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Axel Gehring über die Lage der Türkei als Transitkorridor für Flüchtende aus Afghanistan

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Axel Gehring,

Türkische Soldaten bewachen die Mauer an der türkisch-iranischen Grenze, um Flüchtende am Grenzübertritt zu hindern. Bild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Keigo Sakai

Schon bevor Afghanistan an die Taliban fiel, hatte die türkische Regierung ihren Bau einer 300 Kilometer langen Mauer an der iranischen Grenze beschleunigt. Diese Mauer dient der Flüchtlingsabwehr; in den letzten Wochen wurden bereits Tausende nicht registrierte Afghan*innen in der Türkei festgenommen und in Abschiebezentren inhaftiert. Sie können aber wegen der Machtübernahme der Taliban derzeit nicht abgeschoben werden.

Seit den 2010er Jahren ist es immer wieder zu großen Fluchtbewegungen aus Afghanistan über die Türkei in die Europäische Union gekommen. Nicht wenige jener Menschen, die im Sommer 2015 die EU erreichten, waren Afghan*innen. Der nach langen Verhandlungen mit der Türkei im Frühjahr 2016 abgeschlossene sogenannte EU-Türkei-Flüchtlingsdeal richtete sich nicht zuletzt auch gegen sie.

Seit dem Sieg der Taliban fordert die deutsche Bundesregierung, allen voran Außenminister Heiko Maas (SPD), eine «lokale Lösung» für Fluchtbewegungen aus Afghanistan. Dabei ist die Regierung bestrebt, das Gros der potenziell Flüchtenden von den lokalen Verbündeten der abgezogenen Bundeswehr, die man vorgeblich evakuieren will, zu unterscheiden. Ein «zweites 2015» soll in jedem Falle vermieden werden. Nicht zuletzt deshalb begrüßt die Bundesregierung einen möglichen Betrieb des Kabuler Flughafens durch die Türkei, wobei es aus ihrer Sicht unerheblich sein dürfte, ob türkische Firmen nur für den technischen Betrieb oder auch für die Sicherheit des Flughafens verantwortlich sein werden.

Kritik der türkischen Opposition

Während die türkische AKP-Regierung damit bei der Kontrolle von Migrationsbewegungen aus Afghanistan zumindest außenpolitisch gewisse Handlungsspielräume zu genießen scheint und für sich nutzen möchte, steht sie innenpolitisch unter dem Druck der kemalistischen Opposition. Seit Monaten wirft die größte Oppositionspartei des Landes, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, der AKP vor, die Staatsgrenzen nicht unter Kontrolle zu haben. Ein heftiger Streit ist zudem über die Frage entbrannt, wie viele Afghan*innen eigentlich in der Türkei leben. Die Opposition behauptet, die Zahl werde systematisch untertrieben. Der CHP-Vorsitzende, Kemal Kılıçdaroğlu, stellt sich dabei an die Spitze der Regierungskritik, weil er darauf spekuliert, auf diese Weise Stimmen enttäuschter AKP-Wähler*innen sowie jener rechten und konservativen Parteien zu gewinnen, die sich infolge der tiefen Krise der AKP gegründet haben. Unter Berufung auf die «Ehre» der (Staats-) Grenze, die auf die Gründungsphase der Republik zurückgeht, wollen die CHP und andere Oppositionsparteien den Patriotismus der nicht-kemalistischen Kräfte in Zweifel ziehen. Sie hoffen, damit vom tief verwurzelten Rassismus der türkischen Gesellschaft zu profitieren.

Und in der Tat sind die AKP-Regierung und ihre Verbündeten angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krise des Landes an dieser Stelle verwundbar. Nominal hohe Wachstumszahlen aus dem letzten Quartal übertünchen nur notdürftig die Fragilität des Wachstums im Land, das in letzten Jahren mehrere tiefe Wirtschaftskrisen und lange Phasen der Inflation und Währungsabwertung durchgemacht hat, die der breiten Bevölkerung den Preis für die gescheiterte Wirtschaftspolitik aufbürden. Entsprechend scharf ist die Konkurrenz am Arbeitsmarkt.

Da Sozialleistungen für Geflüchtete nur rudimentär vorhanden sind, arbeiten viele Syrer*innen und Afghan*innen im informellen Sektor (also ohne Arbeitsverträge), der für den türkischen Arbeitsmarkt ohnehin von großer Bedeutung ist. Die Migration hat auch deshalb dazu geführt, dass Branchen, die vor 15 Jahren international nicht mehr wettbewerbsfähig schienen, dank günstiger Arbeitskraft (und teilweise auch aufgrund der Lira-Abwertung) überleben konnten. In diesem Sinne stellen die Geflüchteten für die türkische Wirtschaft keine große Belastung dar – es findet vielmehr eine «Integration durch Ausbeutung» statt. Ob das auch für die Bürger*innen gilt, die sich einer verschärften Konkurrenz mit den afghanischen Geflüchteten ausgesetzt sehen, steht auf einem anderen Blatt.

Sackgasse für Flüchtende aus Afghanistan

Das im Frühjahr 2016 getroffene «EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen» privilegiert zudem systematisch die syrischen Geflüchteten gegenüber den afghanischen. In dem Abkommen verpflichtete sich die Türkei, in Griechenland aufgegriffene syrische Geflüchtete «zurückzunehmen»; im Gegenzug nehmen die EU-Staaten ebenso viele bereits in der Türkei lebende syrische Geflüchtete auf und gewähren ihnen offiziell den Status von Bürgerkriegsflüchtlingen. Geflüchtete aus Afghanistan sind davon ausgenommen, für sie macht sich das Abkommen also vor allem in Form eines weiter erschwerten Grenzübertritts in die EU bemerkbar. Denn obwohl die Erdoğan-Regierung das Abkommen nicht immer vollständig umsetzte – und im Frühjahr 2020 ihre Westgrenze kurzeitig sogar unbewacht ließ, um im Kontext der russisch-syrischen Idlib-Offensive politische Zugeständnisse der EU zu erzwingen –, hat sie die Überwachung ihrer Grenze mit der EU insgesamt intensiviert. Die Türkei wird damit mehr und mehr zur Sackgasse für flüchtende Afghan*innen.

