News | Parteien / Wahlanalysen «Tage die das Land bewegen» – zum Zweiten

Das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Bodo Ramelow ist der vorläufige Höhepunkt der Krise im Thüringer Landtag.

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Volker Hinck,

Bodo Ramelow (DIE LINKE), Ministerpräsident von Thüringen, sitzt nach der der Abstimmung auf seinem Platz im Plenarsaal. Auf Antrag der AfD Fraktion musste sich Ramelow am 23.07.2021 im Landtag einem konstruktiven Misstrauensvotum stellen. picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bodo Schackow

Am 19. Juli reichte die AfD ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Bodo Ramelow ein und nominierte Björn Höcke als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Die AfD verleugnete den Schaufenstercharakter des Antrags gar nicht. Bereits vor der Abstimmung sprach sie offen über ihre Motive: Die Abstimmung diene nur dem Zweck die CDU vorzuführen, das Ergebnis sei daher irrelevant. Die AfD wolle zeigen, dass die CDU eine Mehrheit jenseits der rot-rot-grünen Koalition unnötigerweise ignoriert.[1] Diese blieb - wie im Vorfeld angekündigt - beim namentlichen Aufruf sitzen und nahm nicht an der Abstimmung teil. Zu einem NEIN zu einem faschistischen Kandidaten reichte es nicht. In der Abstimmung wurden daher nur 68 Stimmen abgegeben. Für Höcke stimmten 22 Abgeordnete (so viele, wie der AfD-Fraktion angehören) und 46 stimmten gegen ihn. Vor der parlamentarischen Sommerpause erlebte damit eine Parlamentskrise ihren ersten Höhepunkt.

Volker Hinck ist Regionalbüroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Thüringen.

Eingeleitet wurde diese am Freitag, dem 16. Juli. An diesem Tag verkündeten die Fraktionsvorsitzenden der LINKEN, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Thüringer Landtag, dass der für den 19. Juli eingereichte Antrag auf Auflösung des Landtags zurückgezogen werde und damit am 26. September 2021 keine Landtagswahl erfolgen wird. Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen und LINKEN mussten befürchten, die nötige Zweidrittelmehrheit nur mit Stimmen der AfD zu erreichen. Dazu waren beide Fraktionen nicht bereit. Laut der LINKEN habe es in allen drei Fraktionen Zweifel gegeben. Damit stand das Schlagwort der Parlamentskrise im Raum.

Vorangegangen war ein Hin und Her, das Ende Mai durch die Ankündigung von vier CDU-Abgeordneten der Auflösung nicht zuzustimmen, eingeläutet wurde. Damit wurde erstmals klar, dass Rot-Rot-Grün und CDU keine 60 Stimmen (42 R2G + 21 CDU) zusammenbekämen. Während Parteien  und Fraktionen von LINKEN, SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihren Willen zur Neuwahl mehrfach bekräftigten, zeichnete sich ab, dass mehr als vier CDU Abgeordnete nicht zustimmen würden. Mit der auf Querdenken-Aktivitäten in Erscheinung getretene einstigen FDP-Angehörigen und Landtagsabgeordneten Bergner seien laut CDU die 60 Stimmen aber gesichert. Die Abgeordneten Knut Korschewsky und Kati Engel aus den Reihen der LINKEN bestätigten nach Presseanfragen ebenfalls ihre Ablehnung als Folge des Vertragsbruchs der CDU, der eine Auflösung ohne AfD-Stimmen verhindere. Für die FDP-Fraktion erklärte Thomas Kemmerich, dass sich alle bis auf Bergner enthalten würden. Damit war eine demokratische Zweidrittel-Mehrheit im Landtag für Neuwahlen nicht mehr gegeben.

Die FDP-Fraktion wird im Nachgang der Ereignisse Geschichte werden. Am 20. Juli kündigte die Abgeordnete Bergner an, nach der Partei zum Ende der Sommerpause auch die Fraktion zu verlassen. Damit verfügt diese nicht mehr über die notwendigen fünf Abgeordneten und verliert ihren Status als Fraktion.

Rückblende

Am 5. Februar 2020 erschütterte ein demokratischer Tabubruch die Thüringer Landes- und die Bundespolitik: Thomas Kemmerich (FDP) wurde zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD.[2] Was folgte war ein bundesweiter Entrüstungssturm, der tausende Menschen in der Bundesrepublik und in Thüringen selbst noch am 5. Februar auf die Straße trieb. Aus Vereinen, Verbänden, Wissenschaft, der Wirtschaft und der Kultur in Thüringen erhob sich ein Proteststurm. Öffentliche Appelle trafen bei Kemmerich ein. Am 8. Februar trat er zurück.

