Karl Liebknechts Name wurde zumeist in einem Atemzug mit Rosa Luxemburg genannt. In einem weit verbreiteten Lied, das in der DDR oft auch bei Schulappellen gesungenen wurde, reichte man ihr die Hand und hatte es ihm geschworen: «Auf, auf zum Kampf».[1]
In orthodox verkitschten Erzählungen bildeten «Karl und Rosa» das ruhmreiche Kampfpaar der deutschen Arbeiterbewegung. Seit ihrer gemeinsamen Ermordung waren sie vereint und kaum noch auseinanderzuhalten. Nach 1989/90 geriet Karl Liebknecht jedoch zunehmend in Vergessenheit. Bestenfalls wurde er wegen seiner Ablehnung der deutschen Kriegskredite erinnert und daran, wie er am 9. November 1918 die «freie sozialistische Republik» proklamierte. Zwei Stunden etwa, nachdem Philipp Scheidemann die «deutsche Republik» ausgerufen hatte… Beides, der Mantel des Verschweigens wie auch seine ikonographische Heldenverklärung, werden Karl Liebknecht nicht gerecht. Werden nicht gerecht dem Leben, das er führte, und nicht den Positionen und Haltungen, die er darin einnahm.
Die Sozialdemokratie in die Wiege gelegt
Bereits mit seiner Geburt am 13. August 1871 (Leipzig, Braustraße 11, heute: 15) gelangte Karl Liebknecht tief hinein in die sozialdemokratische Welt und ihre Kämpfe. Vater Wilhelm war einer der 1848/49er Barrikadenkämpfer, Korrespondent der I. und Mitbegründer der II. Internationale. Karl Marx und Friedrich Engels waren die Taufpaten des jungen Karl; er wuchs auf, während Wilhelm zusammen mit August Bebel zum weithin respektierten Übervater der deutschen Sozialdemokratie wurde, die sich zur größten und einflussreichsten Partei innerhalb der europäischen Sozialdemokratie entwickeln sollte. Gut vorstellbar, dass es für den jungen Karl lange nicht einfach war, im Schatten dieses Vaters zu agieren bzw. aus ihm herauszutreten.
Dr. Uwe Sonnenberg ist Referent für Zeitgeschichte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Karl Liebknecht hatte vier Brüder, war auf hohem Niveau humanistisch gebildet und besaß ausgeprägte literarische wie musische Neigungen. 1890 nahm er ein Jura-Studium auf, erst in Leipzig dann in Berlin. 1897 wurde er in Würzburg promoviert. Zwei Jahre später begann er, wiederum in Berlin, mit seinem ein Jahr älteren Bruder Theodor und Oskar Cohn in einer gemeinsamen Rechtsanwaltspraxis zu arbeiten. Ihren Sitz hatte die Praxis erst an der Spandauer Brücke 8, ab 1904 in der Kaiser-Wilhelm-Straße 46 und dann in der Chausseestraße 121, wo sie im Zweiten Weltkrieg ausgebombt wurde. Zahlreiche Unterlagen, Prozessakten und auch persönliche Dokumente Karl Liebknechts gingen dabei verloren.[2] Vor Gericht, so heißt es, war er schnell wegen seiner scharfen Plädoyers gefürchtet. Verbrechensprävention lag für ihn in erster Linie in sozialpolitischer Verantwortung. Es brauchte noch Jahrzehnte, bis diese Erkenntnis gesellschaftliche Einsicht wurde. Gerne nahm sich Karl Liebknecht politischer Fälle an, etwa um bedrängte Journalisten des «Vorwärts» gegen den Vorwurf zu verteidigen, Majestäten beleidigt zu haben, oder um russische Emigranten vor der Ausweisung zu bewahren, die als Juden oder Sozialisten aus dem Zarenreich nach Deutschland geflohen waren. 1900 heiratete er Julia Paradies. Ihre drei Kinder kamen 1901 (Wilhelm), 1903 (Robert) und 1906 (Vera) zur Welt. Nach Julias frühem Tod nahm er 1912 seine langjährige Geliebte Sophie Ryss zur Frau, eine 1884 in Rostow am Don geborene und in Heidelberg promovierte Kunsthistorikerin.
