News | Mexiko / Mittelamerika / Kuba Nicaragua: Wahlen ohne Opposition

Seit Anfang Mai 2021 geht das Regime unter Daniel Ortega gezielt gegen oppositionelle Kandidat*innen, Unterstützer*innen und Institutionen vor. Die Welle der Verhaftungen und Razzien von Medien und Organisationen reißt nicht ab.

Information

Aufnahme von einer Demonstration im Juli 2018 in Granada, Nicaragua. Zwei Hände halten ein Plakat mit der Aufschrift «Justicia, Libertad, Democracia (Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie)» Bild: Julio Vannini, CC BY-NC 2.0
Aufnahme von einer Demonstration im Juli 2018 in Granada, Nicaragua. Zwei Hände halten ein Plakat mit der Aufschrift «Justicia, Libertad, Democracia (Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie)» CC BY-NC 2.0, Julio Vannini

Auch vor historischen Persönlichkeiten wie der ehemaligen sandinistischen Guerilla-Kommandantin Dora María Téllez oder dem ehemaligen stellvertretenden Außenminister Víctor Hugo Tinoco, sowie fünf Präsidentschaftskandidat*innen der Opposition (verschiedener Richtungen) macht die Verhaftungswelle nicht halt. Der Vorwurf ist meist derselbe: Geldwäsche, Terrorismus und Agieren als internationale Agenten gegen die Interessen der nicaraguanischen Bevölkerung. Die Regierung scheint davon auszugehen, dass sie – wie bereits 2018 – auch mit diesen schweren Verstößen gegen Demokratie und Menschenrechte ungestraft davonkommt. Ob dies der Fall sein wird, wird auch vom Druck internationaler Institutionen, Organisationen, Regierungen und Parteien abhängen. Bislang ist dieser Druck zu gering, um zu verhindern, dass die Regierung vor den Wahlen am 7. November ihre Kontrollmechanismen immer weiter verschärft.

Im dritten Jahr der Proteste

Im April 2018 ging ein breites Bündnis von Menschen auf die Straße, um gegen die zunehmende Machtmonopolisierung, Umweltzerstörung und die einschneidenden Wirtschaftsmaßnahmen der Regierung von Daniel Ortega zu protestieren. Ausgelöst von einer Steuerreform zulasten von Altersrenten und Arbeiter*innen durch erhöhte Abgaben, protestierten zunächst Studierende, denen sich schnell viele Teile der Zivilgesellschaft anschlossen. Die Bilanz: über dreihundert Tote, Hunderte Inhaftierte, knapp 100.000 Menschen flohen ins Exil. Protestierende Student*innen wurden exmatrikuliert, widerständige Angestellte und medizinisches Personal entlassen. Medien und Infrastruktur von regierungskritischen Organisationen wurden widerrechtlich enteignet und ihre Repräsentant*innen mit Gerichtsverfahren überzogen – und damit praktisch lahmgelegt. Davon waren auch zwei Partnerorganisationen der RLS betroffen, die bis heute ihre Arbeit in Nicaragua nicht wieder aufnehmen konnten. Die Verfolgung von Andersdenkenden und regierungskritischen Medien lief weiter, Dialoge mit der Opposition wurden abgebrochen.

Angela Isphording ist Referentin für Mexiko, Zentralamerika und Kuba der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Sandy El Berr leitet das Auslandsbüro der RLS in Mexiko-Stadt.

