News | Geschlechterverhältnisse - Parteien / Wahlanalysen - Andenregion Portrait einer kommunistischen Bürgermeisterin

Die Feministin Irací Hassler wurde als Kandidatin der Kommunistischen Partei Chiles im Mai dieses Jahres zur Bürgermeisterin des wichtigsten Bezirks der Hauptstadt Santiago gewählt.

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Irací Hassler bei den Feierlichkeiten zur Amtsübergabe mit einem grünen pañuelo, einem Symbol der feministischen Bewegung und der Kämpfe für legalen und gerechten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. CC BY-NC 2.0, Renato Pizarro

«Ein Projekt für das Gute Leben im Viertel», ist das Ziel der neuen Bürgermeisterin der chilenischen Gemeinde Santiago Centro, einem kleinen, jedoch wichtigen Bezirk der Hauptstadt Santiago. Hassler regiert hier mehr als 400.000 Chilen*innen auf einer Fläche von 22 Quadratkilometern. Santiago Centro ist dabei eine der strategischsten Gemeinde des Landes, da sich hier unter anderem die Sitze wichtiger politischer Institutionen befinden.

Die Wahl von Irací Hassler Jacob hat im ganzen Land großen Eindruck hinterlassen. Denn hier hat eine gerade mal 30-jährige Frau einen Wahlerfolg eingefahren, eine Feministin und Kommunistin, die in der Arbeit mit den regionalen Kämpfen sozialer Bewegungen und Nachbarschaften verwurzelt ist. Die Erfahrungen ebendieses politischen Werdegangs versucht Hassler nun in das Amt der Bürgermeisterin einfließen zu lassen – ein Projekt, das sie nach eigener Aussage als «feministisch und antineoliberal» beschreibt, das für soziale Rechte steht, das «nachhaltig ist, die Menschenrechte achtet und die Diversität, das Erbe und die Multikulturalität unserer Gemeinde als größten Reichtum schätzt».

Hugo Guzmán Rambaldi ist ein chilenischer Journalist und Mitarbeiter im Wissenschaftsinstitut Wissenschaftsinstitut Alejandro Lipschutz (ICAL), Partnerorganisation des RLS-Büros in Buenos Aires. Er ist Chefredakteur der digitalen Wochenzeitung «El Siglo». Zuvor leitete er die internationale Redaktion von «Canal 11» in Mexiko und war als Redakteur in unterschiedlichen Medien Mexikos tätig.

Übersetzung: Susanne Brust

Seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1990 war das Bürgermeister*innenamt der Gemeinde Santiago Centro von konservativen, sozialdemokratischen oder christlich-demokratischen Parteien besetzt worden. Das ändert sich nun mit der Wahl der in der Kommunistischen Partei Chiles (PC) organisierten Politikerin.

Eine wichtige Argumentationsgrundlage für die Politik und den Wahlkampf von Hassler war der Plan, Nachbarschaftsorganisationen und soziale Bewegungen aus Santiago für einen «verfassunggebenden Gemeinderat» zusammenzubringen. Hasslers Arbeit soll demnach in enger Verbindung mit dem verfassunggebenden Prozess stehen, der derzeit in Chile läuft. Die neue Verfassung des Landes soll 2022 verabschiedet werden.

Ein weiterer Grund für den Wahlerfolg der jetzigen Bürgermeisterin war ihre Basisnähe, mit den Menschen aus dem Bezirk in Kontakt zu sein und mit ihnen zu sprechen. Das hatte sie bereits seit 2016 im Amt der Stadträtin gezeigt – eine Art Vorbereitung auf ihre jetzige Aufgabe in der Leitung der Innenstadtgemeinde.

Auf ihrem Weg ins Bürgermeisterinnenamt musste sich Hassler zunächst gegen den bisherigen Bürgermeister von Santiago Centro, Felipe Alessandri, durchschlagen. Allesandri hatte als konservativer Politiker und Kandidat des rechten Bündnisses Chile Vamos eine Wiederwahl angestrebt. Auch die Parteien der ehemaligen Concertación hat Hassler hinter sich gelassen, eine Koalition, die sozialdemokratische und christlich-demokratische Kräfte vereint und sich ihrerseits darum bemüht hatte, die Rechte in der Gemeinderegierung zu ersetzen. Nicht gerade eine einfache Ausgangssituation für eine neue Führungspersönlichkeit, eine Feministin, Kommunistin und Antineoliberale wie Hassler.