Der Weg zur politischen Karriere
In die Politik ging Karl Liebknecht vergleichsweise spät. Erst im Jahre 1900 trat er der SPD bei, ein Jahr später schon wurde er Stadtverordneter in Berlin. Die ihm wichtigsten Themen waren der Kampf gegen den preußischen Militarismus und für die Jugend. Für Liebknecht stellte der Militarismus «die höchste Konzentration der brutalen Gewalt des Kapitalismus» dar[3] und: «Wer die Jugend hat, der hat die Armee».[4] Der ersten, 1907 gegründeten Jugend-Internationale wurde er Schirmherr. Mit seiner im gleichen Jahr veröffentlichten Schrift «Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung» handelte sich Karl Liebknecht auf Drängen des preußischen Kriegsministers einen, unter lebhafter öffentlicher Anteilnahme durchgeführten Hochverratsprozess ein. Für Liebknecht endete er mit 18 Monaten Festungshaft. Sein Plädoyer in eigener Sache lässt erahnen, in was für einem Bewusstsein historischer Kontinuität und Kontingenz er agierte:
Überschauen Sie, meine Herren, die Geschichte der Menschheit. Die Geschichte aller Staatengebilde ist eine ununterbrochene Kette hochverräterischer Akte. Der politische Fortschritt der Menschheit vollzieht sich allenthalben in der Form des Hochverrats. Der Hochverrat von gestern ist die Legitimität von heute, und der Hochverrat von heute wird die Legitimität von morgen sein. Wir alle stehen mit beiden Füßen auf den Errungenschaften des Hochverrats. Auch Sie, meine Herren, sitzen auf Ihren Plätzen kraft der Machtvollkommenheit des Hochverrats von gestern. Ohne die Hochverräter der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wäre das heutige Deutsche Reich, von dem Sie Ihre Vollmacht herleiten, nicht vorhanden.[5]
Wenn Karl Liebknecht also Überlegungen zur Zurückdrängung eines immer weiter auch in die Gesellschaft vordringenden militärischen Geistes anstellte – und um mehr oder weniger ging es in der Broschüre nicht – dann könne man ihn so gesehen gerne des «Hochverrats» bezichtigen. Davon unbenommen aber müsse seine Ehre (wie auch die Zulassung) als Rechtsanwalt sein bzw. dürfe sie ihm deswegen nicht genommen werden – wovon er das Gericht in einem folgenden Ehrgerichtsverfahren auch überzeugen konnte.
Aus der Festungshaft (im schlesischen Glatz, das heutige Kłodzko) heraus wurde Karl Liebknecht 1908 – trotz des Dreiklassenwahlrechts – in das Preußische Abgeordnetenhaus und 1912 im sogenannten «Kaiserwahlkreis» (Potsdam-Spandau-Osthavelland) in den Reichstag gewählt, damals als der jüngste Abgeordnete der SPD. Die Parlamente waren ihm willkommene Bühne «die Entscheidung über Krieg und Frieden aus dem Dunkel der Kabinette und Diplomatenschleichwege herauszuholen und an das Licht der Öffentlichkeit zu ziehen»[6] – und natürlich weiter auch um gegen die internationale Rüstungsindustrie zu agitieren. Im April 1913 enthüllte Liebknecht in der «Kornwalzer-Affäre» geheime Absprachen, Bestechung und Korruption zwischen der Friedrich Krupp AG und Beamten der deutschen Heeresverwaltung. Als vielseitiger Politiker auf Kommunal-, Landes- und Reichsebene setzte er sich mit beißender Rhetorik und konkreten Vorschlägen genauso für die Demokratisierung des Wahlrechts, der Verwaltung und der preußischen Kommunalverfassung ein wie er sich Sachkenntnisse zur Sicherung der öffentlichen Wasserversorgung aneignete. Ein besonderes Anliegen war ihm die Humanisierung des Strafvollzuges. Dabei wollte er jede Frage der Tagespolitik mit Blick auch auf das sozialistische Gesamtprogramm immer «als Teil des Ganzen» im Rahmen des «proletarischen Klassenkampfes» betrachtet und behandelt wissen.[7]
«Trotz alledem!»[8]
Angesichts des aufziehenden Krieges begann 1914 auch Rosa Luxemburg enger mit Karl Liebknecht zusammenzuarbeiten. Die letzten Jahre hatte sie sich in der Massenstreikdebatte aufgerieben, ihre Akkumulationstheorie weiterentwickelt und war als Dozentin an der Parteischule tätig gewesen. Nun rückte antimilitaristische Agitation auch für sie in den Mittelpunkt ihres Engagements. 1914 musste sie sich in ebenso Aufsehen erregenden Prozessen der Anklage stellen, Soldaten zum Ungehorsam aufgerufen zu haben. Spätestens im Widerspruch zur «Burgfriedenspolitik» der sozialdemokratischen Führung rückten Liebknecht und Luxemburg zusammen. Sie bildeten einen Kern der mit Eröffnung des Ersten Weltkrieges sich gründenden «Gruppe Internationale». Aufgrund ihrer Flugschriften wurde sie bald Spartakusgruppe genannt.
