Interview | Parteien / Wahlanalysen - Cono Sur Eine neue Verfassung für Chile

«Wir wollen keinen grünen Kapitalismus»

Information

Camila Zárate Foto: privat

Soziale Bewegungen fordern die institutionelle Politik heraus: ein Interview mit Camila Zárate, die für die Lista del Pueblo (Volksliste) im Wahlkreis 7 (Valparaíso-Süd) in den neuen Verfassungskonvent einzieht. Sie ist Expertin für Umwelt- und Tierrechte. Das Interview wurde vor den historischen Wahlen am 15. und 16. Mai geführt, die die neoliberale Pinochet-Ära endgültig begraben. Mit 5,7 Prozent der Stimmen erzielte Zárate das zweitbeste Ergebnis in ihrem Wahlkreis. Ihre Liste kam auf 20,3 Prozent. Landesweit kam die Volksliste auf 24 der 155 Sitze.

Lesen Sie hier das Interview auf Spanisch

Camila, was ist Dein politischer Hintergrund?

Camila Zárate: Ich habe schon in der Schule angefangen, mich mit ökosozialen Themen zu beschäftigen. 2006 war ich bei den Schüler*innenprotesten dabei, der so genannten Revolution der Pinguine. Dann, an der Universität von Chile, war ich Teil des Studierendenzentrums und der Mobilisierung im Jahr 2011. Im Jahr 2012, als ich an den Uni von Santiago de Chile das Jurastudium abschloss, wurde die MAT (Bewegung für Wasser und Territorien, Anm. d. Red.) gegründet, die verschiedene territoriale, studentische, soziale und feministische Organisationen zusammenbrachte. Wir verknüpfen auf einer nationalen Ebene die Forderungen zur Aufhebung der Gesetze zur Wasserversorgung, zum Schutz von Gletschern, Feuchtgebieten und Urwäldern.

Wir bildeten eine große Bewegung, mit der wir am 22. März, dem Tag des Wassers, und am 22. April, dem Tag der Erde, demonstrieren. Dann war ich in Santiago Teil einer Organisation namens Red por la Defensa de la Precordillera (Netzwerk zur Verteidigung des Anden-Einzugsbereichs, Anm. d. Red.). Und seit 2017 bin ich eine der Sprecher*innen für die MAT in Valparaíso, wo ich jetzt meistens bin.

Die Kommunistische Partei mit dem aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten Daniel Jadue und die mit ihr verbündete linke Parteienkoalition Frente Amplio, die bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Dezember 2017 ein Fünftel der Stimmen erzielt hatte, ließen die Sozial- und Christdemokrat*innen der Regierungskoalition Concertación (1990-2010) zum ersten Mal hinter sich (28:25 Sitze). Die konservative Regierungskoalition Chile Vamos von Präsident Piñera wurde noch deutlicher als erwartet abgestraft und blieb mit 35 Sitzen klar unter der Sperrminorität von einem Drittel. Im neuen Verfassungskonvent sitzen zudem 17 Indigene und 81 Frauen.

Und warum kandidierst Du jetzt für die Verfassungsgebende Versammlung (VV)?

Als soziale Bewegungen wollen wir die neue Verfassung mitentwerfen. Die juristischen Kenntnisse, die ich habe, sind da praktisch. Aber vor allem hat das mit der sozialen Bewegung zu tun und damit, dass sich die Territorien vertreten fühlen. Es geht mir eher darum, ein Sprachrohr für diese Forderungen zu sein als eigene Vorschläge einzubringen. Wir standen immer im Dienst der Territorien und der communities, der Versammlungen, der Räte. Nach über zehn Jahren sind wir jetzt an einem Punkt, an dem wir wollen, dass sich diese großartigen Dinge, die wir aufgebaut haben, auch in der Verfassung widerspiegeln.

Du bist eine junge Kandidatin. Gibt es eine Altersgrenze für Mitglieder der VV?

Es gibt ein Mindestalter von 18 Jahren, was kritisiert wurde, weil hier die soziale Revolution von Oktober vor allem von den Schüler*innen ausging. Also sagten wir: Warum sollten jene, die über die Drehkreuze gesprungen sind, nicht auch die Möglichkeit haben, die neue Verfassung zu schreiben? Damit kamen wir aber nicht durch.

