News | Mexiko / Mittelamerika / Kuba Kein Absturz, aber ein empfindlicher Schuss vor den Bug

Die Zwischenwahlen in Mexiko bedeuten trotz Gewinnen der Regierungspartei Morena in vielen Bundesstaaten auch einen Dämpfer für Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador

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Gerold Schmidt,

Eine Frau hält einen Probe-Stimmzettel für die Zwischenwahlen im Juni 2021 in Mexiko ins Bild. Mit Hilfe der Probe-Stimmzettel wird das Wahlverfahren erklärt. Bild: Maria Ruiz. Pie de Página.
Eine Frau hält einen Probe-Stimmzettel für die Zwischenwahlen im Juni 2021 in Mexiko ins Bild. Mit Hilfe der Probe-Stimmzettel wird das Wahlverfahren erklärt. Bild: Maria Ruiz. Pie de Página.

Mitten in der sechsjährigen Amtszeit des jeweiligen mexikanischen Präsidenten – das Land wartet noch auf sein erstes weibliches Staatsoberhaupt - finden Zwischenwahlen statt. Die vom 6. Juni 2021 waren die umfangreichsten, die es bisher im Land gab. Ihr Ausgang hat die politische Landkarte Mexikos stark verändert und wird erhebliche Auswirkungen auf die nationale Politik der kommenden drei Jahre haben. Die sich als links, anti-neoliberal und besonders der armen Bevölkerung zugewandt verstehende Regierung von Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, behauptete sich. Dennoch kann sie nicht so weitermachen wie bisher, da sie im Parlament ihre bisherige absolute Mehrheit verlor. Die Zwischenwahlen werden auch Machtverschiebungen innerhalb des Regierungsblocks nach sich ziehen.

Neben der Neuwahl des Bundesparlamentes wurden in 15 der 32 mexikanischen Bundesstaaten einschließlich der Hauptstadt die Gouverneur*innen neu gewählt. Dazu auch 30 der 32 Lokalparlamente. In weit mehr als tausend der 2 457 mexikanischen Landkreise bestimmten die 93,5 Millionen Wahlberechtigten zudem die Bürgermeister*innen neu. Nur der mexikanische Senat stand nicht zur Wahl. Trotz zahlreicher lokaler und regionaler Besonderheiten war die Abstimmung vor allem das Votum über einen Mann, der gar nicht auf dem Wahlzettel stand: Präsident AMLO.

Die regierende Morena-Partei der Nationalen Erneuerungsbewegung (Movimiento de Regeneración Nacional) trat auf Bundesebene und in vielen Bundesstaaten im Bündnis mit der Arbeiterpartei PT (Partido del Trabajo) und der Grün-Ökologischen Partei PVEM (Partido Verde Ecológico de México) unter dem Namen «Gemeinsam Schreiben wir Geschichte» (Juntos Haremos Historia) an. Ihr stand im Wesentlichen die Allianz «Für Mexiko» (Va Por México) gegenüber. Diese besteht aus den großen Oppositionsparteien der konservativen Partei der Nationalen Aktion PAN (Partido Acción Nacional), der Institutionellen Revolutionären Partei PRI (Partido Revolucionario Institucional) sowie der inzwischen fast zur Bedeutungslosigkeit geschrumpften Partei der Demokratischen Revolution PRD (Partido de la Revolución Democrática). Ansonsten spielte vor allem regional nur die Bürgerbewegung MC (Movimiento Ciudadano) eine erwähnenswerte Rolle.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die mexikanische Bevölkerung ist nicht bereit, AMLO und Morena eine noch vor Monaten erhoffte qualifizierte, verfassungsändernde Mehrheit im Parlament anzuvertrauen. Ein bedeutender Teil der Mittelschicht, die bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu AMLOs Erdrutschsieg beitrug und in seinem Fahrwasser Morena zur Mehrheitspartei machte, hat sich zumindest vorübergehend vom Präsidenten bzw. dessen Partei abgewandt. Andererseits scheint das Oppositionsbündnis aus PAN, PRI und PRD, dessen Programmatik sich bei diesen Wahlen allein auf die Gegnerschaft zu AMLO reduzierte, nur geschlossen in der Lage, die Regierungspartei zu besiegen.

Rückschlag für Morena im Abgeordnetenhaus

Vor drei Jahren erreichte Morena im Parlament mit 253 der 500 Abgeordnetenmandaten eine eigene absolute Mehrheit – nachdem die immer auf der Seite des Siegers stehende PVEM kurzfristig ihr damaliges Bündnis mit der PRI aufkündigte, zu AMLO überschwenkte und damals fünf ihrer sechzehn Abgeordneten zu Morena wechselten. Zusammen mit den weiteren Verbündeten im Parlament kam die Regierung ganz nah an die für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit von 334 Stimmen. Mehrfach gelang es ihr, die wenigen restlichen Stimmen von Oppositionsabgeordneten zu bekommen. Nun ist sogar die eigene absolute Mehrheit weit weg. Aufgrund erwarteter Anfechtungen einzelner Mandate wird die genaue Sitzverteilung im Bundesparlament voraussichtlich erst im August endgültig entschieden.

