2021 ist für Mexiko ein geschichtsträchtiges Jahr: Vor 700 Jahren wurde Tenochtitlán erbaut. Vor 500 Jahren eroberte Hernán Cortés die Stadt, auf deren Gebiet die Spanier später Mexiko-Stadt gründeten. Und vor 200 Jahren wurden die spanischen Herrscher aus Mexiko vertrieben. In ihrer letzten Kolumne erzählt Roselia Chaca, wie indigene Sprachen in Mexiko als rückständig gebrandmarkt und systematisch aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurden. Doch die Sprachen weigern sich, zu verschwinden.
Ay!, didxazá, diidxazá,/ diidxa’ rusibani naa,/ naa nanna’ zanítilu’,/ dxi guiniti gubidxa cá ¡Ay! zapoteco, zapoteco – Sprache, die mir das Leben gibt, / ich weiß, dass du sterben wirst / an dem Tag, an dem die Sonne stirbt
So beginnt ein Gedicht, das der zapotekische Schriftsteller Gabriel López Chiñas vor mehr als 70 Jahren schrieb. Die Sprecher*innen des Zapotekischen im südmexikanischen Oaxaca erfüllt dieses Gedicht mit Stolz. Denn dem Mythos nach besitzen sie eine der Sprachen der ersten Menschen, die aus den Wolken auf die Erde kamen. López Chiñas schrieb das Gedicht zu einer Zeit, als Spanisch in allen Teilen Mexikos als Amtssprache durchgesetzt wurde. Im Jahr 1921 hatte der mexikanische Staat mit dem Philosophen José Vasconcelos eine Bildungsreform umgesetzt, bei der die Alphabetisierung der indigenen Bevölkerung auf Spanisch gefördert wurde. Die Lehrer*innen setzten im ländlichen Raum ein Bildungsmodell um, das auf Schlägen und der Diskreditierung der ursprünglichen Sprachen beruhte – und beschleunigten somit deren Verlust.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe «Das indigene Mexiko» von Roselia Chaca.
Roselia Chaca ist eine zapotekische Journalistin in Mexiko. Sie lebt und arbeitet in Oaxaca und ist dort Korrespondentin der mexikanischen Tageszeitung El Universal. Aus dem Spanischen von Tobias Lambert.
Indigene Sprachen wurden in ins Private verdrängt
Dieses Bildungsmodell hat in Mexiko bis heute Bestand. Es hat geschafft, die Nation um eine einzige Sprache herum zu vereinen und die anderen Sprachen, die vor der Ankunft der Spanier existierten, aus dem öffentlichen in den privaten Raum zu verdrängen. Meine Freund*innen und ich sind ein Ergebnis dieser Kampagne. Ich erinnere mich noch gut daran, wie uns die Lehrer*innen bestraften, wenn wir im Klassenzimmer Zapotekisch sprachen. Es war üblich, dass sie uns ohrfeigten, weil wir die Sprache unserer Mütter und Großmütter verwendeten. Für uns verursachte dies Traumata, weil wir Zapotekisch fortan mit Strafe assoziierten. Zu Hause war die Situation nicht anders. Meine Eltern sprachen nicht Zapotekisch mit mir, weil sie dies als Hindernis für den Erfolg im schulischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich betrachteten. Spanisch war also ein Indikator für Entwicklung. In den Klassenräumen hatten meine Eltern gelernt, dass Zapotekisch keinen Wert besaß. Es galt als gleichbedeutend mit Rückständigkeit, Analphabetentum, typisch für eine wilde Umgebung. Und so wurde Zapotekisch zu meiner zweiten Sprache, die ich nur im Haus meiner Großmutter und auf der Straße, beim Spielen mit den Mädchen aus meinem Viertel, praktizierte.
Bei meiner Arbeit als Journalistin in den indigenen Gemeinden von Oaxaca stellte ich fest, dass sich die Situation im Vergleich zu vor 40 Jahren kaum verändert hat: In den Klassenräumen wird weiterhin Spanisch gegenüber den einheimischen Sprachen bevorzugt. Die Verdrängung geht Schritt für Schritt selbst in den zweisprachigen Schulen weiter, wo der Unterricht in einer indigenen Sprache auf zwei Stunden pro Tag beschränkt ist. In einigen Fällen klappt nicht einmal das, wenn Lehrer*innen die Sprache der Gemeinde, die ihnen zugewiesen wurde, nicht beherrschen. Die 68 indigenen Sprachen, die von mehr als sieben Millionen Mexikaner*innen gesprochen werden, kämpfen erbittert um ihr Überleben in einem zunehmend hispanisch geprägten Land. Es ist ein Kampf, der den mexikanischen Staat dazu auffordert, das sprachliche und kulturelle Wissen sowie die Weltanschauung seiner lokalen Gemeinschaften in die Bildungsprogramme aufzunehmen. Die Sprachen leisten Widerstand, um nicht vom Angesicht der Welt zu verschwinden.
Manche Sprachen könnten aussterben
Viele dieser indigenen Sprachen haben eine solide literarische Tradition, wie das Zapotekische, das Mixtekische und das Mixe aus Oaxaca, das Maya der Halbinsel Yucatán, das Maya von Chiapas, das Nahuatl aus dem Zentrum des Landes und das Rarámuri aus dem Norden. Sie haben sich in den vergangenen Jahren sehr stark Gehör verschafft und werden wieder mehr genutzt. Doch es gibt auch Sprachen, die vom Aussterben bedroht sind, wie Chocholtekisch in Oaxaca, Olutekisch in Veracruz, Kikapu und Seri im Norden des Landes. Ihre Sprecher*innen widersetzen sich den Folgen des offiziellen Bildungsmodells, indem sie von den Gemeinden aus mit ihren eigenen Mitteln Alphabetisierungskampagnen in ihren Muttersprachen durchführen und diese auch im universitären Bereich pflegen. So betreiben etwa die Mixes in den Bergen von Oaxaca das Zentrum Ayuujk, das zur Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) gehört. Auch gibt es Publikationen wie die Zeitung K'a'ajsaj, die von der Universidad de Oriente in Yucatán in Maya herausgegeben wird, Zeitschriften wie Uxpijy de Tlahuilotepec Mixe, Literaturwettbewerbe in zapotekischer Sprache wie der von dem bildenden Künstler Francisco Toledo gegründete CaSa-Preis sowie Radiosendungen wie Xochikozkatl und Fernsehsendungen wie Doble Raíz, beide von dem Náhuatl-Dichter Mardonio Carballo.
Die Erhaltung ihrer Sprachen stellt für Indigene – nicht nur in Mexiko – eine der bedeutendsten Widerstandsformen dar. Denn die Sprache, so der Schriftsteller Octavio Paz, «gibt uns das Gefühl und das Bewusstsein, zu einer Gemeinschaft zu gehören, wir sind durch die Sprache mit einem Land und einer Zeit verbunden, wir sind eine Geschichte». Wir, die wir einer indigenen Gemeinschaft angehören, können nicht zulassen, dass unser einziges Mittel, um uns mitzuteilen und zu verteidigen, und das uns zugleich erlaubt, die Geheimnisse des Firmaments weiterzugeben oder menschliche Gefühle wie Liebe und Hass auszudrücken, ausgelöscht wird. Dies zu akzeptieren würde bedeuten, aus der Welt zu verschwinden.
Diese Kolumne erscheint in Kooperation mit Südlink, dem Nord-Süd-Magazin von INKOTA.