Dabei leben in kaum einem Land so viele Geflüchtete wie in der Türkei. Für die offiziell 300.000 afghanischen Geflüchteten (Schätzungen gehen von deutlich mehr aus) bedeutet dies nicht «nur», dem Rassismus seitens der Bevölkerung, sondern auch einer scharfen Konkurrenz mit den in der Türkei lebenden 3,7 Millionen Syrer*innen ausgesetzt zu sein. Die große Mehrheit der Afghan*innen dürfte die Türkei daher nur als Transitland betrachten. Doch der Status als Transitland hängt auch von Umständen ab, die nur bedingt der Kontrolle der Flüchtenden unterliegen. Denn wenn die Türkei ihren (ungehinderten) Transit in die EU erlaubt, gefährdet sie den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal. In dieser Konstellation droht sie eher zur Falle für Afghan*innen zu werden; selbst wenn diese schließlich doch noch den Weg über die Grenze finden, ist der Transit deutlich verlangsamt. Das bedeutet, dass die Grenze zwischen Transit und dauerhaftem (oft geheimem) Aufenthalt verschwimmt.

Nicht zuletzt hat auch die regierende AKP große Schwierigkeiten, einen realen außenpolitischen Nutzen aus ihrer geografischen Lage zu ziehen. Während die türkischen Behörden bereits in den Monaten vor dem Fall Kabuls einen deutlichen Anstieg der Geflüchteten aus Afghanistan verzeichneten, drehte sich das Bild zuletzt, da Iran nach der Machtübernahme der Taliban seine Grenzen schloss; seitdem kommen aus dem Land deutlich weniger Afghan*innen in der Türkei an. Zudem hat die türkische Regierung Ende August, unter anderem in Gesprächen mit Außenminister Maas, deutlich gemacht, dass die Türkei «die Last einer neuen Migrationswelle» nicht tragen könne und die Aufnahme weiterer afghanischer Flüchtlinge ausschließe.

Sicherung der Ostgrenze

Deshalb verlegt sich Ankara nunmehr verstärkt auf die Sicherung seiner Ostgrenze. Ein neues Abkommen mit den EU-Staaten, das die Ost- statt der Westgrenze der Türkei zum Bollwerk gegen die afghanische Migration macht, liegt grundsätzlich ebenso im Interesse der Türkei wie auch zahlreicher EU-Länder. Die Bemühungen letzterer um eine möglichst zügige De-facto-Anerkennung der Taliban – die bis vor kurzem noch Kriegsgegner waren – zeigen, wie sehr man aus Angst vor einer neuen Migrationswelle bestrebt ist, alles zu vermeiden, was neue Formen der Instabilität (und damit mögliche Anlässe zur Migration) schaffen könnte.

Allerdings war der EU-Türkei-Deal gesellschaftlich nie unumstritten. Die politische Linke und zahlreiche Solidaritätsinitiativen, humanitäre Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Akteure haben ihn in den letzten Jahren immer wieder kritisiert. Der Deal steht vor allem für eine kalte Machtpolitik – und für die durch ihn erhöhte Abhängigkeit der EU vom Wohlwollen der türkischen Regierung.

Ob es daher zu einem neuen formalisierten Abkommen kommt, hängt – neben migrationspolitischen Interessen – auch von der Frage der Legitimation ab. Ein mehr oder minder stillschweigendes, aber belastbares Übereinkommen zwischen der EU und der Türkei könnte den Beteiligten ausreichen und vor allem politische Interessen und legitimatorische Erwägungen miteinander verknüpfen. Politische Konzessionen der EU für den Aufwand, den die Türkei zur Abriegelung ihrer Ostgrenze betreibt, lassen sich im Zweifelsfall diskret handhaben.

Angesichts der fragilen türkischen Wirtschaftslage besteht ein erhebliches Interesse der dortigen Eliten an einem weiteren Ausbau der EU-Türkei-Zollunion – vor allem um Güter, bei denen die Türkei besonders wettbewerbsstark ist, besser in die EU exportieren zu können. Es besteht also eine gemeinsame Interessensbasis, die ohnehin über die jüngsten Gemeinsamkeiten in der Afghanistan-Krise hinausreicht. Inzwischen hat sich in den europäischen Eliten die Haltung durchgesetzt, dass ökonomische Zugeständnisse an die Türkei nicht zwingend mit politischen Konditionen verbunden werden müssen. Eine Reduktion der geopolitischen Konkurrenz, etwa im mediterranen Raum, gilt als hinreichend. Bereits in den vergangenen Monaten hat die Türkei ihre Außenpolitik wieder stärker mit den geopolitischen Interessen der EU-Staaten abgestimmt und sich beispielsweise gegenüber Griechenland weniger konfrontativ verhalten. Auch das Europäische Parlament, das gemeinhin gegenüber der türkischen Regierung eine kritischere Haltung einnimmt als die Kommission, signalisiert, dass es mit einer Erweiterung der Zollunion leben kann. Im Zweifel lassen sich also auf dem Weg der handelspolitischen Erleichterungen deutlich subtilere, aber nicht unbedeutendere Konzessionen gegenüber Ankara machen. Das jedoch bestätigt erneut: Diese Deals sind und bleiben ein schmutziges Geschäft.