Auch unter der neuen rot-grün-gelben «Fortschrittskoalition» bleiben Schwangerschaftsabbrüche im Strafgesetzbuch geregelt – das steht nun fest. Eine Entkriminalisierung des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung wird es nicht geben – auch in dieser Frage ist also leider kein Fortschritt in Sicht.
Dabei sind Feminist*innen dafür in den letzten Jahren weltweit auf die Straße gegangen und in einigen Ländern, wie Argentinien und Irland, durchaus mit Erfolg. Dennoch wird das Recht von Frauen, selbst zu entscheiden, ob und wann sie Kinder kriegen wollen, von Konservativen und Rechten immer wieder neu angegriffen.
Gleichzeitig wird auch hierzulande deutlich, dass echte Wahlfreiheit nicht allein durch individuelle Abwehrrechte gegen den Zugriff von Kirche, Staat oder Patriarchat entsteht, sondern dass es dafür positive soziale Rechte und ökonomische Ressourcen braucht. Und zwar nicht nur dafür, einen Abbruch durchzuführen, sondern auch für alle Entscheidungen, die mit dem Kinderkriegen, Kindergroßziehen und Füreinandersorgen verbunden sind. Aufgrund von Armut, Diskriminierung und Angst ist es bis heute für viele Menschen schwer Kinder zu bekommen und sie in abgesicherten Verhältnisse großzuziehen. Hier setzt «reproduktive Gerechtigkeit» an und erweitert den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung.
Ursprünge des Konzepts: Kinderkriegen als Akt des Widerstands
Die Forderung nach reproduktiver Gerechtigkeit wurde ursprünglich von Schwarzen Feminist*innen und Feminist*innen of Color entwickelt, die ihre Anliegen im überwiegend weißen Mainstream-Feminismus nicht vertreten sahen. Sie kritisierten den einseitigen Fokus auf Schwangerschaftsabbruch und betonten das Recht, sich nicht nur gegen, sondern auch für das Kinderkriegen entscheiden zu können.
US-amerikanische Feminist*innen der Organisation Sister Song prägten dafür den Begriff der reproductive justice. In der von Sklaverei und Rassismus geprägten US-Gesellschaft mussten Schwarze Frauen historisch für das Recht auf Kinder und Familienleben kämpfen – gegen Politiken der Zwangssterilisierungen und Familientrennungen und gegen die Bedingungen von Armut, Polizeigewalt und institutionellem Rassismus. Doch auch anderen Gruppen wurde und wird der Zugang zu Mutter- und Elternschaft erschwert: Queers, Transgender und Menschen mit Behinderungen galten und gelten teils als «illegitime» Eltern. Auch für arme und proletarische weiße Frauen ist das bürgerliche Ideal der Mutter oft nicht lebbar. Oft wurde das Bild einer sexuell und moralisch unzuverlässigen Armutsbevölkerung gezeichnet, die zu einer verantwortlichen Familienplanung nicht in der Lage sei. Das Kinderkriegen marginalisierter Frauen wurde dann zur Ursache von deren Armut und Unterdrückung erklärt. So war es das rassistische Stereotyp der «Black Welfare Queen», die früh Mutter wird und so dem Staat auf der Tasche liegt, mit dem unter Präsident Reagan ein Frontalangriff auf den Wohlfahrtstaat eingeleitet wurde. Vor diesem Hintergrund gilt für Schwarze und Feminist*innen of Color die Familie nicht nur als Ort patriarchaler Unterdrückung – sondern auch als Schutzraum und Ort des Widerstands gegen eine feindselige Gesellschaft.
Reproduktive Gerechtigkeit heißt Gesellschaftsveränderung
Loretta Ross, Mitbegründerin der Frauenorganisation Sister Song ist zentrale Vordenkerin des Konzepts. Sie definiert reproduktive Gerechtigkeit folgendermaßen: Erstens das Recht, Kinder zu haben, zweitens das Recht, kein Kind zu haben, drittens das Recht, Kinder unter sicheren und gesunden Bedingungen aufziehen zu können, sowie viertens als sexuelle Selbstbestimmung für alle (Ross/Solinger 2017). Das Konzept verbindet damit die Forderungen nach reproduktiven Rechten, reproduktiver Gesundheit und social justice. Es geht über individuelle Rechte hinaus und zielt auf allgemeine soziale Absicherung, aber auch auf die Freiheit von Diskriminierung und Gewalt und den Zugang zu ökonomischen und ökologischen Ressourcen. Damit wird klar: Reproduktive Gerechtigkeit erfordert grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Damit erweitert sich das Terrain feministischer Kämpfe: Von einem liberalen Verständnis individueller Gleichberechtigung hin zu einer Perspektive umfassender Befreiung von Klassenherrschaft, Sexismus und Rassismus.
Ungleichheiten werden sichtbar
Das Konzept ist inzwischen auch in feministischen Diskussionen in Deutschland angekommen. Auch hier hilft es, sichtbar zu machen, dass Elternschaft eine Klassenfrage ist: Vielen Menschen fehlen angesichts von prekären Jobs und steigenden Mieten schlicht die finanziellen oder zeitlichen Ressourcen, um Kinder unter guten Bedingungen aufzuziehen. Zudem bleibt legitime Mutter- und Elternschaft an die Norm der weißen, heteronormativen Leistungsträgerin geknüpft. Dafür stehen nicht nur die Kämpfe von homosexuellen Paaren und von Menschen mit Behinderung, denen das Recht auf ein eigenes Kind oft abgesprochen wird. Es zeigt sich auch in einer sozial selektiven Familienpolitik, die arme Menschen entmutigt, Kinder zu kriegen (etwa durch die Anrechnung des Kindergeldes auf den Hartz IV-Satz) und zugleich Besserverdienende gezielt dazu animiert (durch ein einkommensabhängiges Elterngeld). Kinderreiche Hartz-IV-Familien werden oft als «asozial» stigmatisiert, «Migrantenkinder» als fremd und kriminalitätsgefährdet. Besonders schwierig ist die Situation für geflüchteten Menschen, die ohne Privatsphäre in Sammelunterkünften leben müssen oder deren Familien gar durch Abschottung und Abschiebung dauerhaft auseinandergerissen werden.
Erweiterung der Kämpfe: Wahlfreiheit braucht (Infra-)Strukturen
Um reproduktive Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist es notwendig, den Kampf für sexuelle Selbstbestimmung mit anderen Bewegungen zu verknüpfen. An erster Stelle stehen hier feministische Kämpfe um eine Aufwertung von Sorge- und Reproduktionsarbeit. Dafür braucht es soziale Infrastrukturen, die von einer freien Beratung zu Abbrüchen bis zur selbstbestimmten Geburtshilfe reichen, von der entgeltfreien Kitabetreuung bis zu guter Gesundheitsversorgung für alle. Zugleich wird deutlich, wie eng der Kampf um reproduktive Rechte mit dem Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung verknüpft ist. Auch Selbstorganisierung gegen Homophobie, Diskriminierung und rassistische Grenz- und Migrationspolitik sind in diesem Sinne Politiken reproduktiver Gerechtigkeit.