Autoritäre Politik

Nun finden im November Präsidentschaftswahlen statt. Als wäre die schrittweise Gleichschaltung der Medien, die Besetzung wichtiger Institutionen, wie dem obersten Gerichtshof mit Ortega-Getreuen, oder das Verbot von politischen Parteien, kritischer Medien und Organisationen der letzten Jahre nicht genug, hat der «Orteguismus», wie die Politik unter Daniel Ortega auch bezeichnet wird, seit Herbst letzten Jahres weitere Schritte unternommen, um seine Wiederwahl  nicht zu gefährden. So wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, um die politische Opposition und kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen: Beispielsweise kann mit dem «Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten» die Finanzierung regierungskritischer Organisationen gekappt werden. Ein weiteres «Gesetz gegen Internetkriminalität», stellt unerwünschte Veröffentlichungen im Internet unter Strafe und kriminalisiert damit kritische Stimmen. Um Kandidat*innen der Opposition im Vorfeld der Wahlen auszuschließen, wurde das «Gesetz zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden»[1] erlassen. Neben all diesen Gesetzen, die gezielt gegen oppositionelle Akteure eingesetzt werden können, wurde eine Verfassungsänderung verabschiedet, die lebenslange Haftstrafen für «Hassverbrechen» ermöglicht. Diese werden im Gesetzestext nur ungenau definiert, was einen breiten Interpretationsspielraum bietet. Aussagen von Daniel Ortega und seiner Frau, der Vizepräsidentin Rosario Murillo, über angebliche terroristische Aktionen der Opposition, weisen darauf hin, dass es sich auch auf Aktionen von Aktivist*innen und Oppositionsgruppen anwenden lässt.

José* ist Mitglied des Bündnisses sozialer Bewegungen (Articulación de Movimientos Sociales, AMS) und erklärt in einem Interview, dass das Regime Ortega-Murillo mit der am 4. Mai verabschiedeten Wahlrechtsreform die Möglichkeit der nicaraguanischen Wähler*innen, mit ihrer Stimme einen Regimewechsel zu bewirken, fast unmöglich gemacht hat. Neben den bereits erwähnten Gesetzen zum Verbot oppositioneller Organisationen und Parteien, zur Schließung kritischer Medien und zur Verhaftung unliebsamer Gegner*innen, wird jegliche Form unabhängiger Wahlbeobachtung (national und international) unterbunden. Eine Bereinigung der alten Wahlverzeichnisse (die viele bereits Verstorbene oder nicht existierende Personen enthalten) wurde vertagt und – das wichtigste – der Oberste Wahlrat (CSE) wurde kurz vor Eröffnung der Wahlperiode am 6. Mai noch flugs mit Ortega nahestehenden Richter*innen besetzt. Für Jose ist dieser Wahlrat neben der Exekutive, Legislative und Judikative eine vierte Macht im Staat.

Kein gemeinsames Programm der Opposition

Die Opposition hingegen hat Schwierigkeiten, sich auf ein gemeinsames Programm jenseits der Abwahl Ortegas zu einigen. Da ist einmal die AMS, ein Zusammenschluss von unter anderem Feminist*innen, Umweltschützer*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, der LGBTQI* Community, ehemaligen Mitgliedern der aktuellen Regierungspartei FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) und organisierten Student*innen. Um ihre Schlagkraft zu erhöhen, haben sie sich gemeinsam mit der Bürgerallianz für Gerechtigkeit und Demokratie, der Alianza Cívica, zur Unión Azul y Blanco (UNAB) zusammengeschlossen. Die Bürgerallianz wurde 2018 gegründet, um an den Dialogen zur Beilegung des Konflikts teilzunehmen. In ihr befinden sich neben der Bischofskonferenz, auch wichtige Unternehmen,  die im Obersten Rat der Privatwirtschaft (COSEP) ihre Interessenvertretung haben. Die jeweiligen Vereinigungen haben ihrerseits Allianzen mit unterschiedlichsten, darunter auch konservativen und liberalen Parteien wie die rechte Konstitutionalistische Liberale Partei (PLC), die konservativ-neoliberale Partei der Bürger für die Freiheit (CxL), die Indigene Partei YATAMA, die Partei der Demokratischen Wiederherstellung (PRD) und die Bewegung der Demokratischen Kräfte Nicaraguas (FDN) geschlossen. Nachdem das Bemühen, alle Akteure in der Nationalen Koalition (Coalición Nacional) zusammenzufassen, scheiterte, ging die UNAB ab dem Frühjahr dieses Jahres wieder ihre eigenen Wege.

Tamara*, Mitglied der AMS, sagt in einem Interview, dass die Heterogenität der Akteure und vor allen Dingen ihre oft mangelnde politische Erfahrung, eine Gefahr für die Mitglieder des Bündnisses darstellen. So haben sich viele bereits in offizielle Wahllisten eingetragen oder nehmen an virtuellen Veranstaltungen mit Namen und Video teil. Ein gefundenes Fressen für die Polizei, die – ermächtigt durch die neuen Gesetze – ein Leichtes hat, Oppositionelle ausfindig zu machen und ins Gefängnis zu bringen. Laut Angaben der Opposition und internationalen Menschenrechtsorganisationen sitzen momentan über 130 Menschen immer noch, oder schon wieder, als politische Gefangene in Haft. Tendenz steigend.

