Das paternalistische Pflegeverständnis zur Zeit des Staatssozialismus und der Missbrauch von Pflege als Werkzeug kapitalistischer Unterdrückung bieten die Möglichkeit, aus einem fundamentalen Bindeglied für eine funktionierende Gesellschaft eine Kraft zu machen, die eine andere als spätkapitalistische Weltordnung bietet.
In einem ihrer Romane namens Frau im Dunkeln beschließt die italienische Schriftstellerin, die unter dem Pseudonym Elena Ferrante schreibt, ihrem eigenen Schicksal zu trotzen, das strikt in ihre mütterliche Rolle eingebettet ist. Sie verlässt ihre Familie, um die Unfreiheit zu überwinden, die sie quält, und konzentriert sich nun mehrere Jahre auf sich selbst. Es ist ein Akt der Freiheit, aber auch des Egoismus – den wir mit Mutterschaft wohl am wenigsten in Verbindung bringen. Und doch ist anzuerkennen, dass Mütter Anspruch darauf haben, denn sie haben auch ohne das Mutterdasein ein persönliches Leben und sie müssen dies gut pflegen, damit sie in ihrem Leben als Mutter frei leben und funktionieren können. Irgendwann merkt sie, dass das Leben ohne ihre Töchter genauso unerträglich ist wie das Leben mit ihnen und kehrt nach Hause zurück.
In ihrem Buch fängt Ferrante auf interessante Weise den bestehenden Widerspruch ein, den viele Frauen bei der Erziehung ihrer Kinder empfinden. In Frau im Dunkeln wird die Mutterschaft außerdem mit der physischen Hülle der Frau in Verbindung gebracht - sie spricht über die Körper unserer Körper, über die Art und Weise, wie wir uns selbst gegenüberstehen. Diese Bindung zu lösen ist, eine ganz andere Art von sozialer Ablehnung als alles andere, und Ferrante belegt meisterhaft, dass der Weggang einer Frau von ihrer Familie immer anders wahrgenommen wird und immer anders wahrgenommen werden wird, als der Weggang eines Mannes. Es war der italienische Feminismus, der sich seinerzeit auf die Problematik der Mutterschaft und Fürsorge, die Autonomie des menschlichen Körpers und das Recht auf ein eigenes Leben ausrichtete, was zur Durchsetzung von Abtreibungsgesetzen oder zur Anerkennung des Rechts auf Scheidung führte. Im Laufe der Zeit führten theoretische Konzepte der freiwilligen Kinderlosigkeit - nicht nur in Italien - zu Debatten über die «Leihmutterschaft», die das Verhältnis zwischen dem weiblichen Körper und der Mutterrolle thematisierten, und diese Themen wühlen bis heute die feministischen Theorien auf.
Schwäche als neue Stärke
Neben den provokativen, aber umso notwendigeren Diskussionen über den «Tod der Mutterschaft» kommen mit gleicher Intensität Diskussionen über das Wesen der Pflege auf. Sie bezieht sich jedoch nicht unbedingt nur auf die Mutterschaft, sondern das kann als philosophischer und sozialer Rahmen fungieren, um in eine andere Richtung aufzubrechen. In eine Richtung, in der der «Systemwandel» durch die Transformation des Beziehungssystems nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen allem, was uns umgibt und mitgestaltet, gründlich umgesetzt wird. Heute sind es vor allem die beginnende Klimakrise, aber auch ein allmählicher Rückgang der Sicherheiten, prekäre Arbeitsverhältnisse, wachsende Ungleichheit und Verletzlichkeit sowie der Verlust eines kollektiven Narrativs, der nach einer anderen als rein individualistischen oder verdienstbezogenen Sicht auf die Gesellschaft sucht.
Apolena Rychlíková ist Herausgeberin und Redakteurin der tschechischen Zeitschrift A2, die von der RLS Prag unterstützt wird.
In der fragmentierten Welt des Spätkapitalismus können nämlich nur weitaus schwerere Räume und Plattformen für das gegenseitige Sharing geschaffen werden. Die Coronavirus-Pandemie hat dieses Gefühl von Angst und Einsamkeit noch weiter verschärft und unserer Gesellschaft einen unerbittlichen Spiegel vorgehalten. Und so blieb plötzlich nichts anderes übrig, als zu pflegen und Fürsorge zu leisten. Für mich, meine Lieben, für die Schwächeren, die Gefährdeten. Es waren Fürsorge und Pflege, die es uns ermöglichten zu überleben, und es waren Fürsorge und Pflege, die in diesen langen Monaten als Kraft in den Vordergrund traten, ohne die es buchstäblich nichts gäbe. Dabei war es bei Weitem nicht nur die Gesundheits- oder Sozialfürsorge, sondern auch der Gesamtbetrieb der Gesellschaft, die Pflege in Anspruch nahm und zugleich in vollem Umfang leistete. Gleichzeitig sind aber auch die Limits der ausbeuterischen Herangehensweise an die Pflege als eine Art ehrenamtlicher oder schlecht bezahlter Arbeit deutlich geworden.
