News | Soziale Bewegungen / Organisierung - Türkei Türkei: Studierendenproteste gegen Wohnraummangel

Barınamıyoruz – Wir finden keine Bleibe

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Aktion der Barinamiyoruz-Bewegung in Istanbul: «Wir werden uns das Recht auf eine Unterkunft nehmen!» Foto: Sultan Eylem Keleş

Nach fast zwei Jahren Online-Lehre, kehren in der Türkei die Studierenden wieder an die Universitäten zurück. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie ihre Hochschule betreten. Mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht, wird auch ein lange schwelendes Problem sichtbar: fehlende oder unbezahlbare Unterkünfte für Studierende – und nicht nur für sie. Die unzureichende Anzahl von Wohnheimplätzen und die exorbitant ansteigenden Mieten, vor allem in größeren Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara, stellen die Studierenden vor existentielle Probleme.

Zum Semesterbeginn im September begannen deshalb spontane Proteste einer zunächst kleinen Gruppe von obdachlosen Studierenden in Istanbul. Sie nennen sich «Barınamıyoruz Hareketi», die Bewegung derer, die keine Bleibe finden. Um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen, übernachteten sie in öffentlichen Parks und informierten in den sozialen Medien über ihren Protest.

Sultan Eylem Keleş studierte Journalismus an der Ege Üniversitesi in Izmir. Nach einem Praktikum bei der Zeitung Agos arbeitet sie nun als Journalistin in Istanbul. Sie beschäftigt sich mit politischen Kämpfen nationaler Gruppen, die in der Türkei nicht zur dominierenden Nation gehören, sowie mit Themen der Arbeitswelt.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

Sie fordern das Grundrecht auf eine Unterkunft, die bezahlbar ist und menschenwürdigen Standards entspricht. Dass gerade letzteres oft nicht der Fall ist, zeigen die zahlreichen Berichte, die bei der sogenannten «Beschwerdehotline» eingehen. «Wir hatten diese Hotline zunächst eingerichtet, um Fälle von obdachlosen Studierenden zu sammeln», berichtet die Jurastudentin Ezgi Ertürk, die Teil der Barınamıyoruz-Bewegung ist. «Doch schnell wurde deutlich, dass auch diejenigen, die einen Wohnheimplatz ergattert hatten, massive Probleme haben. Das Essen dort wird zu horenden Preisen verkauft, aber ist ungesund, teilweise finden sich darin Maden oder Haare. Die Internetverbindung im Gebäude ist oft schlecht und reicht nicht zum Arbeiten. Einige Wohnheime sind weit entfernt von den Universitätsgebäuden, sodass die Bewohner*innen von der städtischen Infrastruktur abgeschnitten sind.» Belegt werden all diese Berichte mit Fotos und Videos, die aus der gesamten Republik gesendet werden. Durch die Vernetzung in den sozialen Medien, vor allem auf Twitter, wird nicht nur das Ausmaß der Misere schnell deutlich, sondern auch Berichte über spontane Proteste in den Wohnheimen und auf zentralen Plätzen verbreiten sich rasant.

Für die Aktivist*innen steht fest, verantwortlich ist die Regierung in Ankara. Deshalb kündigten sie für den 13. Dezember eine zentrale Kundgebung in der türkischen Hauptstadt an, die jedoch umgehend vom dortigen Gouverneur verboten wurde. Dennoch kamen zahlreiche Protestierende aus verschiedenen Städten zusammen, 90 von ihnen wurden festgenommen und waren massiver Polizeigewalt ausgesetzt.