Höhepunkt der Mobilisierung gegen eine machtpolitische Option mit Zustimmung der AfD bildete in Thüringen die Demonstration «Keinen Pakt mit Faschist*innen – niemals und nirgendwo» mit 18.000 Teilnehmer*innen am 15. Februar 2020, die vor allem Gewerkschaften, außerparlamentarische Initiativen und das Unteilbar-Bündnis innerhalb weniger Tage auf die Beine gestellt hatten. Aufbauen konnte die Mobilisierung auf Tausende, die in Thüringen und bundesweit täglich auf die Straße gingen.[3]

Der Stabilitätspakt

In Folge vereinbarten DIE LINKE, SPD und Bündnis90/Die GRÜNEN mit der CDU am 28. Februar 2020 den sogenannten Stabilitätspakt. Damit wurde festgelegt, gemeinsam den Antrag zur Auflösung des Thüringer Landtags im Jahr 2021 einzubringen und die nötige Zweidrittel-Mehrheit für Neuwahlen zu ermöglichen. Der Stabilitätspakt wurde bis zum Wahltermin befristet. Zähneknirschend arbeiteten LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU zusammen.

An der Oberfläche schien also Einigkeit zu bestehen: Der Thüringer Landtag brauchte eine neue Legitimation, nachdem Teile der gewählten Abgeordneten mit Faschist*innen paktiert hatten, um einen LINKEN Ministerpräsidenten und eine rot-rot-grüne Koalition loszuwerden. Zumindest für viele Protestierende erschien das Versprechen von Neuwahlen und einem demokratischen Neustart bindend. Der Tabubruch hatte diesem Thüringer Landtag – gerade im rot-rot-grünen gesellschaftlichen Lager – die inhaltliche Legitimation entzogen.

Das Stehaufmännchen mit Willen zur Macht: Die Thüringer CDU

Die Landtagswahlen 2019 haben tiefe Spuren in der Thüringer CDU hinterlassen. Fast 25 Jahre hatten Ministerpräsidenten dieser Partei Thüringen regiert. Die Oppositionsrolle ab 2014 bedeutete für die Partei einen Schock, den sie kaum verwinden konnte. Zu den Landtagswahlen 2019 setzte die Thüringer wie die Bundes-CDU ganz auf Mike Mohring, um die Regierung Bodo Ramelows und die rot-rot-grüne Koalition zu beenden. Den Verlust der Regierung deutete die CDU als eine Art politischen Betriebsunfall, da sie – in ihrer Wahrnehmung – als «Thüringenpartei» ein Abo auf die Macht habe. Das krachende Scheitern Mohrings bei den Landtagswahlen 2019 hinterließ die Thüringer CDU als Scherbenhaufen. Vor allem rechte Südthüringer CDU-Vertreter, wie der Landtags-Fraktionsvize Michael Heym, sahen nach der Wahl 2019 den Ausweg in einer Mehrheit rechts von Rot-Rot-Grün.

Diese rechts-offenen Teile der Thüringer CDU gerieten 2020 nach der Wahl Kemmerichs unter Druck. In die Defensive treiben sie Proteste aus dem eigenen Lager, wie zum Beispiel öffentliche Äußerungen des Landrats des Landkreis Eichsfeld Werner Henning gegen die Kemmerich-Wahl, der erzwungene Rücktritt des Kemmerich-Gratulanten Christian Hirte als Ost-Beauftragter der Bundesregierung und der Abgang des gesamten System Mohrings nach dessen Fall, zu dem auch Fraktionsvize Heym gehörte. Das kurzfristige Umfragetief der Thüringer CDU mit nur noch 15 Prozent trug das Übrige zur verbreiteten Untergangsstimmung bei.

