News | Geschichte Juristisch ein großer Schritt, politisch nur ein Etappensieg

Das Urteil von Nürnberg 1946 – Tribunal mit Langzeitwirkung

Am 1. Oktober 1946 sprach das Internationale Militärtribunal (IMT) in Nürnberg sein Urteil gegen 22 Funktionäre des NS-Regimes. Der Prozess bildet eine wesentliche Grundlage des heutigen Völkerstrafrechts, trotz der schwachen Stellung des Internationalen Strafgerichtshofs(IStGH) in Den Haag.

Treibende Kraft zur Durchführung des IMT waren die USA. Sie brachten die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich an den Richtertisch. So sorgten sie dafür, dass das IMT universelle Gültigkeit beanspruchen konnte, zumindest für den europäischen Kriegsschauplatz.

Ralf Oberndörfer ist Volljurist. Er lebt als freiberuflicher Rechtshistoriker in Berlin (www.histox.de).

Die Angeklagten – NS-System im Kleinen

Für die Auswahl der Angeklagten bildete das Buch «Behemoth» (1942) des Politologen Franz L. Neumann die Grundlage. Ausgehend von einer ökonomischen Analyse der Monopolwirtschaft in Nazi-Deutschland, arbeitete er die tragenden «Säulen» des Regimes heraus. Das war die NSDAP mit ihren Organisationen als Trägerin einer totalitären Bewegung, sowie die SS an der Spitze des organisierten Terrors. Hinzu kamen die die Kriegsindustrie und die Wehrmacht. Sie strebten einen großen Krieg an. Dafür setzten sie sich gegen die staatliche Bürokratie durch und machten den Beamtenapparat zum Komplizen. Nach der Vorstellung der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) sollten die deutschen Angeklagten diese tragenden Elemente des NS-Systems abbilden. Die im Oktober 1943 gegründete UNWCC war eine internationale Ermittlungsbehörde und bereitete die Prozesse vor. Angeklagt waren im Herbst 1945 u.a.: Hermann Göring(Reichsfeldmarschall) und Hans Frank(Generalgouverneur in Polen), Nazis der ersten Stunde. Der Karrierediplomat Konstantin von Neurath (Außenminister) und Franz von Papen(Vizekanzler) repräsentierten die deutschen Eliten vor 1933. Alfred Jodl (Wehrmachtführungsstab) und Wilhelm Keitel (Oberkommando der Wehrmacht) waren die beiden höchsten Militärs. Albert Speer (Rüstungsminister), Robert Ley(Deutsche Arbeitsfront) und Gustav Krupp(Rüstungsunternehmer) sollten die vom Regime gesteuerte Kriegswirtschaft repräsentieren. Nicht alle Angeklagten wurden nur nach dem Neumann´schen Modell ausgewählt. Hans Fritzsche (Reichspropagandaministerium) stand auch deshalb vor dem Tribunal, weil er der einzige geeignete Angeklagte war, den die Sowjets festgenommen hatten und viele hochrangige Funktionäre wie Goebbels und Himmler sich umgebracht hatten.

Die rechtlichen Grundlagen – Alte Prinzipien und neue Kategorien

Im Oktober 1943, unmittelbar nach der Gründung der UNWCC, entschieden die Außenminister der Sowjetunion, USA und Großbritannien auf einer Konferenz in Moskau, dass die Nazi-Verbrecher mit juristischen Mitteln zur Rechenschaft gezogen werden würden.

Im Sommer 1945 arbeitete das Team von US-Chefankläger Robert H. Jacksondas Londoner Statut (LS) aus, das die Prozessordnung für ein faires Verfahren enthielt. Die Sowjetunion akzeptierte die vom angelsächsischen Strafprozess geprägten Regeln.

Für die Anklagepunkte griff man bei den «Kriegsverbrechen» (Art. 6 b LS) auf eine klar umrissene Kategorie des Völkerrechts zurück. Eine komplette Neuschöpfung waren die «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» (englisch: «crimes against humanity»; Art. 6 c LS). Kriegsverbrechen setzen kriegerische Handlungen voraus, bei denen verbotene Methoden eingesetzt werden. Die NS-Vernichtungsverbrechen wurden in vielen Fällen weit hinter der Front und ohne Beteiligung kämpfender militärischer Einheiten begangen. Zur Schließung dieser Regelungslücke dienten die «crimes against humanity».

Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach diesen beiden Anklagepunkten war das Vorliegen eines Verbrechens gegen den Frieden (Art. 6 a LS), insbesondere die Entfesselung eines Angriffskrieges. Auch das war eine juristische Neuerung. Sie ließ sich aus der Haager Landkriegsordnung 1899/1907, den Statuten des 1920 gegründeten Völkerbundes und dem Briand-Kellogg-Pakt 1928 ableiten. Das Abkommen des französischen und US-Außenministers enthielt als bindendes Prinzip den «Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik». Der Anklagepunkt «Verbrechen gegen den Frieden» führte dazu, dass Verbrechen vor dem 1. September 1939 nicht in die Anklage einbezogen wurden. Erst nach dem Überfall auf Polen hatten Großbritannien und Frankreich Deutschland förmlich den Krieg erklärt. Der Gerichtshof hielt sich, juristisch und politisch-kommunikativ wohl klug, moralisch vielleicht Unbehagen erzeugend, aus der Frage von Verbrechen an Deutschen bzw. in Deutschland ab 1933 weitgehend heraus.