Am 4. August 1914 hatte sich Karl Liebknecht noch dem Fraktionszwang gebeugt. Sein NEIN in der folgenden Abstimmung zur Bewilligung weiterer Kriegskredite machte ihn zur populären und doch recht einsamen Stimme einer immer marginaler werdenden deutschen Linken. Noch heute ist sein Auftritt im Deutschen Reichstag am 2. Dezember ein Quell der Inspiration. In Belgien hatte er sich die Gräuel des Krieges vor Ort berichten lassen. Als einer der ersten deutschen Parlamentarier prangerte er den Völkermord an Armeniern an. Dem militärischen Oberkommando war das zu viel. Im Februar 1915 wurde Karl Liebknecht einberufen und als Armierungssoldat an die Front geschickt. Aber Karl Liebknecht – so verkündete er – würde nicht schießen! Zugleich schloss ihn die SPD im Januar 1916 aus ihrer Reichstagsfraktion aus. Wie später auch andere namhafte Kriegsgegner, die daraufhin eine eigenständige Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft gründeten, aus der 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) erwuchs.
Seinen Fronturlaub nutzte Karl Liebknecht, um am 1. Mai 1916 bei einer Demonstration am Potsdamer Platz in Berlin erneut zu bekräftigen: «Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!» Den «Hauptfeind» hatte er schon lange «im eigenen Land» identifiziert. Sofortige Verhaftung, ein nächstes Verfahren, gegen das Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter streikten. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit schließlich erfolgte die Verurteilung zu vier Jahren Haft wegen Landesverrats. Im Luckauer Zuchthaus setzt er seine bereits in Glatz begonnenen Studien zu Triebkräften und Bewegungsgesetzen der Gesellschaft fort, untersuchte kulturelle Entwicklungsstufen der Menschheit – philosophisch, soziologisch, psychologisch, ethnographisch und ideengeschichtlich auch, jenseits der engen Vorstellung von Menschen alleinig als einer Kraft in ökonomischen Produktionsprozessen.[9]
Karl Liebknecht war leidenschaftlich, temperamentvoll und charismatisch. Mitunter wird er als tollkühn beschrieben, als eigenwilliger Hitzkopf mit Feuereifer. Die Russische Revolution von 1917 hatte seinem Optimismus weiteren Auftrieb gegeben. Am 23. Oktober 1918 wurde Karl Liebknecht amnestiert. In Berlin von einer jubelnden Menschenmenge empfangen, begab er sich gleich in eine insbesondere durch die Revolutionären Obleute getragene Vernetzung zur Vorbereitung einer Revolution auch in Deutschland. Karl Liebknecht standen turbulente Wochen bevor. Nachdem er am 9. November die «freie sozialistische Republik Deutschland» proklamiert hatte, war er kurzzeitig geneigt, in den neu errichteten Rat der Volksbeauftragten einzutreten. Zusammen mit Rosa Luxemburg übernahm er die Herausgabe der «Roten Fahne». Aufgrund des strengen Reglements erhielten Mitte Dezember 1918 beide kein Mandat für den Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte. Die politische Umwälzung wollten sie unumkehrbar machen, sie langfristig auch in eine soziale Revolution überführen und beständig warnten sie vor der bevorstehenden Gegen-Revolution. Ende des Jahres gehörten sie zu den Mitgründern der KPD.