Wie und wann bekamen die feministischen Kämpfe mehr Raum in Chile?

Vor fünf Jahren gab es in Chile noch keinen Feminismus als Massenbewegung. Feministische Organisationen gab es schon immer, aber irgendwie gewinnt die Bewegung um 2018 an Kraft im universitären Bereich, als Studentinnen sich trauen, Professoren anzuprangern. Danach wird auch noch das Thema Care-Arbeit wichtig.

Zu dieser Zeit wurde die Coordinadora Feminista 8 de Marzo (die heute vier Kandidatinnen für die Verfassungsgebende Versammlung aufgestellt hat) gegründet, die diejenigen Organisationen koordiniert, die zu der Demonstration am 8. März in unserem Land arbeiten. Dies ist ein Ort, dem es auch gelingt, verschiedene Plattformen und feministische Organisationen zusammenzuführen. Zum Beispiel in Bezug auf die Entkriminalisierung von Abtreibung und gegen Gewalt gegen Frauen. Gleichzeitig gibt es die Plataforma Feministas Constituyentes, in der wir ebenfalls Genossinnen sind.

Was sind die Vorschläge, um eine neue Verfassung feministisch zu denken?

Innerhalb der Plataforma versuchen wir, ein gemeinsames Programm zu bilden, um die Kriminalisierung des Lebens von Frauen, Mädchen und LGBTQ+ zu beenden. Gleichzeitig sind wir vor allem Frauen, unabhängig von politischen Parteien. Wir wollen eine feministische Agenda mit Hilfe einer Verfassung durchsetzen, die in ihrer Auseinandersetzung mit Themen, die für unsere Bewegung und unsere Organisation wichtig sind, transversal ist. Und wir wollen verständlich machen, dass es uns nicht nur um die großen Forderungen der feministischen sozio-ökologischen Bewegung geht, sondern auch um die Beteiligung von Frauen, Mädchen und LGBTQ+ an der Ausarbeitung der Verfassung.

Das Interview führten Vanessa Dourado und Gerhard Dilger.

Vanessa Dourado ist Mitglied von Attac Argentinien und des Kollektivs Periódico Virginia Bolten. Gerhard Dilger ist Büroleiter der RLS in Argentinien.

Übersetzung: María Pereira Robledo und Derya Binışık

Welche Aspekte sind deiner Meinung nach wichtig, um sie in eine neue Verfassung zu integrieren?

Einer der Vorschläge ist die Beseitigung aller Formen von Gewalt, und was mit deren sexuellen Rechten zu tun hat – nicht nur über den eigenen Körper zu entscheiden, ob wir schwanger werden wollen oder nicht, sondern auch, wie wir aussehen wollen, das heißt, welche Körperformen wir haben wollen.

Diejenigen von uns, die sich als Ökofeministinnen verstehen, wollen auch jegliche Ausbeutung von Körpern und Territorien beseitigen. In den betroffenen Zonen, wo eine Gemeinde ihrer lokalen Ökonomie beraubt wird, wo Männer gezwungen werden, Teil derselben Unternehmen zu sein, die sie vergiften – wer muss dann letztendlich die Mobilisierung und die Verteidigung des Territoriums übernehmen und sich um die Kinder, die vergiftet wurden, um die Kranken, sogar um die Ehemänner selbst kümmern, wenn sie am Ende an Krebs erkranken? Wir sind es. Der Bergbau ist eine sehr maskulinisierte Ökonomie, in der wir Frauen am Ende oft nur die Rollen der Prostitution einnehmen.

Und wie lauten Eure konkreten Forderungen?

Wir kritisieren, wie der Extraktivismus nicht nur das Land ausbeutet, sondern auch die Körper, insbesondere die der Mädchen, Frauen und LGBTQ+. Die anti-extraktivistischen Forderungen und jene, Wasser und Saatgut zu entprivatisieren, um Nahrung zu haben, die unsere Körper auf gesunde Weise ernähren kann, das sind  zutiefst feministische Forderungen.

