News | Antisemitismus (Bibliographie) - Nahost und Antisemitismus in der BRD - Antisemitismus (Artikel) Claudia Globisch: Radikaler Antisemitismus, Wiesbaden 2013.

Trotz Mängel stellt das Buch einen wichtigen Beitrag zur Debatte dar, inwiefern und unter welchen Kontextstrukturen die unifizierende Rede von dem «Antisemitismus» gerechtfertigt und wie wichtig eine genuin soziologische und nationalismustheoretische Antisemitismusforschung ist.

Information

Author

Peter Ullrich,

Es ist eine Grundproblematik der Antisemitismusforschung, dass die moralische Kommunikation aus dem allgemein-politischen Diskurs über Antisemitismus (welche exklusiv mit der Unterscheidung gut/böse oder legitim/illegitim operiert und Antisemitismusvorwürfe, oft ad personam, adressiert bzw. empört zurückweist), auch mit einiger Macht in die Forschung eindringt. Das dort notwendige klare und handlungsleitende politische Statement ist hier freilich oft der kritischen Diskussion und Erkenntnisentwicklung abträglich.

Dies gilt umso mehr im Fall von in Frage stehender Kritik an Israel, wo die bisher kursierenden Definitionskriterien für die Bestimmung von Antisemitismus besonders prekär sind. Sie sind prekär, weil sich im diskursiven Feld Nahostkonflikt/Antizionismus/Antisemitismus usw. (mindestens) zwei Diskurse überlagern und verschränken (der auf den realen Konflikt bezogene, etwa menschenrechtlich oder antimperialistisch begründete und der antisemitische Diskurs), die jeweils eine eigene Genese haben, einen eigenen Geltungsanspruch formulieren, aber diskursiv aneinander anschlussfähig sind. Die daraus resultierenden Ambivalenzen sind in moralischer Kommunikation nur schwer adressierbar und insofern ist jede Arbeit zu begrüßen, die mit dem Anspruch antritt, mittels begrifflicher und methodischer Strenge Licht ins dunkle Geflecht der schwer zu klassifizierenden Phänomene zu bringen.

Claudia Globisch untersucht die politisch besonders heikle Frage, inwiefern es sich beim Antisemitismus von rechts und links um eine gesamtgesellschaftliche kulturelle Semantik handelt; ob wir es also mit einem Antisemitismus zu tun haben oder nicht. Im Anschluss insbesondere an die Semantikanalysen des modernen (nationalen) Antisemitismus von Klaus Holz analysiert sie Publikationen aus beiden Spektren. Anders als der Titel nahelegen mag, geht es dabei weder um eine Gleichsetzung von links und rechts im Sinne der Extremismustheorie noch um eine Definition beider als per se antisemitisch, sondern tatsächlich um die Analyse von unter Antisemitismusverdacht stehenden Texten selbst.

Die konzeptionelle Stärke des Buches liegt in der Methode der detaillierten struktural-hermeneutischen Sequenzanalyse. Sie erlaubt es der Verfasserin, basale semantische Strukturen in Texten zu explizieren (Latenzen, implizite kategoriale Grundannahmen usw.), die beim schnellen Lesen nicht sofort offenbar werden, gleichwohl als strukturierende Prinzipien der Textgestalt unterliegen.

Indem Globisch herausarbeitet, wie im Blick auf Jüdinnen/Juden, den Zionismus und Israel andere Kollektivkonstruktionen vorgenommen oder stabilisiert werden, steht sie für die besonders in der jüngeren sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung betonte These, dass eine zentrale Leistung antisemitischer Weltbilder in der Absicherung einer (meist nationalen) Eigenidentität und zugleich der Iteration des grundlegenden Strukturierungsprinzips (Nationalität) besteht als dessen Gegenbild das «Jüdische» fungiert und bekämpft wird – als «nicht-identische» (i. e. nicht-nationale, unterwandernde) «Figur des Dritten».

Mit manchen Argumentationen der Autorin kann man aber nicht ohne weiteres mitgehen; an vielen Stellen hätte man sich die ausführlichere Erörterung alternativer Strukturhypothesen gewünscht. Dies betrifft vor allem manche von Globisch als antisemitisch klassifizierte Israelkritik. So zeigt sie einerseits überzeugend, dass in israelkritischen und israelfeindlichen Texten oft die eine – gegnerische – Konfliktseite abstrakt (als Gesellschaft/Staat; Israel/Zionismus), die andere hingegen als affirmiertes, konkretes, «identisches» Kollektiv («Volk») dargestellt wird. Die Rollen von Täter und Opfer sind ebenso klar verteilt. Diese Sinnstruktur ist zweifelsohne genuiner Bestandteil antisemitischer Sinnkonstruktionen.