Demokratie hinter Gittern / Chronologie politischer Repression

Am 18. Mai hob der Oberste Wahlrat den legalen Status der PRD auf und blockierte damit die einzige Möglichkeit der Nationalen Koalition, bei den Wahlen gegen Ortega anzutreten. Das Verbot war der Startschuss zu einer fulminanten Verbots- und Verhaftungswelle demokratischer Parteien, Kandidat*innen und ihren Unterstützer*innen, sowie erneutem Vorgehen gegen kritische Medien.

Am 20. Mai, nur wenige Tage nach ihrer erfolgten Eintragung als Kandidatin für die Partei CxL, eröffnete das Innenministerium Ermittlungen gegen die Journalistin Cristiana Chamorro. Die Tochter der einstigen Siegerin über Ortega, Violeta Chamorro (Präsidentin Nicaraguas von 1990 -1997) wird als Ortegas Hauptrivalin angesehen. Am 2. Juni wurde ihr Haus gestürmt und Chamorro unter Hausarrest gestellt. Der Richter verbot ihre Kandidatur für das Präsidentenamt, jedoch ohne vorheriges Urteil. Seitdem hat die Staatsanwaltschaft mehr als 30 Journalist*innen, Medienvertreter*innen, ehemalige Mitarbeiter*innen und Vertreter*innen von Organisationen, die mit Christiana Chamorro oder der bereits verbotenen Stiftung Violeta Barrios de Chamorro gearbeitet haben, vorgeladen, um sich wegen des angeblichen Verbrechens der Geldwäsche zu verantworten. Darunter befindet sich auch der Schriftsteller Sergio Ramírez und der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Direktor von Radio Corporación, Fabio Gadea.

Kurz darauf wurden weitere Präsidentschaftskandidat*innen bzw. Führungsfiguren der Opposition verhaftet: Miguel Mora (Präsidentschaftskandidat der PRD), Félix Maradiaga (Präsidentschaftskandidat UNAB), und Violeta Granera von der UNAB, Arturo Cruz (Präsidentschaftskandidat der Alianza) und Juan Sebastián Chamorro von der CxL. Auch der ehemalige Präsident des Unternehmerverbandes COSEP (Consejo Superior de la Empresa Privada) und Vorsitzendender der CxL, José Adán Aguirre, wurde in Untersuchungshaft gebracht. Der COSEP war bis zu den Aufständen ein Verbündeter der Ortega-Regierung und hat auch danach nie komplett mit dem Regime gebrochen.

In der Nacht des 12. Juni wurde Tamara Dávila, eine junge Feministin und Anführerin der oppositionellen Bewegung Unión Democrática Renovadora (UNAMOS), ehemals Movimiento Renovador Sandinista (MRS) und ebenfalls Teil der UNAB, verhaftet. Weitere fünf Mitglieder von UNAMOS wurden am 13. Juni verhaftet: die ehemalige sandinistische Guerilla-Kommandantin Dora María Téllez, die politische Analystin Ana Margarita Vigil, der Präsident der Organisation Suyen Barahona und der ehemalige sandinistische Guerilla-Kommandeur und pensionierte General Hugo Torres, der ebenfalls Teil dieser politischen Plattform ist. Am Abend dieses Tages wurde auch der ehemalige stellvertretende Außenminister und ebenfalls Mitglied von UNAMOS, Víctor Hugo Tinoco, verhaftet. Die Grundlage für die Verhaftungen ist das bereits erwähnte «Gesetz zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden". Es sieht vor, dass jemand nicht für ein öffentliches Amt kandidieren darf, wenn die Person einen Staatsstreich anführt, zu ausländischer Einmischung anstiftet oder terroristische Handlungen schürt. Es erlaubt, Verdächtige bis zu drei Monaten ohne Verfahren in Haft zu nehmen – nicht lang genug bis zu den Wahlen, aber ausreichend lange, um die ohnehin nicht besonders starke Opposition in ihren Grundfesten zu erschüttern. Tamara warnt vor der Zeit nach den Wahlen: «Wir müssen uns vorbereiten, für das, was nach den Wahlen kommt. Denn wenn die Diktatur Ortega-Murillo im Amt bestätigt wird, werden sie noch brutaler gegen uns vorgehen. Erst gegen die Anführer*innen, dann kommen alle dran, die glauben, dass es eine Alternative zu diesem Albtraum gibt. Viele werden wieder ins Exil gehen müssen und wehe ihren Familien, die in Nicaragua zurückbleiben. Es kommt eine sehr schwere Zeit auf uns zu und wir müssen gewappnet sein.»