Auf den «Vaterlandsverräter» Karl Liebknecht waren zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits zahlreiche Mythen und Legenden projiziert. Selbst der «Vorwärts» – einst von seinem Vater gegründet – stellte ihn als einen Geisteskranken dar. Hunderte würden unter Waffen stehend nur auf sein Kommando warten, im Namen von «Spartakus» die Macht an sich zu reißen. Für eine deutsche Sowjetrepublik, dessen Präsident er werden würde. Nichts davon war wahr. Karl Liebknecht nahm zwar an den Januarkämpfen 1919 in Berlin teil – dabei zum Teil undurchsichtig agierend selbst für seine eigenen Genossinnen und Genossen –, aber auch den Januarkämpfen ging kein von ihm, Luxemburg oder «Spartakus» orchestrierter Aufstand voraus. Als die Kämpfe beendet waren und Berlin in den Belagerungszustand überging, konnte er sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Längst hingen an den Litfaßsäulen Plakate «Tötet ihre Führer! Tötet Liebknecht!» Unter Verletzung konspirativer Regeln hatte sich Karl Liebknecht zuletzt mit Rosa Luxemburg gemeinsam bei der Familie Marcusson aufgehalten. Dort, in der Mannheimer Straße 43, wurden sie am 15. Januar entdeckt, in das Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division verbracht, kurz verhört und unmittelbar im Anschluss von deutschen Offizieren ermordet. Als «unbekannter Toter» wurde Liebknechts Leiche in einer Rettungswache abgegeben.
Gesammelte Reden und Schriften Karl Liebknechts erschienen in neun Bänden von 1958-1968 im Dietz Verlag Berlin, DDR. Ausgewählte Werke kamen 1969 in der Europäischen Verlagsanstalt (Frankfurt/Main) heraus. Einige Briefe und Bilder, Manuskripte von Artikeln und Gedichte sind digitalisiert in den Karl Liebknecht Papers des Amsterdamer IISG zu finden. Sehr lesenswert noch immer ist Annelies Laschitza: Die Liebknechts. Karl und Sophie – Politik und Familie, Aufbau Verlag, Berlin 2007. Zum Weiterlesen erschein bei Karl Dietz auch das Buch Karl Liebknecht oder: Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung! von Klaus Gietinger.
[1] Der Text ist 1919 entstanden. Sehr unwahrscheinlich – nirgendwo belegt auch, wenn behauptet –, dass der Autor Bertolt Brecht aus Empörung über den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gewesen ist, siehe hier. In seiner Ursprungsversion geht es zurück auf ein Soldatenlied, in dem Kaiser Wilhelm geschworen und ihm zugleich die Hand gegeben wurde, siehe hier.
[2] Angaben aus: Annelies Laschitza: Karl Liebknecht. Advokat und Parlamentarier mit Charisma, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 2018, S. 13.
[3] Karl Liebknecht: Die Jugend und der Kampf gegen den Militarismus [1904], in Ders.: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin, 1958, S. 80f. [zukünftig GRS]
[4] Karl Liebknecht: Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung [1907], in: ebd., S. 247-456, hier S. 456.
[5] Karl Liebknecht: Der Hochverrat von heute wird die Legitimität von morgen sein [1908], in GRS, Bd. II, Berlin 1960, S. 259-264, hier S. 262.
[6] Der Hochverratsprozeß gegen Liebknecht vor dem Reichsgericht. Aus dem Prozeßbericht [1907], in: ebd., S. 81-162, hier S. 161.
[7] Ders.: Zur Taktik im parlamentarischen Kampf [1913], in: GRS, Bd. VI, Berlin 1964, S. 407-411, hier S. 410.
[8] Karl Liebknecht: Trotz alledem! [1919], in: GRS, Bd. IX, Berlin 1971, S. 709-713. Es handelt sich um den letzten von Karl Liebknecht geschriebenen Text, am 15. Januar 1919 in Die Rote Fahne erschienen.
[9] Karl Liebknecht: Die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung. Fragment, hg. von Thomas Schulze, Peter Lang, Bern u.a. 1995.