Doch nach über einem Jahr sitzt dieses Milieu in der Partei wieder fest im Sattel. Die Wahl des auf Bundesebene geschassten Christian Hirte zum Landesvorsitzenden der CDU Thüringen oder die Nominierung Hans-Georg Maaßens zum Bundestagsdirektkandidaten in Südthüringen zeigen dies. Kritik von der Bundes-CDU ist kaum mehr zu vernehmen und Arrangements der Vergangenheit zwischen verschiedenen Interessenlagern scheinen wieder zu greifen, wie auch die Nominierung Mike Mohrings zum Bundestagskandidaten im November 2020 zeigt. Ein Tabubruch kann sich in Thüringen jederzeit wiederholen. Nichts deutet darauf hin, dass in der Thüringer CDU irgendjemand etwas gelernt hätte. Die Höcke-AfD wird jede Gelegenheit nutzen, die Thüringer- und Bundes-CDU mit Initiativen wie dem konstruktivem Misstrauensvotum vorzuführen. Immer darauf spekulierend, dass die Konservativen angesichts der starken Fraktion an CDU-Rechtsaußen nicht garantieren können, dass Abgeordnete AfD-Initiativen nicht unterstützen oder einen Faschisten dem LINKEN-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow vorziehen.

Tiefe Spaltung im Freistaat

Wie der Gewerkschafter Michael Ebenau in einer Analyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung feststellte, können rechte Bündnisüberlegungen in der Thüringer CDU an eine tiefe gesellschaftliche Spaltung im Freistaat anknüpfen. «Schon in den Wochen zwischen der Landtagswahl 2014 und der Wahl Ramelows zum Ministerpräsidenten hatte sich im Herbst 2014 unter Führung der CDU und mit Unterstützung von Teilen der SPD sowie mit breiter Beteiligung der AfD ein Bündnis gefunden, das gegen eine R2G-Regierung mobilisierte. […] Zum Jahrestag der Pogrome von 1938 wurde in Erfurt ausgerechnet ein Fackelmarsch organisiert, an dem sich 4.000 Menschen beteiligten.»[4] Anders als etwa Prof. André Brodocz, der FDP und CDU eine Oppositionsunfähigkeit bescheinigt und diesen Konflikt vor allem im parlamentarischen Raum verortet[5], weist Ebenau darauf hin, dass es sich hier um eine reale gesellschaftliche Spaltung handelt. «Die Spaltung besteht zwischen Befürwortern einer Reformregierung aus SPD, Grünen und Linken und jenem Teil der Bevölkerung, der unbedingt an einer CDU-geführten Landesregierung festhalten will. Dahinter verbirgt sich eine Reihe von Bewegungen: Einerseits erhielt Rot-Rot-Grün im Februar 2020 breite Unterstützung von Organisationen und Initiativen, andererseits hat sich bereits 2014 – zu Beginn der ersten rot-rot-grünen Landesregierung unter Ministerpräsident Bodo Ramelow – ein Rechtsbündnis herausgebildet, das die AfD einschließt»[6] und, wie er weiter im Interview mit dem Neuen Deutschland ausführt, selbst neofaschistischen Parteien Platz einräumt.

In der Publikation aus der Reihe «#Ländersache» der Rosa-Luxemburg-Stiftung hält Ebenau fest, dass die Landtagswahlen die Chance böten diese tiefe Spaltung zu überwinden. Schließlich war auch aus Reihen gesellschaftlicher Bündnispartner der CDU 2020 der Tabubruch verurteilt worden. Diese Chance ist verstrichen. Was bleibt ist eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung, die auf keinerlei parlamentarische demokratische Kooperation der Opposition hoffen kann. Die Auflösung der FDP-Fraktion und die Ankündigung des Fraktionsvorsitzenden der Thüringer CDU Mario Voigt, für keinen weiteren Stabilitätsmechanismus mehr zur Verfügung zu stehen, deuten jedenfalls darauf hin, dass derzeit von wechselnden Mehrheiten – einem Kennzeichen von Minderheitsregierungen – keine Rede sein kann.

Die Auseinandersetzung um das Misstrauensvotum zeigt erneut, dass ideologisch für die Thüringer CDU DIE LINKE wie AfD gleichermaßen «Randparteien»[7]  sind. Sie bleibt damit ihrem rechtslastigen Kurs aus Regierungszeiten treu, der mit illustren Persönlichkeiten mit Nähe zu «Neuen Rechten» wie dem skandalumwitterten Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz Helmut Roewer, dem 2008 vom damaligen Ministerpräsidenten Dieter Althaus designierten Kultusminister Peter Krause oder dem Regierungssprecher der Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht Karl-Eckhard Hahn verbunden war. Was auch immer die CDU Thüringen antreibt: Der Wille zur Macht und eigener Karriere scheint stärker zu sein als die «staatspolitische Verantwortung», die Mario Voigt bei der Abgeordneten Bergner feststellte. Derzeit ist nicht erkennbar, ob zumindest Teile der CDU oder FDP zu einem halbwegs konstruktiven Handeln im Parlamentarismus zurückfinden.