Wir verstehen Feminismus nicht nur als eine Frage in Bezug auf Frauenthemen, sondern sehen es vielmehr so, dass die feministische Perspektive alle Fragen der Prekarität des Lebens durchdringt, sei es am Arbeitsplatz, im Gesundheitswesen und in anderen Räumen, in denen Frauen Protagonistinnen sind und wir sind politisch organisiert, um die Spielregeln zu ändern.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit in diesem Verfassungsprozess? Wie arbeitet ihr zum Beispiel mit den verschiedenen indigenen Gruppen zusammen?

Das ist eine gewichtige Frage, denn zunächst müssen wir die politischen Unterschiede berücksichtigen. Es gibt eine Strategie, die darin besteht, einen plurinationalen Staat zu schaffen, der die verschiedenen Völker und Nationen mitberücksichtigt. Es gibt aber auch eine andere Tendenz, die darin besteht, nicht nur aus der Perspektive des Staates zu denken, sondern genau zu überlegen, wie wir territoriale Autonomie von Kontrolle und Selbstbestimmung ermöglichen, unabhängig davon, was mit dem Staat geschieht oder nicht geschieht. Beide Strategien müssen vorhanden sein.

Der Verfassungsprozess wird nicht nur durch diesen Wendepunkt konstruiert, den die sozialen Revolte ab Oktober 2019 einleiteten. Sondern es ist ein breiterer Prozess der Beratschlagung in den Territorien und Gemeinschaften, seit 2016 oder sogar schon vorher, als wir bereits einen Prozess von Versammlungen und Begegnungen begonnen haben.

Was sind die Forderungen der indigenen Völker?

Sie haben ihre eigene Strategie und sind selbst im Begriff eines konstituierenden Prozesses, weil sie etwas Neues schaffen wollen. Unter diesem Gesichtspunkt haben wir die Bewegungen in den Territorien sehr respektiert, die eine plurinationale Perspektive vorschlagen, nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch mit dem Gedanken an eine Vernetzung von Politik, Aktivitäten und Wissen der verschiedenen Völker und Nationen. Wir verstehen und respektieren die unterschiedlichen Strategien. Konkret wünschen wir uns, dass in der Verfassung nicht nur die Autonomie und Selbstbestimmung, sondern auch die unterschiedlichen Formen des Wirtschaftens, der Politik und sogar eigene rechtliche Strukturen der indigenen Gemeinden anerkannt werden.

In Chile gibt es eine historische Schuld, die nicht nur mit der Unterdrückung durch Regierungen zu tun hat, die den indigenen Völkern und Nationen den Krieg erklärt haben, sondern auch jene, die mit der territorialen Enteignung von Wasser und Land verbunden ist. Es muss Wiedergutmachung, Entschädigungen geben. Eine Anerkennung auf dem Papier in der Verfassung reicht nicht aus: Echte Selbstbestimmung und Plurinationalität müssen in die Praxis umgesetzt werden.

Auf Grundlage der sozialen Mobilisierung wurde festgelegt, dass es in der Verfassungsgebenden Versammlung reservierte Sitze für die indigene Bevölkerung geben würde. Es wurde jedoch festgestellt, dass diese zahlenmäßig nicht ausreichen und es gibt verschiedene Theorien darüber: Es gibt viele Leute, die gleichzeitig in politischen Parteien aktiv sind, die direkt darauf setzen, über eine unabhängige Liste eine Vertretung zu haben wie jede*r Chilen*in. Es wird interessant sein zu sehen, wer auf diese Art und Weise gewählt wird und welche Art von Strategie in der Debatte um die Verfassung verfolgt wird, ob es eine mehr territoriale Autonomie ist oder ob sie vom Staat ausgeht.

Gibt es Feministinnen in den indigenen Bewegungen?

Diese Prozesse sind nicht einfach. In einer bestimmten Strömung innerhalb der indigenen Völker gibt es die Überzeugung, dass Feminismus eine koloniale Praxis ist, die den Gemeinschaften aufgezwungen wird. Deshalb ist auch die Rechtfertigung verschiedener Formen des Feminismus interessant: Der postmoderne Feminismus ist nicht dasselbe wie ein Feminismus indigener Völker oder der aus den Territorien. Es gibt also auch Ansätze, bei denen die Gemeinschaft selbst diejenige ist, die sich in einen Prozess der feministischen Konstruktion begibt, aber aus ihren eigenen Praktiken und ihrem Wissen heraus.

