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Die Kampfhandlungen um die Kontrolle von Rohstoffen im Norden des Jemen führt zu einer neuen humanitären Krise

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Jakob Reimann,

Grafische Karte vom Gebiet Jemens
Das Gouvernement Marib steht als einziges Territorium im Nordjemen noch nicht unter Kontrolle der Huthi-Milizen. CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons

Am 6. Juni wurden bei einem Raketenangriff der Huthi-Rebellen auf eine Tankstelle in Marib in Zentraljemen 17 Zivilist*innen getötet, darunter ein fünfjähriges Mädchen, wie lokale Behörden und Regierungsmedien berichten. Die Huthis behaupten, sie hätten ein Militärlager angegriffen, ein hochrangiger Funktionär erklärte, die Gruppe begrüße eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls. In seinem jüngsten Briefing vor dem UN-Sicherheitsrat erklärt der UN-Sonderbeauftragte für den Jemen, Martin Griffiths, «bedauerlicherweise» seien seine «verstärkten Anstrengungen» zur friedlichen Beilegung des über sechs Jahre währenden Jemenkriegs weiterhin erfolgslos. Vielmehr müsse Griffiths von der «erbarmungslosen militärischen Eskalation durch Ansar Allah in Marib berichten» (unter Verwendung der Eigenbezeichnung der Huthis).

Das Herz der Öl- und Gasproduktion

Nach den Protesten des «Arabischen Frühlings» 2011 und dem Sturz des langjährigen Diktators Ali Abdullah Saleh 2012 brachten die Huthis ab 2014 – teils blutig, teils unblutig – die am stärksten bevölkerten Landesteile des Jemen im Norden und Westen unter ihre Kontrolle. Marib ist das einzige Territorium im Nordjemen, das nicht unter Kontrolle der Huthis steht, und seit Februar fahren die Rebellen ihre über einjährige Offensive zur Eroberung des Gebiets massiv hoch. Das Gouvernement Marib ist das Herz der jemenitischen Produktion fossiler Rohstoffe. Es hat die größten Gasvorkommen und neben dem Masila-Becken im Südosten die zweitgrößten Ölvorkommen des Landes. Über die längste jemenitische Pipeline wird Erdöl zum Rotmeerhafen Ras Isa gepumpt, und die einzige Pipeline zum Gasexport führt von Marib nach Balhaf am Golf von Aden.

Jakob Reimann hat Chemie in Dresden studiert und danach in Palästina, Israel und verschiedenen Ländern in Osteuropa gelebt und gearbeitet. Als freier Journalist und Autor schreibt er für verschiedene linke Medien über Krieg und Frieden in Westasien und Nordafrika, speziell zum Jemen.

Der Jemen verfügte in den 1990er Jahren über eine durchaus beachtliche Ölproduktion, hatte seinen Peak Oil um die Jahrtausendwende, wurde 2013 schließlich zum Nettoimporteur und fördert mittlerweile so wenig Rohöl wie Deutschland oder Trinidad und Tobago. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 23 Milliarden US-Dollar 2019 – weit unter einem Prozent des deutschen – stellen die spärlichen Öl- und Gasexporte dennoch den mit Abstand größten Anteil jemenitischer Exporte. Die Erlöse machen den größten Posten in den öffentlichen Haushalten aus. Die Kontrolle über Maribs Energiereserven ist somit potenziell kriegsentscheidend, und die aktuelle Offensive stellt die folgenschwerste Entwicklung des Krieges seit der Rückereroberung der wichtigsten Hafenstadt Hudeida 2018 dar.

