News | Stenzig: Heinrich Vogeler und der Expressionismus. Weltanschauung, Kunst, Politik, Bremen 2021

War Vogeler ein kommunistischer Expressionist?

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Bernd Hüttner,

Beim Ende des Ersten Weltkriegs ist der 1872 in Bremen geborene Heinrich Vogeler fast 46 Jahre alt. Durch den Krieg hatte sich der bekannte Gestalter des Jugendstils bekanntlich individuell und politisch radikalisiert, auch wenn er ab ungefähr 1909 als Sozialreformer angesehen werden kann, da er u. a. Entwürfe für Arbeiterhäuser und eine Gartenstadtsiedlung angefertigt hatte.

Der Literaturwissenschaftler und Vogeler-Forscher Bernd Stenzig nimmt sich in seiner neuen Publikation Vogeler in der Zeit ab 1918 bis zu seinem Tod am 14. Juni 1942 an. Diese ist im Leben Vogelers und auch im Buch in mehrere Phasen zu unterteilen: die von 1918 bis zum Eintritt in die damals längst stalinisierte Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) Ende 1924 und die längere danach, die nochmals mit der Übersiedlung in die Sowjetunion im Sommer 1931 eine unumkehrbare Einkerbung erhält. Beide Abschnitte sind von einem jeweils spezifischen Verhältnis zwischen Kunst und Politik gekennzeichnet. Die Kunst wie auch die politische und individuelle Praxis Vogelers können nur im Zusammenhang und in ihrem Zusammenwirken verstanden werden.

Vogeler sucht in nahezu religiösem Ausmaß das Paradies. Zuerst konkret und im Tun in seiner Produktionskommune und Arbeitsschule Barkenhoffin Worpswede selbst, wo Leben, Politik und Kunst zusammenfallen sollen. Dieses Ideal scheitert sehr schnell. Ab 1925 bzw. 1931 tritt dann das Vaterland der Werktätigen und die dazugehörige Lehre des Marxismus an diese Stelle der Sinnstiftung; und das obwohl die KPD ihn 1929 schon wieder ausschließt. Schwerpunkt des Buchs ist aber die Worpsweder Zeit, in der der Barkenhoff, so Stenzig, «als der konsequenteste und prominenteste Versuch des von Gustav Landauer propagierten sofortigen ‚Austritts aus dem Kapitalismus‘ in der Weimarer Zeit gelten» (S. 129) kann.

Das Paradies ist in Vogelers idealistischen Vorstellungen eine anzustrebende «himmlische Ordnung» (S. 11), ein «Liebeskommunismus» (S. 7, 10). Dieser komme aber nicht von allein, sondern muss durch «werktätige (Nächsten)Liebe» (S. 8) in oder hin zu einer rätekommunistischen, «klassenlosen Gesellschaft» (S. 15) befördert werden. Einiges dessen, was Vogeler in dieser Periode schreibt, klingt naiv, hat organisch-biologistische wie ebenso anrührende utopisch-radikale Züge.

Offizielles Ende der Vogeler-Linie auf dem Barkenhoff ist im Dezember 1924, die Jahre vorher sind stark geprägt von Konflikten, persönlichen und politischen Zerwürfnissen und nicht zuletzt materieller Armut. Bereits 1923 / 24 ist Vogeler in der Sowjetunion unterwegs, unternimmt später noch drei Reisen dorthin. Von 1918 bis 1923, so Stenzig, der 1994 eine Bibliografie der Veröffentlichungen Vogelers vorgelegt hat (1), publiziert der Künstler – mit teilweisen Redundanzen – 13 Broschüren und 60 Artikel in Zeitschriften, hält unermüdlich Vorträge. Ab 1926 lebt er vollständig in Berlin. Die am Kubismus und Futurismus orientierten Komplexbilder mit politischen Motiven, die Vogeler zehn Jahre lang malt, sind alle abgebildet und werden einzeln besprochen. Ab 1937 stellt Vogeler gar nicht mehr aus, bzw. wird nicht mehr ausgestellt.

Vogeler verabschiedet sich in der Eigenwahrnehmung konsequent vom Expressionismus, nur um Jahre später selbst festzustellen, dass er mit seinen Komplexbildern «an expressionistischen Formen hängengeblieben» sei (S. 193–194). Das Buch enthält viel bereits Bekanntes, das es kurzweilig erzählt. Neuigkeitswert hat es v.a. in den zwei Kapiteln, in denen es tiefer und ausführlich in das Kunstverständnis und die Kunstproduktion Vogelers interpretierend einsteigt und z.B. die Komplexbilder in Relation zur Formalismusdebatte und zum ab 1935 in der Sowjetunion zur Doktrin gewordenen ‚Sozialistischen Realismus‘ bringt.

(1) Bernd Stenzig: Heinrich Vogeler. Eine Bibliographie der Schriften. Lilienthal: Worpsweder Verlag 1994.

Bernd Stenzig: Heinrich Vogeler und der Expressionismus. Weltanschauung, Kunst, Politik; Kellner Verlag, Bremen 2020, 248 Seiten, zahlr. Abb., Hardcover, 24,90 EUR

Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Expressionismus, Heft 13.