Für jeden Angeklagten verfassten die Anklagevertreter, die wie die Richter aus den vier Mächten des Tribunals stammten, eine Anklageschrift. Dabei legten sie fest, ob er sich der Verschwörung («conspiracy») oder anderer Vorbereitungshandlungen zu einem der Anklagepunkte schuldig gemacht hatte (Art. 6 LS). Außerdem wurde bei jedem Angeklagten geprüft, ob er Angehöriger einer verbrecherischen Organisation (Art. 9 LS) gewesen war.

Wäre es nach den USA gegangen, wäre die «conspiracy» separat für Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geprüft worden. Den völkerrechtlich erfahreneren und skeptischeren Briten erschien das Londoner Statut angreifbar. Sie setzten eine Beschränkung des Anklagepunkts Verschwörung auf den Angriffskrieg durch.

Während heute die Verbrechen des NS-Systems häufig auf das Schlagwort «Auschwitz» reduziert werden, spielte die Vernichtung der europäischen Juden im IMT nicht die entscheidende Rolle. Dem IMT ging es in erster Linie darum, das NS-System als Ganzes in seinen verbrecherischen Arbeitsteiligkeit zu präsentieren. Dabei standen Spitzenfunktionäre im Mittelpunkt, die wie Göring oder von Ribbentrop auch international bekannt waren. Lokale Verantwortliche in den Vernichtungslagern und bei den Tötungseinheiten waren aus der Sicht der Siegermächte zu weit weg von den eigentlichen Machtpositionen. Die Einsatzgruppen wurden im Fall 9 der Nachfolgeprozesse 1947/1948 verhandelt. Auschwitz kommt erst mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann1961 ins allgemeine Bewusstsein.

Viel Zeit wurde darauf verwendet, die teilweise strukturlose Vorgehensweise der NS-Behörden und Organisationen zu rekonstruieren. Im «Darwinismus der Institutionen» kämpften verschiedene Zweige des NS-Systems um Kompetenzen und stachelten sich zu mehr Radikalität an. (vgl dazu die Literatur u.a. Dieter Rebentisch oder Ian Kershaw) Um eine Legendenbildung der Deutschen wie nach 1918 («Kriegsschuldlüge») zu verhindern, bildete Schriftgut des Deutschen Reichs die wesentliche Basis der Beweisführung. Das IMT überführte die Nazis anhand ihrer eigenen Akten. Es war ein Prozess der Dokumente – «a trial by documents».

Die Strafen – Freisprüche, Freiheitsstrafen, Tod durch den Strang

Für von Papen, Fritzsche und Hjalmar Schacht (Reichsbank) gab es Freisprüche. Das Todesurteil verhängte das IMT für Göring, Frank, Jodl, Keitel, Arthur Rosenberg (Ostgebiete), Fritz Sauckel (Arbeitseinsatz), Julius Streicher (Herausgeber des antisemitischen «Der Stürmer»), Arthur Seyß-Inquart (Niederlande), Ernst Kaltenbrunner (Reichssicherheitshauptamt), Wilhelm Frick (Innenminister), Joachim von Ribbentrop (Außenminister) und Martin Bormann (Parteikanzlei). Bormann galt als verschollen, hatte sich aber in den letzten Kriegstagen in Berlin das Leben genommen. Gegen ihn wurde in Abwesenheit verhandelt. Göring nahm sich das Leben, die anderen wurden gehängt.

Freiheitsstrafen erhielten Speer, von Neurath, Baldur von Schirach (Hitlerjugend), Karl Dönitz (U-Boot-Flotte, ab 1943 Oberbefehlshabe der gesamten Marine, fanatischer Hitler-Unterstützer und von diesem als sein Nachfolger eingesetzt), Walter Funk (Wirtschaftsminister), Erich Raeder (Kriegsmarine bis 1943) und Rudolf Heß (Stellvertreter des «Führers» in seiner Parteifunktion bis 1941). Funk und von Neurath wurden aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen, die anderen verbüßten ihre Strafen vollständig.

Zu verbrecherischen Organisationen erklärte das Urteil das politische Führungskorps der NSDAP, Gestapo, SS und SD (Sicherheitsdienst der SS). Nicht pauschal verbrecherisch im Sinne der Anklage waren die SA, die Reichsregierung sowie Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht. Letztere Entscheidung ist heute bzw. wurde später fester Bestandteil der Legende von der «sauberen Wehrmacht».