Früher haben wir uns daran gewöhnt, die Pflege als Nebensache zu betrachten – und diese Sicht hat überdauert und bewirkt, dass Pflege in allen Bereichen heute als Selbstverständlichkeit ohne echten Mehrwert angesehen wird. Die ständige Notwendigkeit, unser tägliches Tun und Handeln zu monetarisieren und zu kapitalisieren, hat die Pflege daher an den Rand des gesellschaftlichen Interesses gedrängt. Die Pflegeprinzipien amortisieren sich nämlich nicht sofort, was in einer prozessorientierten Welt mit dem ständigen Zwang zur Leistungssteigerung zu immer geringeren Kosten und in einer wert- und profitorientierten Gesellschaft dann als ein absolutes Missverhältnis und eine Leugnung der Grundlagen des Kapitalismus wirkt. Und so bleibt keine andere Wahl, als die Pflege zu demütigen.
Werkzeug zur Unterdrückung
Feministische Theorien haben immer einen relativ ambivalenten Umgang mit Fürsorge eingenommen. Kein Wunder: Es waren Frauen, deren biologische Fähigkeit, schwanger zu werden und ein Kind zur Welt zu bringen, in der Regel an Mutterschaft und Fürsorge im Allgemeinen geknüpft blieb. Und es war eben gerade Fürsorge und Pflege, die Frauen zugeschrieben wird, nicht etwa weil sie dies selbst erwählt hätten, sondern weil die Gesellschaft dies so wollte und bestimmte.
Fürsorge bedeutet im Kapitalismus zweifellos jede Menge unbezahlter Arbeit, eine kulturelle Prädestination aufgrund des Geschlechts, worüber nicht diskutiert wird. Fürsorge bedeutet schlechtere Arbeits- und Lohnbedingungen, niedrigere Renten, ein Leben in mehreren Schichten und das Bewusstsein um die eigene Minderwertigkeit. Das bedeutet, eine Frau mit einer Fürsorge leistenden Person genauso zu identifizieren, wie es Ferrante in Frau im Dunkeln beschreibt oder wie dies die tschechisch-deutsche Schriftstellerin Alena Wagnerová am Beispiel des erstarrten tschechoslowakischen Feminismus und der Staatspolitik des Sozialismus kritisiert.
Während in den 1960er Jahren in der Tschechoslowakei Debatten darüber geführt wurden, wie Pflege zu bewerten und ihr gleichzeitig andere Relevanz zuzuerkennen ist, passierte zur Zeit der sog. Normalisierung gar nichts mehr. Der sozialistische Feminismus, in dem die Gleichstellung von Frau und Mann einer der Grundpfeiler der Staatsideologie selbst war, begann regressiv zu funktionieren, was sich auch in der Pflegepolitik widerspiegelte. Obwohl es in den 1950er Jahren keine Rückkehr zum paternalistischen Staat gab, der sich als «Hauptpflegeträger» verstand, wurde die Frau als Pflegekraft fest verankert. Dabei ist paradox, dass diese Ansicht auch nach 1989 fortbestand, was jedoch während des turbulenten Aufstiegs des Neoliberalismus mit einer weiteren Vulgarisierung im Bereich des Status der Frau einherging. Auch das Fehlen der Entwicklung feministischer Theorien sowohl auf staatlicher als auch auf oppositioneller Ebene spielte dabei eine Rolle. Der Vorsprung, den die tschechoslowakische Gesellschaft vor der sog. Normalisierung hatte, ist verschwunden. Obwohl sich in den liberalen 1990er Jahren und in den folgenden Jahrzehnten verschiedene feministische Bewegungen formierten, wurde das konservative Frauenbild und dessen Rolle in der Gesellschaft immer wieder gestärkt.