Der Wahlerfolg

Irací Hassler trat bei den Wahlen am 15. und 16. Mai 2021 als Kandidatin für das Amt der Bürgermeisterin in der chilenischen Hauptstadt an. Als Vertreterin der linken Koalition Chile Digno, Verde y Soberano («Chile mit Würde, grün und eigenständig») erhielt sie 38,68 Prozent der abgegebenen Stimmen. Damit besiegte sie den rechten Kandidaten Felipe Alessandri, der 35,3 Prozent der Stimmen erhielt. Unter den Wahlergebnissen im ganzen Land war dies einer der am meisten beachteten Wahlsiege der Linken und insbesondere der kommunistischen Kräfte. 

Hassler war seit 2016 Stadträtin in der Regierung von Santiago gewesen und hatte Anfang Dezember 2020 an einer sogenannten «konstituierenden Vorwahl» für das Bürgermeister*innenamt teilgenommen. In den Vorwahlen wurde durch etwa 60 politische und gesellschaftliche Organisationen entschieden, wer als Kandidat*in antreten und linke und progressive Bereiche der Gesellschaft vertreten sollte. Hassler erhielt 55 Prozent der Stimmen und stieg so zur Kandidatin für die Leitung der Kommune auf, als welche sie dann die Organisationen vertrat, die an der konstituierenden Vorwahl beteiligt waren.

Bei der Vorwahl waren unterschiedliche Basisbewegungen und Parteien gegeneinander angetreten: Movimiento Dignidad Popular («Bewegung für die Würde der Menschen»), Partido Igualdad («Partei für die Gleichheit»), Asociación Chilena de Barrios Patrimoniales («Chilenische Vereinigung für die Altstadt»), die mitte-links Partei Partido Liberal und die Kommunistische Partei Chiles. Es habe sich um «einen bislang unbekannten Prozess der Mitbestimmung» gehandelt, erklärte Hassler nach dem Wahlsieg. «Das Programm war offen konzipiert. 52 Organisationen aus Santiago haben gesagt: ‹Wir wollen nicht mehr, dass Kandidaten und Kandidatinnen von außen kommen. Solche, die sich Santiago einheimsen wollen, aber die die unterschiedlichen Realitäten gar nicht kennen›. Stattdessen», so Hassler, «wollten wir ein Programm von unten aufbauen, von der Gemeinschaft aus. Heute können wir sehr stolz sagen, dass dieses Programm Fortschritte gemacht hat. Mit der Vorwahl an der Basis gab es einen einzigartigen Prozess der Mitbestimmung, an dem unglaublich viele teilgenommen haben (...), ganz ohne die Medien, sondern durch Arbeit auf der Straße, kollektive Arbeit.»

Tatsächlich zeigte die mediale Berichterstattung die PC-Kandidatin permanent auf den Straßen, in den Stadtteilen, auf Plätzen, in Parks, Nachbarschaftsversammlungen, Senior*innentreffs oder Kultur- und Erholungszentren. Immer war die Politikerin auf der Suche nach dem direkten Zusammenkommen mit den Menschen ihrer Gemeinde. Auch in den sozialen Netzwerken war sie aktiv und machte mit geringen Ressourcen Wahlkampf. Von Meinungsumfragen hielt sie wenig – keine einzige konnte vor der Wahl vorhersagen, dass sie schließlich auf dem ersten Platz landen würde.

