frei schreiben und sagen, was du möchtest, und ich als Regierung kann frei machen, was ich will.» Das heißt, in Sulaimaniyya kannst du heute gegen die PUK schreiben. Die PUK wird dich dafür nicht festnehmen. Sie wissen, dass du nicht organisiert oder Teil einer Organisation bist. Du bist für sie einfach ein Mensch, der viel redet, aber nichts in der Hand hat, und das ist uninteressant für die PUK. Das wird hier so als Demokratie verkauft.

Oppositionsparteien im Parlament können neue Gesetze beeinflussen oder ihre Macht im Parlament geltend machen. Was denkst du darüber?

Nabaz Khalid: Das Parlament hat in Kurdistan nicht viel Gewicht. Man würde zum Beispiel erwarten, dass die Parteivorsitzenden und wichtigen Parteimitglieder innerhalb des Parlaments vertreten sind. In Kurdistan halten es die politischen Entscheidungsträger innerhalb der Parteien nicht für nötig, in das Parlament zu gehen und dort politische Arbeit zu machen. Stattdessen schicken die KDP und PUK Leute in das Parlament, die innerparteilich keine wirklichen Entscheidungsspielräume haben und eher symbolisch im Parlament sind, anstatt Politik zu machen.