José hofft auf das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft. Nach drei Jahren politischer Diplomatie, die in Hinterzimmern und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat, haben die jüngsten Ereignisse in Nicaragua einige Länder dazu bewogen, ihre Botschafter*innen aus Nicaragua abzuziehen und die Verhaftungen, Verbote und Schließungen öffentlich zu verurteilen. Darunter Niels Annen (SPD), Staatssekretär im Auswärtigen Amt der Bundesregierung am 7. Juni:

«Das jüngste Vorgehen der Regierung von Nicaragua gegen Mitglieder der Opposition und die unabhängigen Medien erfüllt mich mit großer Sorge. Die Verhaftung von Arturo Cruz, der Hausarrest für Cristiana Chamorro, der zugleich das passive Wahlrecht entzogen wurde, sowie die Maßnahmen gegen ihre Mitarbeiter und die Angriffe auf die unabhängige Presse sind nicht zu rechtfertigen. Ich erinnere die Regierung von Nicaragua an ihre internationale Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte und fordere sie auf, diese Repressionsmaßnahmen umgehend zurückzunehmen, auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren und die Bedingungen für freie, faire und transparente Wahlen im November dieses Jahres wiederherzustellen und zu garantieren.»

Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verurteilte am 15. Juni, und die Menschenrechtskommission der UNO am 22. Juni die Aktionen des Ortega-Regimes und fordern die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte. Linke Parteien und Netzwerke in Lateinamerika und Europa halten sich dagegen eher bedeckt. Nicaraguas FSLN ist Mitglied des Foro Sao Paulo, einem Zusammenschluss linker Parteien in Lateinamerika; dieses verurteilte am 16. Juni die Resolution der OAS (s.o.) als eine  Einmischung in die Souveränität Nicaraguas. Auch die sozialdemokratisch regierten Länder Mexiko und Argentinien hatten sich bei der OAS-Resolution enthalten, dann jedoch am 21. Juni ihre Botschafter aus Nicaragua einberufen.

José erinnert daran, dass die Europäische Union in ihren Assoziierungsabkommen mit Zentralamerika eine Menschenrechtsklausel vereinbart hat und auch im Freihandelsabkommen mit den USA ähnliche Klauseln enthalten sind. Er meint, es sei an der Zeit, diese Abmachung einzufordern. Auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich die UNAB noch an den Wahlen beteiligen werde, antwortet José, dass dies nur unter Einhaltung ihrer drei Hauptforderungen denkbar sei: «Die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Wiederherstellung unserer Bürgerrechte (unter anderem die der Versammlungs- und Pressefreiheit), sowie Bedingungen für freie Wahlen.» Noch glauben die meisten Nicaraguaner*innen daran, mittels Wahlen, die unbeliebte Regierung abwählen zu können. Doch ohne Gegenkandidat*innen wird dies nicht möglich sein.

*Zum Schutz vor Repressionen wurden die Namen der Interviewpartner*innen geändert.


[1] Dieses Gesetz besagt, dass «Nicaraguaner, die einen Staatsstreich anführen oder finanzieren, die die verfassungsmäßige Ordnung verändern, die terroristische Handlungen schüren oder dazu auffordern, die die Unabhängigkeit, die Souveränität, die Selbstbestimmung untergraben, die zur ausländischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten auffordern ... Verräter am Vaterland sind und deshalb nicht für ein gewähltes Amt kandidieren können».