Aber wir wissen auch, dass es in den indigenen Völkern noch patriarchale Praktiken gibt. Es gibt Nachrichten aus Rapa Nui, die uns schockieren, wo die mögliche Vergewaltigung von Frauen legitimiert wurde. Man kann also sagen, dass der feministische Kampf dort ein Prozess der Konstruktion ist.

Wie unterscheiden sich die ökosozialen und die feministischen Bewegungen im Vergleich zu den feministischen und ökologisch orientierten Kräften in den traditionellen Parteien?

Der erste wesentliche Unterschied besteht darin, dass das, was heute geschieht, eine politische und institutionelle Krise ist, und an dieser Krise sind alle Parteien beteiligt. Wir könnten nur die Parteien ausnehmen, die beim so genannten Friedensabkommen vom November 2019 nicht mitgemacht haben – ein Abkommen, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit unterzeichnet wurde, um die soziale Revolte zu beenden und das Geschehen in Chile, dieses Erwachen, zu besänftigen.

Die meisten Parteien haben innerhalb dieser Logik gehandelt: Bis hierhin und nicht weiter, ansonsten kommt der Militäraufstand. Ihre Logik war: Wir müssen etwas tun, sicherstellen, dass die Institutionen funktionieren und das bestehende System legitimieren, um weiter an der Macht zu bleiben. In gewisser Weise diente dies auch als Zwangsjacke für Sebastián Piñera, den wir alle zu seinem Rücktritt aufriefen. Mit der Unterstützung des Kongresses, der ebenfalls von den Bürger*innen in Frage gestellt wurde, wurde er in die Legitimationskrise der Macht hineingezogen. Aus demselben Grund sind also am Ende alle Teil dieser Komplizenschaft. Und deshalb gibt es eine totale Delegitimierung.

Wie siehst Du die Möglichkeiten der Beteiligung am Prozess?

Heute haben die Bürger*innen nicht das Gefühl, dass sie Entscheidungen treffen können, da die Demokratie völlig eingeschränkt ist. Hier gibt es keine verbindlichen Plebiszite, die einzige Möglichkeit eines Plebiszits ist sehr eingeschränkt: Sie steht in der Verfassung und ist für den Fall, dass der Präsident der Republik auf einem Gesetzentwurf bestehen will, der im Parlament nicht durchkommt. Hier gibt es auch keine Möglichkeit von widerrufbaren Mandaten. Nicht einmal mit Sebastián Piñera, der sehr niedrige Zustimmungswerte hat. Da es keine Werkzeuge gibt, bleibt er an der Macht.

Es gibt auch keine gesetzlichen Volksinitiativen: Wir könnten ein wertvolles Projekt von den Versammlungen aus initiieren, die die Kampagne gegen die chilenischen Pensionsfonds (AFP, Anm. d. Red.) anführen würden, und das bliebe wirkungslos, weil es dafür keinen Platz gibt. Es gibt auch kein institutionelles Instrument, um dies dann zu verwirklichen.

Das ist der Grund, warum es eine totale Unzufriedenheit in der Bevölkerung gibt: Weil es keinen Raum dafür gibt und sich auch keine Lösung in der Diskussion abzeichnet, weil die politische Klasse nicht nur sich selbst schützt, sondern auch die Unternehmer – ein Akteur, der Armut erzeugt. Wir haben gesagt, dass wir uns aufstellen werden, wie wir es immer getan haben: Ausgehend von den sozialen Bewegungen mit Autonomie und parallel zu dem, was mit den politischen Parteien passiert.

Wir wollten es von einer unabhängigen Liste aus machen, mit allem, was das bedeutet. Also Treffen an Weihnachten, Silvester, aber in letzter Minute ließen sie uns fallen. Das Gute daran ist, dass die sozialen Netzwerke uns unterstützt haben und wir es geschafft haben. Meine Kandidatur hatte mehr als viertausend Unterstützer*innen aus dem Distrikt 7, der Valparaíso umfasst. Das wurde erreicht, weil die Menschen sich politisiert haben und auf dem Stimmzettel unabhängig wählen werden. Und natürlich sind wir auch programmatisch und inhaltlich anders. Wir setzen nicht auf einen grünen Kapitalismus oder eine freundlichere Version des Kapitalismus, sondern wollen uns in Richtung einer postextraktivistischen Ökonomie bewegen.