Rezeption, Folgewirkung und Kritik

Das Verfahren war fair, das räumten auch viele deutsche Strafverteidiger in Nürnberg ein. Aber das Urteil war endgültig, es gab kein Rechtsmittel dagegen. Der Kalte Krieg zog herauf, man sah das Zerwürfnis der «Anti-Hitler-Koalition» kommen und wollte ein Zeichen für die Weltgemeinschaft setzen. Das Statut des IStGH sieht heute eine Überprüfung seiner Urteile vor.

Polen blieb als Gerichtsstaat außen vor. Die Sowjetunion hätte nicht teilgenommen, wären der Hitler-Stalin-Pakt oder die Verbrechen von Katyn zur Sprache gekommen. Das war eine politische Konzession und ist ein bleibender Makel. Auch für das jüdische Volk war kein Anklagevertreter zugelassen, auch wenn jüdische Organisationen sich dafür einsetzten. Ein nichtstaatlicher Vertreter* in einem völkerrechtlichen Verfahren erschien als juristisch zu heikel. Israel wurde erst 1948 gegründet.

Durch den Suizid von Robert Ley vor Prozessbeginn und die Verhandlungsunfähigkeit von Gustav Krupp blieb von der Anklage gegen die Rolle der Wirtschaftsunternehmen nicht viel übrig. Die USA wollten gegen den Krupp-Konzern unbedingt ein Verfahren durchzuführen. So kam es zu den zwölf US-Nachfolgeprozessen(1946-1949) mit weiteren Verfahren gegen Flick, die IG Farbenoder auch das Auswärtige Amt (Wilhelmstrassenprozess). Im Einsatzgruppenprozess stand der systematische Mord an den europäischen Juden* durch Massenerschießungen im Mittelpunkt. Erst der Prozess 1961 gegen Adolf Eichmannin Jerusalem brachte die Vernichtungslager ins internationale Bewusstsein. Hier sprach die Anklage im Namen der jüdischen Opfer, für die Nürnberg kein Ort sein durfte.

Mit den Nachfolgeprozessen gegen weitere Funktionsgruppen des NS-Regimes und den Prozessen in Tokio sah das IMT zwei wichtige Fortsetzungen. Bei den Tokioter Prozessen 1946 gegen die japanischen Kriegsverbrecher kamen die Richter u.a. aus China, Indien und den Philippinen. Diese Prozesse waren Vorboten der Entkolonialisierung und eine wichtige Ergänzung für den universalistischen Anspruch, der mit dem Völkerstrafrecht verbunden wird. Auch wurden dadurch wenigstens einige Verbrechen des Zweiten Weltkriegs außerhalb Europas aktenkundig gemacht. Heute wird dem Internationalen Strafgerichtshof nicht völlig ohne Grund vorgeworfen, das Völkerstrafrecht sei postkolonialistisch einseitig. Es nähme vor allem afrikanische Warlords ins Visier, niemals westliche Politiker wie George W. Bush oder Tony Blair. Auch fehlen nach wie vor wichtige Demokratien bei der Ratifizierung seines Statuts. Das UN-Jugoslawien-Tribunal war zumindest ein erster Ansatz, Prinzipien des Völkerstrafrechts auch für europäische Verbrechen zu etablieren.

Was bleibt: Auch politische Antagonisten* können sich auf universalistische Prinzipien einigen. Völkerstrafrecht kann dazu dienen, Groß-Verbrechen zu ahnden. Verfahren mit einer politischen Dimension wirken besonders nachhaltig, wenn sie glaubwürdig auf fairen Verfahrensgarantien basieren. Die Nürnberger Nachfolgeprozesse bildeten eine weitere wichtige Säule der Aufarbeitung der NS-Verbrechen und waren, was die Zahl der Angeklagten und die Beweismittel angeht, sogar noch umfangreicher als das IMT. Wer die Anklagepunkte des Statuts von Rom liest, das die Grundlage für den IStGH ist, kann sehen, dass die Staatengemeinschaft hier eine Menge aus Nürnberg gelernt hat. Was die normative Ächtung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeht, ist man heute einen Schritt weiter. Es fehlt vor allem am politischen Willen, nicht mehr an den juristischen Mitteln.

Tipps zum Weiterlesen

Helmut Krausnick: Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1838-1942, Fischer, Frankfurt/M. 1993

Kim Christian Priemel/Alexa Stiller: Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburger Edition, Hamburg 2013

Hubert Seliger: Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse, Nomos, Baden-Baden 2016

Telford Taylor: Die Nürnberger Prozesse: Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, Heyne, München 1994

Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse, Beck, München 2019

Klaus Kastner (Präsident des Landgerichts Nürnberg-Fürth a.D.): Der Nürnberger Prozess.Das Internationale Militärtribunal 1945-1946, Online-Dokument, 1995 (mehr im PDF)

Memorium Nürnberger Prozesse, das Museumam Ort des Prozesses, mit vielen weiteren Informationen.