Der Sprung ins Amt der Bürgermeisterin

Irací Hassler Jacob hat schweizerische und brasilianische Wurzeln in ihrer Familiengeschichte. Sie hat an der Universidad de Chile Wirtschaft studiert und schloss dort außerdem einen Magister in Kulturwissenschaft und Gender Studies ab. Im Jahr 2011 trat sie inmitten intensiver Kämpfe von Schüler*innen der Oberstufe und Studierenden der kommunistischen Jugendorganisation Chiles (Juventudes Comunistas de Chile, JJCC) bei. 2014 wurde sie zur Generalsekretärin des Verbandes der Universitätsstudierenden (Federación de Estudiantes de la Universidad de Chile, FECH) gewählt und stieg in die Leitung der kommunistischen Jugend auf. Im Jahr 2018 trat sie schließlich der Kommunistischen Partei Chiles bei. Ihr Fokus verschob sich von nun an von studentischen Kämpfen hin zu Auseinandersetzungen in den Wohngegenden. Sie begann mit der Arbeit in den Vierteln der chilenischen Hauptstadt und beschäftigte sich mit der Situation der Bewohner*innen, Frauen, Migrant*innen, der LGBTIQ*-Community, der Jugendlichen und Arbeiter*innen.

In einem Interview erzählte sie mir: «Ich fing an, Das Kapital von Karl Marx zu lesen. Für mich war das eine entscheidende Erkenntnis, die mich dazu drängte, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für den Kampf gegen die Aneignung fremder Arbeit, die die Kapitalisten betreiben und damit die Entwicklung der Arbeiterinnen und Arbeiter verhindern. Das war ein Teil der Ideologie, der ich mich angeschlossen habe: die kommunistischen Ideen und die der Transformation.»

Zwar schätze sie den studentischen Kampf und all die Erfahrungen rund um die Studierendenproteste von 2011, entschloss sich jedoch auch andere politische Räume zu erschließen und vor Ort in den Bezirken zu arbeiten. So entschied sie sich gegen ein weiteres Studium, um sich vollkommen der Arbeit in dem Stadtteil zu widmen, den sie schon gut kannte: «Ich lebte bereits vorher in der Gemeinde von Santiago Centro. Ich lernte die Räume der Gemeinschaft, die Viertel, die Geschichte, die Bildungsgemeinschaften, die Geschäfte und den Tourismus kennen. All das gehört zu dieser Gemeinde mit mehr als 500.000 Einwohnern und Tausenden anderen, die in die Gemeinde kommen.»

Am 28. Juni 2021 hat die Politikerin ihr Amt in einem Kolonialbau an der zentralen Plaza de Armas in Santiago angetreten. In einem Interview mit der Tageszeitung «El Siglo» erläutert Hassler die kollektiven Anstrengungen des Wahlprozesses. So bedeute ihre Ankunft auf diesem strategischen Posten einen Sieg der Stadtviertel: «Dass ich hier bin, hat eine Vorgeschichte und die besteht in der Erarbeitung eines gemeinsamen Programmes für die Veränderung Santiagos. Dieses Programm ist in unterschiedlichen Instanzen kollektiv ausgearbeitet worden – zunächst in Präsenzsitzungen, dann in virtuellen. Und schließlich gehört dazu auch die Durchführung einer Vorwahl der Bürger im Dezember des vergangenen Jahres». Sie führt fort: «Es gab einen Prozess der Einigkeit, der sich in historischen Kämpfen ausgedrückt hat: die Rettung des historischen Erbes, die Eroberung historischer Bereiche der Stadt von plündernden Immobilienkonzernen und der Schutz der öffentlichen Parks.» Ebenso wichtig sei der Schutz der gemeinschaftlichen Bildungseinrichtungen, um eine öffentliche Bildung zu schaffen und zu schützen, die kritisches Denken fördert. Nur so könnten neue Entwicklungsmodelle erfunden werden.

Die Rolle der Kommunistischen Partei

Kandidat*innen der Kommunistischen Partei mussten im Wahlkampf mehr Hürden nehmen als die anderer politischer Kräfte in Chile. Denn in weiten Teilen der Gesellschaft herrscht ein glühender Antikommunismus, Stigmatisierungen und Misstrauen gegenüber kommunistischen Kandidat*innen sind an der Tagesordnung.

