News | Soziale Bewegungen / Organisierung - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Andenregion Kolumbien im Ausnahmezustand

Ein Bericht über die aktuellen Proteste gegen die Steuerreformpläne

Generalstreik als Auftakt: Proteste am 1. Mai im Zentrum Calis Foto: Privat

Seit Tagen protestieren in Kolumbien große Teile der Bevölkerung gegen Steuerreformpläne der Regierung und für grundlegende sozialpolitische Veränderungen. Mancherorts sind sie dabei massiver staatlicher Repression ausgesetzt.

Am 28. April d.J. riefen soziale und politische Bewegungen in Kolumbien zum Generalstreik auf. Die zunächst friedlichen Proteste richteten sich gegen eine Steuerreform der Regierung unter Präsident Iván Duque, von der in erster Linie die Unter- und Mittelschicht betroffen wären; vor allem der Preis für Grundnahrungsmittel sollte steigen. Als nach dem ersten Protesttag bekannt wurde, dass zwei Demonstrierende infolge polizeilicher Repression gestorben waren, stieg die Anspannung auf den Straßen. Duque setzte die Sondereinheit der Polizei ESMAD und das Militär ein, um die Protestkundgebungen mit Wasserwerfern und Tränengas aufzulösen. Die Demonstrierenden wehrten sich mit der Blockade von Straßen und ganzen Städten. Durch diese Entwicklung tritt vorübergehend sogar die Corona-Pandemie, die im Land bereits über 75 000 Tote gefordert hat, in den Hintergrund.

Neben der Hauptstadt Bogotá nehmen die Proteste insbesondere in Cali immer mehr an Fahrt auf. Die drittgrößte Stadt des Landes im südlichen Departamento Valle de Cauca befindet sich de facto im Ausnahmezustand, der Straßenverkehr liegt aufgrund der Blockaden seit Tagen lahm. Aus diesem Grund wird Cali in sozialen Netzwerken als «Hauptstadt des Widerstands» bezeichnet.

Aus Sicherheitsgründen und wegen zunehmender Repression können die beiden Autor*innen dieses Textes nicht genannt werden.

Die Lage in der Stadt spitzt sich derzeit weiter zu. Militär- und Polizei-Hubschrauber kreisen rund um die Uhr über den Vierteln. Tränengas und Rauch hängen in der Luft, immer wieder sind Schüsse zu hören. Busstationen liegen in Schutt und Asche, ausgebrannte Busse stehen auf den Straßen, Banken wurden entglast und in den Automaten ist kein Bargeld mehr vorhanden. Geschäfte und Apotheken öffnen, wenn überhaupt, nur unregelmäßig, Lebensmittel werden knapp. Vor den wenigen offenen Läden bilden sich lange Schlangen. Viele Menschen bleiben in ihrer Wohnung und gehen gar nicht mehr auf die Straße.

Internationale Besorgnis

Besonders in der Kritik stehen die Menschenrechtsverletzungen seitens der Einsatzkräfte, denen laut der Nichtregierungsorganisation Temblores nach neun Protesttagen 37 Menschen zum Opfer fielen; die meisten starben durch Schusswaffengebrauch. Die Kommission für Verschwundene in Kolumbien beziffert die Zahl vermisster Personen im selben Zeitraum auf 379. Die kolumbianische Polizei hat am 3. Mai sogar eine Beobachtungsmission der Vereinten Nationen mit Schusswaffen angegriffen, wie die Vertreterin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juliette de Rivero, bestätigte. Ihre Kollegin Marta Hurtado schrieb: «Wir sind zutiefst beunruhigt über die Entwicklungen in Cali, wo die Polizei über Nacht das Feuer auf Demonstrierende eröffnete, wobei Berichten zufolge mehrere Menschen getötet und verletzt wurden. Unser Büro in Kolumbien arbeitet daran, die genaue Zahl der Opfer zu überprüfen und herauszufinden, wie es zu diesem schrecklichen Vorfall in Cali kam.»

Auf diesen Zwischenfall hin reagierte auch die internationale Öffentlichkeit. Am 4. Mai wandten sich auch die Europäische Union und verschiedene Menschenrechtsorganisationen gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Die progressive Puebla-Gruppe kritisierte die staatliche Gewalt und forderte Duque auf, das Recht auf friedlichen Protest zu respektieren. Die Organisation verurteilte auch den Waffeneinsatz der Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung als «rücksichtslosen und unverantwortlichen» Akt. Mehrere Abgeordnete des US-Kongresses regten an, die Militärhilfe für Kolumbien aufgrund der Menschenrechtsverletzungen einzufrieren. Am 6. Mai schrieben dann Bundestagsabgeordnete verschiedener Parteien einen gemeinsamen Brief an den kolumbianischen Präsidenten, in dem sie ihre Besorgnis über den unverhältnismäßigen Polizei- und Militäreinsatz zum Ausdruck bringen. Die Duque-Regierung wird dazu angehalten, das Recht auf Protest nicht mit Militärgewalt zu unterdrücken. Auch die UNO betonte, dass sich Ordnungskräfte stets an die Grundsätze der Legalität, Vorsicht und Verhältnismäßigkeit halten müssten. Schusswaffen dürften nur als letztes Mittel gegen eine unmittelbare Bedrohung des eignen Lebens eingesetzt werden. Die zahllosen Patronenhülsen und Videos in sozialen Netzwerken Kolumbiens sprechen jedoch eine andere Sprache.