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Kommentar zu den neuesten Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina

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Foto: Steffen Emrich via Flickr [CC BY-ND 2.0]

Der neue Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, der CSU-Politiker und ehemalige Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, ist kaum im Amt bereits Gegenstand heftiger öffentlicher Kontroversen. Insbesondere aus Banja Luka, der Hauptstadt der serbischen Teilentität Republika Srpska, war und ist zu hören, dass der neue Hohe Repräsentant nicht willkommen sei und überhaupt, seine Ernennung verstoße gegen die im Friedensvertrag von Dayton festgesetzten prozeduralen Bestimmungen. Seit Valentin Inzko, Schmidts Vorgänger, die Leugnung des Genozids in Srebrenica als Straftatbestand durchsetzte, befindet sich die Institution des Hohen Repräsentanten, vor allem aber nicht nur bei den serbischen politischen Eliten, unter Dauerbeschuss. Am 10. Dezember hat das Parlament der Republika Srpska, unter Abwesenheit der dortigen Oppositionsparteien, zudem beschlossen, wichtige Zuständigkeiten vom Gesamtstaat an die Teilentität zu delegieren. Dazu solle in den kommenden sechs Monaten eine Gesetzesvorlage ausgearbeitet werden. Hat Milorad Dodik, als Vorsitzender der stärksten Partei im Parlament der Republika Srpska und serbischer Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium ohnehin seit Jahren der starke Mann, tatsächlich die Abspaltung vom bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat eingeleitet, wie beispielsweise von der Tagesschau getitelt?

Zweifel dürfen angebracht werden, auch wenn die Situation in Bosnien-Herzegowina gegenwärtig mehr als angespannt ist. Zum einen, weil eine Abspaltung der Republika Srpska weder politisch noch militärisch durchsetzbar ist. Serbien und Kroatien sind, laut Friedensvertrag, Garanten für die staatliche Integrität des Landes, und keiner dieser beiden Staaten hat politische oder ökonomische Interessen, sich auf dieses Vanbanquespiel einzulassen. Zweifel aber auch deshalb, weil die Entscheidung des serbischen Entitätsparlamentes kein singulärer, bisher unbekannter Akt der Untergrabung zentralstaatlicher Autoritäten war.

Heisse Luft

Vielmehr reiht er sich ein, in einen inzwischen kaum mehr nachzuverfolgenden Obstruktionsmarathon nahezu aller Seiten. Die offiziellen politischen Vertreter*innen der drei sogenannten «konstitutiven Völker» Bosnien-Herzegowinas, sprich der Bosniak*innen, der Serb*innen und Kroat*innen, spielen, jeder und jede auf der je nationalen Klaviatur, seit über zwei Jahrzehnten Katz und Maus mit den staatlichen Institutionen Bosnien-Herzegowinas. Zu den bekannteren Episoden gehören der Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von Ende 2009 im Fall «Sejdić-Finci gegen den Staat Bosnien-Herzegowina». Darin wurde festgestellt, dass die Verfassung Bosnien-Herzegowinas Minderheiten grundlegende politische Rechte vorenthält. Anlass der Klage war die ethnisch begründete Festsetzung, dass nur Vertreter*innen der drei sogenannten konstitutiven Völker sich als Präsidentschaftskandidat*innen aufstellen lassen dürfen, nicht aber Vertreter*innen von Minderheiten.

Krunoslav Stojaković leitet die Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Belgrad (Serbien) und Tuzla (Bosnien Herzegowina).

Seitdem sind über zehn Jahre vergangen, das Prinzip blieb aber dennoch unangetastet. Weder die bosniakischen, noch die serbischen oder kroatischen politischen Eliten zeigen gesteigertes Interesse an einer Demokratisierung politischer Prozesse im Land. Der Vorsitzende der größten kroatischen Partei in Bosnien-Herzegowina, Dragan Čović von der Kroatischen Demokratischen Union (HDZ), wiederum lässt seit Jahren nichts unversucht, das politische Leben im Land noch weiter in Richtung ethnischer Segregation zu drücken. Ihm missfällt die Möglichkeit, dass der kroatische Präsidentschaftskandidat beispielsweise auch von Bosniak*innen, Serb*innen, Rom:ni oder Juden und Jüdinnen gewählt werden kann, und nicht nur exklusiv von Kroat*innen.

