Kommentar | Geschlechterverhältnisse - Türkei - Befreiung von Gewalt Der Regierung sind die Frauen egal

Femizide in der Türkei

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Emine Akbaba,

Die Mutter von Eda Küçükbaltacılar auf einer Kundgebung gegen Frauenmorde Foto: Emine Akbaba

«Unser Justizsystem ist dynamisch und stark genug, um bei Bedarf neue Regelungen zu implementieren», verkündet Zehra Zümrüt Selçuk, die ehemalige Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, auf Twitter. In der Nacht zuvor, am 20. März 2021, beschließt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan per Dekret zum 1. Juli den Ausstieg der Türkei aus der sogenannten «Istanbul-Konvention». Das Übereinkommen ist ein 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag des Europarats, dessen 81 Artikel umfassende Verpflichtungen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, zum Schutz der Opfer und zur Bestrafung der Täter enthalten. Seit September 2020 hatte der türkische Staatspräsident immer wieder in seinen Reden angedeutet, dass die Türkei aus der Konvention austreten werde, denn sie bedrohe die traditionelle türkische Familie und fördere Scheidungen sowie Homosexualität im Land. Erdoğan kommt damit der islamisch-konservativen Bevölkerung entgegen, die zwanghaft den Erhalt des konservativen Familienbildes im Land fordert. Damit hofft der Staatspräsident, dem steten Schwinden seiner Macht entgegenzuwirken. Die derzeitige Regierung schaut weg – auf Kosten der Frauen im Land.

Fakt ist: Der Ausstritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist eine gefährliche Botschaft an die Täter; Femizide werden verharmlost und romantisiert. Die Schuld wird bei den Frauen gesucht. Die Täter werden hingegen in ihrem Handeln unterstützt – Ihre Taten werden mit Ehre oder Leidenschaft gerechtfertigt.

Die fatale Tragweite der Entscheidung war bereits innerhalb der 48 Stunden nach der Ankündigung wahrzunehmen: Sechs Frauen wurden von ihren (Ex-)Partnern ermordet. Ein Rekordwert. In 2021 wurden laut der Frauenrechtsorganisation «Wir werden Femizide stoppen» mindestens 350 Frauen (Stand 15.12.2021) in der Türkei umgebracht. Vor allem ist seit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention ein deutlicher Anstieg solcher «Selbstmorde» in der Türkei zu verzeichnen: In den ersten sieben Monaten des Jahres 2021 liegt bei 111 Mordfällen ein «Verdacht» auf einen Femizid vor. Zwölf Frauen im August, 19 Frauen im September und weitere zwölf Frauen im Oktober sind angeblich von Balkonen «gefallen» oder in der Wohnung tot aufgefunden worden. Oftmals war der Ehemann, Ex-Mann oder Freund anwesend, habe jedoch laut eigener Aussage die Tat nicht verhindern können.

Emine Akbaba ist freie Fotografin und Dokumentarfilmerin und thematisiert in ihrer fotojournalistischen Arbeit Femizide in der Türkei. Neben Ausstellungen und Publikationen wurden ihre Arbeiten und Videoreportagen mehrfach ausgezeichnet.

Wie im Fall von Eda Küçükbaltacılar. Am 2. Januar 2021 wird Eda tot auf dem Dachboden eines Istanbuler Wohnhauses aufgefunden, wo sie zusammen mit ihren Eltern lebte. Sieben Wochen vorher, am 15. November 2020, schickt die 23-Jährige Frau ihrer Freundin Gülsüm eine Sprachnachricht: «Wenn mir etwas zustoßen sollte, wenn ich sterben sollte, ist es nicht mein ‹Eigenverschulden› – die verantwortliche Person ist mein Freund Ebubekir M.». Edas Stimme klingt in den 77 Sekunden ruhig, klar, fast schon resigniert, während im Hintergrund nur das Klacken ihrer Absätze in einem scheinbar menschenleeren Raum hallt. Sieben Wochen später ist Eda tot.

Nurhayat Küçükbaltacılar, Edas Mutter, ist sich sicher, ihre Tochter habe um ihr Leben gekämpft und keinen «Selbstmord» begangen. Letzteres versichert ihr Freund in seiner Aussage mehrmals. Darüber hinaus erscheinen seine Aussagen widersprüchlich, denn die junge Frau war nicht allein auf dem Dachboden. Ihr Freund war während ihres Todes anwesend, hat angeblich noch versucht, sie zu retten.

Seit ihrem Tod Anfang des Jahres kämpfen Edas Eltern unermüdlich um Aufklärung. Sie fordern weitere Untersuchungen: denn die Polizeibeamten haben die Spurensuche am Tatort unvollständig durchgeführt, der Tatort war zudem nicht korrekt abgesperrt und Kriminaltechniker haben bei der gerichtsmedizinischen Obduktion nur die äußere Bestandsaufnahme des Leichnams dokumentiert. Dabei wurde auf der Leiche und unter ihren Fingernägeln nicht nach DNA-Spuren gesucht. Wichtige Beweismittel, wie das Seil, mit dem sich Eda Küçükbaltacılar erhängt haben soll, wurden erst gar nicht katalogisiert und auf Spuren hin untersucht. Nurhayat wird auf der Polizeistation sogar das Seil in einer durchsichtigen Plastiktüte ausgehändigt. Als sie schockiert reagierte und fragt, ob das Beweismittel auf Spuren hin untersucht wurde, verschwindet es wieder im Schrank und ist seitdem nicht mehr auffindbar.

Derzeit wertet die Staatsanwaltschaft die vorgelegten Befunde aus und hat noch nicht endgültig entschieden, ob eine Straftat vorliegt. Somit konnte noch keine Anklage wegen einer Straftat erhoben werden, damit ein Strafverfahren vor Gericht stattfinden kann. Und so scheint es für die Justiz bislang festzustehen, dass Eda Küçükbaltacılar sich selbst das Leben genommen hat.

Edas Tod ist kein Einzelfall: Das Muster ist bei den meisten Mordfällen zu beobachten, bei denen ein «Verdacht» auf einen Femizid vorliegt. Tatorte werden nicht sachgemäß abgeriegelt, Beweismittel nicht richtig katalogisiert und auf Spuren untersucht, gerichtsmedizinische Obduktionen nur oberflächlich ausgeführt, sodass wichtige DNA-Spuren verloren gehen.

Fakt ist: Wenn ein Mann behauptet, dass seine Frau, Ex-Frau oder Freundin sich das Leben genommen hat, wird seine Aussage nicht hinterfragt, ihm wird bedingungslos geglaubt; denn Männer helfen Männern. Richter helfen Tätern. Femizide werden in der Türkei vertuscht, indem sie zu Selbstmorden erklärt werden.