Die Freiheit und Wildheit, die viele mit dem Aufstieg des Kapitalismus in der Tschechischen Republik assoziieren, hatte demnach eine relativ absurde Dimension in der enormen Zunahme von Sexismus (praktisch identifiziert mit westlicher Freiheit), Druck auf die Arbeitsleistung der Frauen und Hervorhebung der Fürsorge und Pflege als rein weibliche Angelegenheit. Dabei ging es nicht nur um die Betreuung der Kinder oder älteren Kranken, sondern auch um die «Ehemänner» – die ideale Ehefrau der postkommunistischen Gesellschaft sieht nicht nur toll aus, d.h. sie kümmert sich um sich selbst, sondern sie kümmert sich auch um ihren Mann, indem sie die ausreichende Bereitschaft äußert, mit ihm Sex zu haben, ohne dabei den Haushalt zu vernachlässigen. Auch wenn Fürsorge und Pflege heute immer noch primär ein Instrument patriarchaler kapitalistischer Unterdrückung sind, kann es nützlich sein, sie als emanzipatorische Kraft zu betrachten, die letztlich eine Plattform für die Verwirklichung einer anderen anstelle der kapitalistischen Gesellschaft und des neoliberalen Beziehungsverständnisses schaffen kann.
Fürsorge als Revolution
Die Vorstellung, dass heute alle Fürsorge leistenden Personen streiken würden, ist ziemlich utopisch. Wie würde das genau aussehen? Doch damit wird auf die Notwendigkeit von Pflege nicht nur als Beruf, sondern als soziales Prinzip verwiesen – wir wissen alle sehr gut, dass Pflegende nicht streiken können, darin liegt eben gerade das Paradoxon. Sie sind nicht nur dem Pflegeprozess, sondern vor allem den Pflegebedürftigen gegenüber zu sehr verpflichtet. Dennoch haben in der Vergangenheit verschiedene Bewegungen versucht, ähnliches Gedankengut umzusetzen – wenn auch nur, um den dringenden Bedarf an Fürsorge und Pflege für das Funktionieren der Gesellschaft zu verdeutlichen.
Wie berechnet man, wie viel Energie für die Betreuung der Kinder aufgewendet wird und wie viel Geld wir eigentlich dafür bekommen sollten? Welchen Wert oder Preis hat es, sich um sterbende Angehörige zu kümmern? Wann und wie werden wir wieder im Dreck wühlen, und was erwartet uns in dem Moment, in dem wir beschließen, uns um uns selbst zu kümmern? Pflege ist Vertrauen und die Sehnsucht nach gegenseitiger Akzeptanz ohne Ambitionen und Ansprüche. Pflege ist eine Art private Einrichtung mit öffentlicher Wirkung. Pflege ist ein Weg, ein Prozess, bei dem wir offen zugeben, dass wir das Ziel nicht kennen. Pflege ist eine kollektive, geteilte und inoffizielle Institution, die wir im gleichen Moment empfangen und selbst leisten. Pflege ist eine verborgene Revolution, die auf dem Ruhm der «Schwäche» als neue Kraft basiert.
Ökofeministische Theorien sprechen oft davon, wie wir unseren eigenen Wert aus der Notwendigkeit ableiten können, die Welt um uns herum als etwas «Anderes» oder «Da draußen» zu benennen. Wir und sie, Männer und Frauen, drinnen und draußen, Mensch und Natur. Gerade die Notwendigkeit, das zu definieren und zu identifizieren, was wir tendenziell abwerten, verstärkt das hierarchische Gesellschaftsbild und baut bewusst Barrieren auf, die eine gegenseitige Ausbeutung ermöglichen. Die Überwindung dieser Denkweise – die natürlich auch an der heutigen Fürsorge nicht vorbeigeht – ist eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.
Angesichts einer Welt, die ohne Pflege und Fürsorge nahezu sofort zusammenbrechen würde, können wir auch einen Strahl aus der «neuen Welt» erhaschen. Aus einer Welt, die Gegenseitigkeit über Rivalität, Solidarität über Individualismus, Würde über Verdienstbarkeit und Gleichheit über Hierarchie stellt. Aus einer Welt, in der der Wert des Menschen nicht aus seinem äußeren Reichtum oder vorgeblichen oder faktischen Privilegien abgeleitet wird, aus einer Welt, in der sich alles in einem viel längeren Zeitraum abspielt als dem in kapitalistischen Verhältnissen der Fall ist. Gerade hier liegt das revolutionäre Potenzial der Pflege – sie ist nur in dem Maße fragil, in dem wir sie als fragil wahrnehmen. Wann sollte man sonst damit anfangen, dies umzusetzen, wenn nicht gerade in dem Augenblick, wenn all die alten Dinge zusammenbrechen. Die Revolution wird feministisch und fürsorglich sein oder es wird gar keine Revolution geben.