Der Hintergrund ist reines machtpolitisches Kalkül: gegen den aktuell amtierenden kroatischen Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium, Željko Komšić, bekommt er einfach keinen Stich da dieser vor allem auch zahlreich von anderen Nationalitäten gewählt wird. In seinem Begehren, den kroatischen Vertreter ausschließlich nur von ethnischen Kroat*innen wählen zu lassen, findet Dragan Čović vor allem bei Milorad Dodik ein offenes Ohr. Die nationale Karte, mit der in erster Linie Ängste geschürt werden, dient zudem, darin sind sich eigentlich alle Kommentator*innen einig, von den schwerwiegenden sozioökonomischen Problemen des Landes abzulenken. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Vertreter*innen der nationalen politischen Eliten und ihre Familienmitglieder jeweils auch zu den reichsten Personen in Bosnien-Herzegowina zählen. Nicht wenige Beobachter*innen der politischen Szenerie im Lande argumentieren deshalb, dass sowohl Dodik und Čović, als auch Bakir Izetbegović als Vorsitzender der größten bosniakischen Partei, von der institutionellen Dauerkrise profitieren.

Der Staat Bosnien-Herzegowina ist, so wie er im Friedensvertrag von Dayton konzipiert wurde, ein Nicht-Staat. Die nationalistisch motivierten Winkelzüge führender politischer Vertreter*innen sind nichts anderes, als die logische politische Praxis in einem nach ethnischen Kriterien aufgeteilten Staat, und diese ethnischen Kriterien bilden den Kern des Friedensvertrages von Dayton. Auch die neuesten Machtspielchen von Milorad Dodik stellen keine Extravaganzen im eigentlichen Sinne dar, denn sie widersprechen im Grunde nicht dem Vertragstext.

Tabula Rasa

Was Bosnien-Herzegowina benötigt, aktuell ebenso wie schon vor über 20 Jahren, ist deshalb eine gänzlich neue politische Struktur. Solange dieser Staat auf den Prinzipien des Friedensvertrags von Dayton fußt, solange wird er ein Nicht-Staat bleiben, eingezwängt zwischen den politischen und ökonomischen Interessen der politischen Vertreter*innen seiner «konstitutiven Völker», und dem Oberlehrer im Gewand des Hohen Repräsentanten. Vorschläge zum Zuschnitt einer möglichen «Post-Dayton»-Staatsstruktur basieren zumeist auf der Idee, die ethnische Teilung des Landes aufzuheben und ein neues Wahlgesetz zu verabschieden, dass nicht mehr auf dem Prinzip der Ethnizität aufbaut.

Das Konzept des Staatsbürgers, das im 21. Jahrhundert wahrlich keine revolutionäre Idee mehr darstellen sollte, würde für Bosnien-Herzegowina aber in etwa eine Wirkung entfalten, wie die Einführung des allgemeinen und freien Wahlrechts. Zwar würden in einem solchen Staat auch weiterhin grundlegende soziale und ökonomische Rechte für die Mehrheit der Bevölkerung unerreichbar bleiben. Doch böte sich erstmalig die theoretische Möglichkeit, politische und ökonomische Forderungen an eine gemeinsame Öffentlichkeit zu richten, die nicht durch Entitäts- und Ethnizitätsgrenzen blockiert wird. Es böten sich endlich Möglichkeiten für eine linke politische Artikulation sozioökonomischer Problemlagen.

Soziale Proteste wie jene aus dem Jahr 2014, die für einen kurzen Moment Hoffnung auf eine politische Emanzipation machten, scheiterten nicht vorrangig am Unvermögen oder der mangelnden Erfahrung der beteiligten Akteure, sondern an der strukturellen Obstruktion, die es den nationalen Eliten in beiden Teilentitäten ermöglichte, die Protestbewegung als Destabilisierungsversuch der jeweils anderen Seite darzustellen. Und sie scheiterten auch an der feindlichen Haltung westlicher Botschaften und des damaligen Hohen Repräsentanten Valentin Inzko, die, anstatt eine demokratische und übernationale soziale Protestbewegung zu unterstützen, lieber die nationalen Führer zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung aufforderten. Auch Russland mit seiner teils offenen, teils verdeckten Unterstützung für Milorad Dodik stellt keine Ausnahme dar.

Die Kritik an der Institution des Hohen Repräsentanten, und die kalte Begrüßung von Christian Schmidt in seiner neuen Funktion, ist beileibe kein Alleinstellungsmerkmal von Milorad Dodik. Bosnien-Herzegowina braucht keinen Hohen Repräsentanten, es braucht eine neue Verfassung.