Sicher ist jedoch: Wenn im September das Abgeordnetenhaus in neuer Zusammensetzung die Legislaturperiode beginnt, wird Morena nur noch mit knapp unter 200 Abgeordneten vertreten sein. Da die Verbündeten PVEM und PT bei knapp über beziehungsweise knapp unter 40 Mandaten liegen werden, sind Stimmen beider Fraktionen für die absolute Mehrheit notwendig. Zudem fragten sich noch in der Wahlnacht zahlreiche politische Kommentator*innen, ob sich bei der PVEM das Fähnlein nun wieder drehen wird. Vorsichtshalber wirbt Präsident López Obrador bereits um die etwa 70 zukünftigen Abgeordneten aus dem Lager der PRI. Für das im Vergleich zu 2018 schlechte Wahlergebnis wird auch der intern umstrittene Morena-Vorsitzende Mario Delgado verantwortlich gemacht. In seiner Funktion wirkte er maßgeblich an der Aufstellung von Kandidat*innen mit, die oft wenig Nähe zur Parteibasis hatten und recycelte Politiker*innen der Oppositionsparteien waren. Delgados mäßige Performance ist auch insofern wichtig, als er ein enger Vertrauter des mexikanischen Außenministers Marcelo Ebrard ist. Dessen Präsidentschaftsambitionen für 2024 sind kein Geheimnis. AMLO selbst darf nicht noch einmal antreten, weil die mexikanische Verfassung die Wiederwahl des Präsidenten verbietet.

Aufwind für Morena in den Bundesstaaten

Mit dem Gewinn von elf der 15 zur Wahl stehenden Gouverneursämter gelang Morena die bei realistischer Sicht maximal erreichbare Ausbeute. Die Gouverneur*innen der Bundesstaaten werden wie der Präsident nur alle sechs Jahre, aber nicht alle zum selben Datum gewählt. Der 2018 erreichte Sprung in der Wähler*innengunst drückt sich in vielen Bundesstaaten erst jetzt vollständig aus. Morena stellt nun Gouverneur*innen in 16 der 32 mexikanischen Bundesstaaten, ein Nettozugewinn von zehn Bundesstaaten. In Tlaxcala, Guerrero, Campeche, Colima, Sinaloa, Sonora, Zacatecas und Campeche löste Morena die PRI ab. In Michoacán die PRD, in Nayarit und Baja California die PAN. In Baja California Sur verteidigte sie das Gouverneursamt. Zudem kontrolliert Morena die Parlamente von 18 Bundesstaaten. Diesen kommt eine besondere Bedeutung zu, falls es Morena doch gelingen sollte, auf Bundesebene weitere Verfassungsänderungen zu verabschieden. Damit diese in Kraft treten können, müssen mindestens 17 Parlamente der Bundesstaaten zustimmen. In den wirtschaftlich besonders starken Bundesstaaten Nuevo León und Querétaro blieb Morena allerdings chancenlos.

Innerparteilich wird das Gesamtergebnis den umtriebigen Morena-Senator Ricardo Monreal stärken. Dieser schmiedete viele Allianzen in den Bundesstaaten, sein Bruder gewann das Gouverneursamt im Bundesstaat Zacatecas. Monreal wird als weiterer Präsidentschaftskandidat für 2024 gehandelt und wagte sich nach den Zwischenwahlen bereits vorsichtig aus der Deckung. Einen faden Beigeschmack hat besonders der knappe Sieg der Morena-Kandidatin Evelyn Salgado im Bundesstaat Guerrero. Ursprünglich hatte die Partei ihren Vater Félix Salgado aufgestellt. Trotz mehrerer Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn und der Proteste und Wut vor allem vieler weiblicher Parteimitglieder hielten AMLO und Morena an ihm fest. Als die Nationale Wahlbehörde INE Félix Salgado die Kandidatur kurzfristig wegen fehlerhafter Abrechnung der Wahlkampfkosten entzog, stellte Morena seine Tochter als Kandidatin auf.

Kalte Dusche in der Hauptstadt

Seit den ersten freien Bürgermeisterwahlen von 1997 ist Mexiko-Stadt eine Bastion der Linken gewesen. Bis 2018 regierte die nun mit ihren reaktionären Restbeständen in der Opposition angelangte PRD. Die letzten drei Jahre war das Oberbürgermeister*innenamt bereits in den Händen der aus PRD hervorgegangenen Morena-Partei. Die Amtszeit der wie die Gouverneur*innen für sechs Jahre gewählten und zumindest bis vor wenigen Monaten noch sehr populären Oberbürgermeisterin Claudia Sheinbaum endet 2024. Lange Zeit hieß es, die Linke könne in der Hauptstadt auch einen Besenstil für eine Kandidatur aufstellen, ohne das Risiko einer Wahlniederlage einzugehen. Das ist vorbei. In den 16 Stadtbezirken, die inzwischen formal Landkreisen gleichgestellt sind, verlor Morena überraschend gleich neunmal und teilweise krachend deutlich gegen die Oppositionsallianz. Im Stadtrat wird die bisherige Zweidrittelmehrheit von 44 der 66 Mandate demnächst auf eine hauchdünne Mehrheit von 32 Morena-Abgeordneten und zwei Mitgliedern der PVEM schrumpfen. Der Einbruch kam in dieser Wucht unerwartet. Der symbolische Schlag gegen die uneinnehmbare «linke Festung» dürfte noch heftiger wiegen als der Rückgang des Stimmenanteils von 50 auf 42 Prozent. Die politisch-geografische Landkarte von Mexiko-Stadt ist nun komplett zweigeteilt. Im ärmeren Ostteil der Stadt regiert nach wie vor Morena, im reicheren Westteil die Opposition. Diese Spaltung ist derzeit Motiv für zahlreiche Memes. Die Zweiteilung hat zahlreiche gehässige Kommentare provoziert. Darin äußert vielfach eine konservative Oberschicht, die nun wieder Oberwasser verspürt, eine tiefe Verachtung für die ärmere Bevölkerung.