Andererseits kommt aber zu kurz, dass diese Argumentation zumindest teilweise der realen Konfliktstruktur entspricht, insbesondere in der Zeit nach dem so genannten Friedensprozess und dem Bau der Mauer (bzw. des Trennungszauns) um die meisten palästinensischen Siedlungsgebiete in der Westbank. Dies hat eine extreme Trennung der beiden Gesellschaften, v. a. auch durch die Beendigung von Arbeitsmigration, forciert, die vorher so nicht gegeben war. Im manifesten Konflikt steht tatsächlich Israel als Staat (bes. in Form von Armee, Polizei und Besatzungsbürokratie) gegen eine in dieser Hinsicht weitgehend homogenisierte palästinensische Bevölkerung – homogenisiert in der ethnisch konstruierten Zuordnung zu dem Kollektiv derer, die keine Staatsbürgerschaft haben, in ihrer Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt sind, dem Besatzungsrecht unterliegen usw. Diese Beziehung hat keine symmetrische Entsprechung etwa in einem Verhältnis palästinensischer Staat vs. israelische Bevölkerung. Die Wahl der genannten Sinnkonstruktion bleibt also hinsichtlich der Motivationen der Textverfasserinnen und –verfasser, der manifesten Aussagen und der möglichen diskursiven Anschlüsse mehrdeutig.

Wie ist dieses Problem zu lösen? In vielen Texten taucht es gar nicht auf. Verschiedene Argumentationen, die Globisch analysiert, machen deutlich, wie Israel oder Zionismus als Chiffren für Jüdinnen/Juden fungieren können. An anderen Interpretationen offenbart sich aber, dass der Chiffrencharakter von «Israel» und «Zionismus» als Platzhalter für «Juden» mehr vorausgesetzt als nachgewiesen wird. Dies ist Ausdruck einer generellen Hochrelevanzeinschätzung, die dem Antisemitismus als Symbol in unserer politischen Kultur zukommt. Bei verschiedenen Texten wird man aber weiterhin nicht umhinkommen, die Existenz einer Grauzone zuzugestehen, in der einseitige und feindliche Formulierungen möglicherweise a) das Resultat antisemitischer Motive, b) kausal dem (in die Latenz gedrängten) antisemitischen Diskurs zuzuschreiben oder c) antisemitisch decodierbar sind. Solange sich dies in der Textgestalt aber nicht zeigt, gilt es auch, die geäußerte Kritik an Israel oder Zionismus ernst zu nehmen und politisch zu diskutieren. Um dies an einer Interpretation Globischs zu zeigen: Die Klassifikation Ariel Sharons als «kalter Politiker» im analysierten Text begründet eine Strukturhypothese. Diese muss auf textinterne Konsistenz hinsichtlich eines abwertend-homogenisierenden Judenbildes geprüft werden. Damit darf aber nicht ausgeschlossen sein, dass man in der Einschätzung des realen Politikers Sharon auch zu dieser Einschätzung gelangen kann. Die Angemessenheit dieser Charakterisierung zu diskutieren, wäre dann jedoch nicht Gegenstand der Antisemitismusforschung.

Solche Ambivalenzen wären sicher deutlicher geworden, wenn die Verfasserin nicht an zu vielen Stellen die Sequenzanalyse durch die leichter handhabbare, Aussagen subsumptionslogisch klassifizierende, Inhaltsanalyse ersetzt hätte. Bei den Sequenzanalysen wurden verschiedene naheliegende Hypothesen nicht getestet, was für eine vielleicht zu homogene Interpretationsgruppe oder zu viel Einzelinterpretation spricht. So drängt sich der Eindruck auf, dass auf den 185 Seiten Theorie (gegenüber 140 Seiten Empirie und Interpretation) eher der Suchprozess der Autorin dokumentiert ist. Der so aufgebaute, zudem schwer lesbare theoretisch-begriffliche Überbau wird nicht ausreichend empirisch eingefangen. Dies mag ebenso wie die vielen formalen Fehler, Satzfragmente oder sprachlichen Schnitzer der gegenwärtig üblichen Form der Edition von Dissertationen geschuldet sein. In diesem Ausmaß ist es jedoch ärgerlich. Problematisch ist auch der extrem knappe und holzschnittartige Literaturüberblick zum Thema Linke-Nahostkonflikt-Antisemitismus.

Trotz dieser Mängel stellt das Buch einen wichtigen Beitrag zur Debatte dar, inwiefern und unter welchen Kontextstrukturen die unifizierende Rede von dem «Antisemitismus» gerechtfertigt und wie wichtig eine genuin soziologische und nationalismustheoretische Antisemitismusforschung ist.
 


Globisch, Claudia: Radikaler Antisemitismus. Inklusions- und Exklusionssemantiken von links und rechts in Deutschland, Wiesbaden 2013: Verlag für Sozialwissenschaften (408 S., br., 52,99 €).