Lehren für linke Machtpolitik

Unklar ist, wie es jetzt weitergeht. Linke Politik, obwohl sie die Situation nicht verursacht hat, muss sich auch die Frage nach eigenen Fehlern stellen.

Denn auch wenn CDU und FDP die Situation klar herbeigeführt und die AfD in der Neuwahlstrategie bewusst zum Zünglein an der Waage gemacht haben, muss sich DIE LINKE fragen lassen, ob sie damit nicht dem Antifaschismus einem Bärendienst erwiesen hat. Wie Prof. André Brodocz im Deutschlandfunkinterview zu Recht anmerkt, ist «die AfD [..] interessanterweise die Gewinnerin in einem Machtspiel, bei dem sie zunächst gar keine Macht gehabt hat.»[8] Die Macht habe ihr erst die Entscheidung gegeben, mit ihr den Landtag nicht aufzulösen. Durch die Blockade von CDU und FDP wurde so eine antifaschistische Haltung zu einer Ermächtigung der extrem rechten AfD. Zumindest diskutiert werden sollte, ob es nicht allein um eine antifaschistische Haltung, sondern stärker um einen antifaschistischen Effekt gehen sollte. Und der – da besteht Einigkeit – muss eine nachhaltige Schwächung der AfD sein.

Hinzu kommt die Fixierung auf den Parlamentsbetrieb. Die tiefe gesellschaftliche Spaltung wurde von der rot-rot-grünen Koalition nur unzureichend antizipiert. Vor allem das eigene Lager wurde im «Starren auf den Feind» vergessen. So konnte nach dem 5. Februar 2020 der Eindruck entstehen, dass nur wenige verstanden hatten, dass nicht demokratische Verfahren Kemmerich zum Rücktritt zwangen, sondern neben bundesparteipolitischen Interessen sowie weiten Teilen der Medien vor allem die gesellschaftliche Macht außerparlamentarischer Proteste sowie seit 2014 als Verbündete gewonnener Institutionen und Verbände. Statt diese zu stärken, besteht die Gefahr, dass die Absage der Neuwahlen zur Demobilisierung der eigenen Anhänger*innen führen könnte. Offizielle Verlautbarungen aus der Zivilgesellschaft klingen zwar derzeit weiter freundlich, aber die Enttäuschung, dass ausgerechnet LINKE und Grüne den Antrag zurückzogen haben, ist groß. Dies könnte wahlpolitisch für DIE LINKE bei den Bundestagswahlen Folgen haben.

Nur mit der gesellschaftlichen Macht wird es gelingen, die derzeitige Parlamentskrise zu überwinden. Die Gesellschaft braucht ein handlungsfähiges Parlament. Die zahlreichen Vereine und Verbände brauchen einen Landeshaushalt.[9] Gelingt es, diese politische Grundhaltung und die realen Interessen aufzugreifen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, besteht die Chance für eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung, demokratische, solidarische und emanzipatorische Politik umzusetzen, CDU und FDP zur Kooperation zu zwingen und schließlich erfolgreich die Wahlen 2024 zu bestreiten – für eine eigene progressive Mehrheit im Parlament.


[2] Damals dazu Paul Wellsow: Politischer Dammbruch. Neuer Thüringer Ministerpräsident von Höckes Gnaden; auch in analyse & kritik 657: Nach dem «Putsch»

[3] Eine Chronik der Ereignisse, die einer CDU-Bundesvorsitzenden das Amt kostete, mit Zitaten aus dieser Zeit verfasste Luc Jochimsen. Hier werden die verschiedenen Dimensionen der Thüringer Regierungskrise und Krise der politischen Kultur der Bundesrepublik deutlich. Die Landesstiftung Thüringen hat diese u.a. als PDF veröffentlicht.

[7] Christian Herrgott, Generalsekretär der CDU Thüringen in der Landtagsdebatte am 21. Juli 2021

[9] Stefan Werner, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: «Wir brauchen einen Haushalt. Punkt. Jetzt müssen die Abgeordneten handeln, eine Ausrede haben sie nicht mehr. Es darf jetzt kein Taktieren und Lavieren geben. Wer jetzt noch Glaubwürdig sein will und nicht alle Menschen in die Politikverdrossenheit treiben will, handelt jetzt verantwortungsbewusst im Interesse der Wähler. Die haben den Landtag genau dafür gewählt». https://www.paritaet-th.de/presse/pressemeldungen/8148-jetzt-ist-die-stunde-des-parlaments-gekommen