Militärisches Patt

In der Marib-Offensive kämpfen die Huthis gegen jemenitisches Militär – das maßgeblich von Luftschlägen der Saudi-Emirate-Koalition unterstützt wird – sowie verschiedenste Stammesmilizen, darunter Gruppen, die al-Qaida nahestehen, und den sogenannten «Islamischen Staat». 2020 nahmen die Rebellen bereits den wichtigen Nihm-Distrikt an der Grenze zu Marib ein und stießen auch ins nördlich davon gelegene Gouvernement al-Jawf vor, erklärt Faraj Al Matari, Direktor der Hilfsorganisation Yemen Friends in einem Interview (Interview mit dem Autor am 30. Mai 2021). Die NGO ist in der rund 30 Kilometer vom Gouvernement Marib entfernten Landeshauptstadt Sanaa aktiv. Zu Beginn der Großoffensive im Februar 2021 eroberten die Huthis strategisch wichtige Gebirgszüge um den Mount Kawfil und im Serwah-Distrikt, so dass sie derzeit in Zermürbungskämpfen wenige Kilometer vor Maribs Stadtgrenzen verstrickt sind, so Al Matari weiter. «Seit über einem Monat konnte keine der Parteien Fortschritte oder das Durchbrechen feindlicher Stellungen erreichen», beschreibt Al Matari die gegenwärtige Pattsituation der Marib-Offensive, die er als die «entscheidende Schlacht» des Krieges bezeichnet. Sich dieser kriegsentscheidenden Natur der Kämpfe bewusst, schlug die saudische Führung bereits Ende März eine landesweite Waffenruhe vor, die auch vereinzelte Lockerungen der umfassenden Blockade des Landes beinhaltete, wie die Teilöffnung des Flughafens von Sanaa. Die Huthis lehnten ab, da der Vorschlag «nichts Neues» enthalte, und blieben als Bedingung für einen Waffenstillstand bei ihrer Forderung der vollständigen Aufhebung der Luft- und Seeblockade des Landes.

Es gibt keine objektiv überprüfbaren Opferzahlen der Marib-Offensive, doch sprach die jemenitische Regierung bereits Ende April von 2.000 getöteten Huthi-Kämpfern sowie 1.800 Todesopfern unter Regierungstruppen und alliierten Stammesmilizen. Al Matari macht auf einen weiteren zentralen Punkt aufmerksam: «Die humanitäre Krise in den Geflüchtetenlagern verschärft sich jeden Tag.» Denn Marib galt lange Zeit als sicherer Rückzugsort für Binnengeflüchtete aus allen Teilen des Landes.

Die nächste Krise

Marib blieb von den Gräueln des Krieges lange Zeit weitestgehend verschont. 2017 nannte die New York Times die Stadt eine «Insel relativer Ruhe» und beschrieb eine florierende Wirtschaft und gänzlich «neue Nachbarschaften, die sich aus dem Sande erheben». Es wurden eine neue Universität und ein Fußballstadion gebaut, mit importiertem Rasen aus Deutschland. Hunderte Firmen siedelten sich an, Malls werden gebaut. Vom «Terrornest zur De-facto-Metropole des Landes, vom Kaff zur Boomtown», beschrieb auch der Spiegel den rasanten Aufstieg Maribs während des Krieges ab 2015. Ein zentraler Motor dieses beispiellosen Aufstiegs ist die Ausbeutung der Arbeitskraft der nach Marib Geflüchteten. Der überwiegende Teil der 4,3 Millionen seit März 2015 Vertriebenen ist im eigenen Land auf der Flucht; nur ein Bruchteil schafft es in umliegende Länder oder gar nach Europa. In Marib fanden laut UN rund eine Million Menschen Zuflucht, während andere Quellen von bis zu zwei Millionen sprechen – was bei einer Gesamtbevölkerung des Gouvernements von 288.000 im Jahr 2011 einer Vervielfachung der Bevölkerung entspricht.

Die Geflüchteten leben in den rund 140 Lagern der Region, darunter das Al Jufainah-Camp, das größte seiner Art in ganz Jemen, in dem über 40.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen ausharren müssen. Allein in den letzten Monaten wurden in Marib 31 neue Camps errichtet. Die meisten Geflüchteten leben in vollkommen überfüllten Zeltlagern, zumeist ohne jeden Zugang zu sanitären Anlagen oder medizinischer Betreuung. Hunger grassiert ebenso wie Cholera und Corona. Hinzu kommen Wetterextreme, so verwüsteten im April und Mai sturzflutartige Regenfälle mehrere Geflüchtetenlager in Marib. Allein im Al Suwayda-Camp wurden die Unterkünfte von 1.803 Familien teils vollständig von den Fluten zerstört.

Doch neben der seit Jahren anhaltenden Misere in den Camps in Marib bricht sich seit Beginn der Huthi-Offensive eine ganz neue Krise Bahn. 25.000 Menschen sind seit Februar bereits vor den Kämpfen aus Marib geflohen, erklärte UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock Mitte Mai in einem Briefing gegenüber dem UN-Sicherheitsrat. «Doch wenn die Kämpfe nicht aufhören, befürchten Hilfsorganisationen, dass in den kommenden Monaten bis zu 385.000 Menschen vertrieben werden könnten.»