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Zwischen einem korrupten Staat und der Stabilisierungsagenda internationaler NGOs

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Schluwa Sama,

03.06.2021: Sroor Helal (ohne Helm auf dem ersten Fahrad) am internationalen Tag des Fahrrads mit einer Gruppe von Frauen in Mosul. Bildrechte: Sroor Helal

Vier Jahre nach dem Ende der Besatzung der nordirakischen Stadt Mosul durch Daesch (arabisch: abwertende Bezeichnung für den IS) von 2014 bis 2017 hat sich ein mutiger ziviler Aktivismus im Kontext eines korrupten, autoritären Staatsapparats einerseits und internationaler Entwicklungsorganisationen andererseits entwickelt. Wie haben sich diese Aktivist*innen in Mosul organisiert und was sind ihre Aktivitiäten und Ziele?

Wie staatliche Institutionen funktionieren und von den Muslawis, den Bewohner*innen der Stadt, wahrgenommen werden, lässt sich gut anhand der Erfahrungen der Krankenschwester Sroor Helal verstehen. Helal hat mit anderen Aktivist*innen das «Team Sroor» (Fariq Sroor) in Mosul gegründet. Besondere Aufmerksamkeit erhielt eine ihrer ersten Kampagnen: Team Sroor hat Leichen, meist von IS-Kämpfern, aus der Altstadt von Mosul entfernt. Sroor erklärte mir in einem Interview, dass diese Leichen auch noch ein Jahr nach dem Sieg gegen Daesch in Mosul in der Altstadt und auch im Tigris lagen. Sie sorgte sich um die gesundheitlichen Folgen für die Bewohner*innen Mosuls.

Keine Unterstützung von der Stadt für das «Team Sroor» 

Als sie bei der Stadtverwaltung nachhakte, war diese überfordert und unwillig, die Aufgabe zu übernehmen. Team Sroor bemühte sich dann um eine Genehmigung von der Stadtverwaltung, die Leichen eigenständig aus der Altstadt zu bergen. Die Verwaltung hatte nicht damit gerechnet, dass Sroor es ernst meint: «Sie dachten, als Frau wäre ich zu ängstlich, um Leichen wegzutragen. Sie waren überrascht, als die Gruppe und ich morgens früh bereit waren.» Als Sroor mit dieser Aufgabe begann, gewann sie Respekt und Bewunderung unter vielen Muslawis und es schlossen sich weitere Menschen dem Team Sroor an. «Anfangs waren wir sechs Menschen und am Ende waren wir 40-50 Aktivist*innen. So war es uns möglich, 20–30 Leichen am Tag zu bergen. Es war die Verantwortung gegenüber unserer Stadt und unserer Gemeinschaft, die uns motiviert hat, diese Arbeit zu machen.»

Der Staat hat in diesem Fall nach langwierigen bürokratischen Verfahren die Genehmigung erteilt, um die Säuberung der Altstadt von Leichen nach dem Ende der Aktion jedoch für illegal zu erklären. Sroor erklärt mir, wie es in einer Diskussionsreihe bei der Deutschen Welle zu einer Live-Auseinandersetzung mit dem Bürgermeister kam, der behauptete, dass es keine Leichen in der Altstadt gebe. Als sie ihm widersprach, drohte er, sie festzunehmen.

Schluwa Sama hat zur politischen Ökonomie des Irak mit einem Fokus auf das Alltagsleben von Bäuer*innen im Irak an der University of Exeter promoviert. Außerdem schreibt sie zu kolonialen Kontinuitäten, globalem Kapitalismus, Krieg und Landwirtschaft im Kontext Kurdistans und des Irak.

Ihr wurde verboten, ihre Arbeit weiterzuführen und ein Team aus Bagdad geschickt, um die Arbeit fortzusetzen. Es wurde eine gerichtliche Untersuchung angeordnet und sie wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Erst auf den Druck der Öffentlichkeit hin und mit dem Sammeln von 5000 Unterschriften für die Freilassung kam Sroor wieder aus der Haft.

Diese Aktionen von korrupten Politiker sind keine Einzelfälle. Sie sind auf willkürliche Entscheidungen, autoritäre Machtstrukturen, undurchsichtige bürokratische Hürden und Korruption im irakischen Staat zurückzuführen. Der Grundstein dieses politisch-sektiererischen Systems wurde nach der US-Invasion gelegt, politische Posten wurden nach zugeschriebener Ethnie oder religiöser Zugehörigkeit vergeben. Die Menschen in Mosul wurden kollektiv als Sunnit*innen deklariert und als solche im neuen System systematisch marginalisiert und politisch unterrepräsentiert. Zivile Protestbewegungen nach 2003, die Arbeitsplätze und ein Ende der Korruption forderten, wurden unterdrückt. Die berühmte Oktoberrevolution von 2019, die hauptsächlich in Bagdad und in verschiedenen Städten des Südirak stattfand, konnte es im zerstörten Nachkriegsmosul so nicht geben. «Das heißt aber nicht, dass die Menschen in Mosul die Revolution nicht unterstützten. Wir stehen hier alle dahinter», erzählt Ayub, ein ziviler Aktivist und Apotheker aus Mosul. In Mosul gab es mit einer zu 90 Prozent zerstörten Altstadt andere Dinge zu tun. Ayub hat unter der IS-Besatzung in der Altstadt gelebt und manchmal bis zu 100 Menschen an einem Tag versorgt. Er erklärt, wie der Preis von einem Löffel Milch auf 1000 Dinar (ca. 1 Euro) anstieg und Kinder für vier Rosinen anstanden. Er erzählt, wie er sein Mobiltelefon, das unter dem IS verboten waren, in Steckdosen versteckt hat, bis die Daesch besiegt war. Er schrieb Tagebuch, um einen klaren Kopf zu bewahren und zur Dokumentation seines Alltags: «Ich dachte, dass mir keiner glauben wird, was hier passiert ist.»