Dass die PC so lange ausgeschlossen wurde, war auch Folge des Wahlsystems, das die Verfassung aus Zeiten der Diktatur hinterlassen hatte. Das System verankerte eine Konzentration auf die Parteien der politischen Rechten sowie die sozialdemokratischen und christlich-demokratischen Parteien. Schließlich wurde es außer Kraft gesetzt, sodass heute ein Wahlsystem vorherrscht, das größere Repräsentativität gewährleistet. Heute stellt die PC eine solide Fraktion im Abgeordnetenhaus und besetzt in fünf Kommunen das Bürgermeister*innenamt, darunter Santiago Centro mit Irací Hassler und die ebenfalls in der Hauptstadt gelegene Gemeinde Recoleta mit Daniel Jadue, der als Führungspersönlichkeit in der Linken zu den Vorwahlen für die Präsidentschaftskandidatur angetreten ist. Bei den letzten Stadtratswahlen konnte die PC ihre Stimmenanteile im ganzen Land von fünf auf neun Prozentpunkte erhöhen. Im Kabinett von Ex-Präsidentin Michelle Bachelet leiteten PC-Mitglieder außerdem zwei Ministerien: Claudia Pascual war Ministerin für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter und Marcos Barraza Minister für gesellschaftliche Entwicklung.

Im Interview macht Hassler klar: «Wir haben auf unterschiedliche Arten und Weisen gezeigt, dass wir fähig sind zu regieren. Ich denke, dass die Mythen so allmählich abgebaut werden.» Ihr Anliegen, die Regierungsfähigkeit der PC unter Beweis zu stellen, ist vor allem dem grassierenden Antikommunismus geschuldet. Bereits vor ihrer Wahl zur Bürgermeisterin waren die argwöhnischen Blicke der politischen Rechten, der konservativen Medien und der Unternehmen ohnehin auf Hassler und ihre Arbeit gerichtet. Viele blicken aufmerksam insbesondere darauf, wo sie Fehler macht oder scheitert.

Auch deswegen betont Hassler immer wieder, «dass wir Kommunistinnen und Kommunisten vereint mit sozialen und politischen Organisationen viel in die Gesellschaft einbringen können. Aus der Kommunistischen Partei Chiles kommen Führungspersönlichkeiten, die Stellung zu Themen beziehen: Sie sind feministisch, jung, und haben etwas drauf – und das ist richtig gut.»

In diesem Sinne besteht Irací Hassler auch auf den Entwurf ihres «konstituierenden Bürgermeisteramts», das sie als feministisch, multikulturell, antineoliberal und transformatorisch beschreibt, in dem sie für soziale Rechte und Diversität einsteht. In den ersten Monaten ihrer Amtszeit hatte sie jedoch zunächst mit der Zunahme von Kriminalität sowie Problemen der öffentlichen Sicherheit zu kämpfen. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Proteste, das repressive Vorgehen der Polizei, die schwierigen Situationen von Straßenverkäufer*innen und die von Migrant*innen.

Buen Vivir – das Gute Leben

«Buen Vivir» – das Gute Leben – ist das, was sich Irací Hassler für die Einwohner*innen der chilenischen Hauptstadt wünscht. So lautet auch der Slogan der Stadtverwaltung auf ihr Geheiß hin nun «Vivamos bien Santiago» – «Lasst uns (in) Santiago gut leben». Auf dem Weg dahin geht es um Gesundheit, Bildung, Wohnen, Transport, Arbeitsplätze und Sicherheit.

Hassler gibt zu denken, dass es in Santiago insgesamt mehr aktive Partizipation von Nachbar*innen sowie ihren Organisationen brauche. Außerdem seien mehr Transparenz, Kontrollen und gemeinsame Führung gefragt. Gleichzeitig müssten patriarchale Strukturen abgeschafft, mehr feministische Impulse gesetzt und sexuelle Diversität gefördert werden. Um all das zu erreichen, hat Hassler das Konzept der «Konstituierenden Demokratie» eingeführt, ein Modell der Mitbestimmung, das partizipativ und direkt ist. So soll die gemeinsame Regierung des Stadtteils mit Befragungen, die für die wichtigen städtischen Entscheidungen verbindlich sind, gefördert werden – «gemeinsam mit den Nachbarn für ihr Wohlergehen».