News | Radikalenbeschluss / Berufsverbote Berufsverbote und Radikalenbeschluss

Perspektiven der und auf die Betroffenen

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Betroffene des Radikalenbeschlusses demonstrieren 2014 am Denkmal der wegen ihrer demokratischen Haltung 1837 von der Universität Göttingen entlassenen Professoren ("Göttinger Sieben") vor dem niedersächsischen Landtag. CC BY-SA 3.0, wiki.freiheitsfoo.de

Dieser Artikel ist Teil des Themen-Specials «Der Radikalenbeschluss wird 50».

Im März 1980 schrieb der Bremer Rechtsanwalt Paul Winter an seinen Mandanten Bruno Kissler:

«Lieber Bruno, in Deiner Einstellungssache hast Du Dich bis jetzt nicht wieder gemeldet. Erhalte ich bis zum 10.4.1980 keine Nachricht von Dir, gehe ich davon aus, daß ich nicht weiter tätig werden soll[,] und schließe die Akte ab.»

Eine Antwort Kisslers, dem zuvor wegen seiner vermuteten Unterstützung des Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) die Einstellung als Lehrer in Berlin und Bremen verweigert worden war, findet sich nicht in den Akten.[1]

Handelt es sich bei Bruno Kissler um einen Betroffenen des Radikalenbeschlusses? Die Frage mag überraschen, schließlich wurde er in zwei Bundesländern aufgrund seiner politischen Aktivitäten nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt, ihm mithin ein «Berufsverbot» erteilt. Allerdings ist über seinen weiteren Werdegang nichts überliefert. Es wäre möglich, dass Kissler in einem anderen Bundesland in den Schuldienst aufgenommen wurde oder Arbeit an einer Privatschule fand. Unser Nicht-Wissen verweist an dieser Stelle auf die Schwierigkeit, die Figur des oder der Betroffenen aus den historischen Gegebenheiten abzuleiten.

Jan-Henrik Friedrichsist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hildesheim. Dort forscht er zu den Auswirkungen des ‚Radikalenerlasses‘ auf Gesellschaft und Subjekte am Beispiel der Institution Schule, 1967-1989 (mehr).

So lässt eine eher im konservativen Spektrum anzutreffende enge Definition nur solche Personen als Betroffene gelten, die ihrem Beruf nachweislich aus politischen Gründen dauerhaft nicht nachgehen konnten. Fälle, in denen eine Einstellung – oft nach langen Jahren – vor Gericht erstritten wurde, fallen hier ebenso wenig unter die Kategorie der Betroffenen wie solche, in denen politische Gründe zwar vermutet, aber nicht bewiesen werden können, etwa weil die Nicht-Einstellung mit fehlenden Stellen begründet wurde.

Am anderen Ende des politischen Spektrums finden sich weiter gefasste Definitionen, die all jene als Betroffene begreifen, die in irgendeiner Form wegen ihrer vermuteten oder tatsächlichen politischen Überzeugung Schwierigkeiten im Beruf – vor allem, aber nicht ausschließlich, im öffentlichen Dienst – hatten oder auch nur befürchten mussten. Als betroffen können somit auch der linke Lehrer gelten, dessen Schuldirektor ihn «auf dem Kieker» hatte und mehrfach demonstrativ seinen Unterricht besuchte; die Rechtsreferendarin, die sich durch das Zeichnen eines Aufrufs der DKP einen Eintrag in die Personalakte einhandelte; oder auch der maoistische Metallarbeiter, der aufgrund von Unvereinbarkeitsbeschlüssen aus seiner Gewerkschaft ausgeschlossen wurde. Alle Definitionsversuche zwischen diesen beiden Polen sind legitim, alle haben ihre Vor- und Nachteile – und keine Definition kann endgültig sein. Dies gilt auch für geschichts- und politikwissenschaftliche Zugriffe. 

Statt also re-konstruieren zu wollen, wer vom Radikalenbeschluss betroffen war, ließe sich der Blick auf die Konstruktion von Betroffenheit lenken: Wer hat sich als betroffen (oder bedroht) erlebt? Wer stellte und stellt sich selbst als betroffen dar? Die Position des/der Betroffenen erweist sich so als politischen Deutungskämpfen unterworfen: Wer wird als Betroffene*r anerkannt? Wem wird diese Position verweigert? Vor allem: Wer spricht mit größerer Legitimität als andere für «die Betroffenen»?

Ob der eingangs erwähnte Lehrer Kissler als Betroffener gelten kann, hinge somit nicht von seiner weiteren beruflichen Laufbahn ab, sondern davon, ob er sich heute erfolgreich als solcher positionieren könnte. Die Perspektiven von Betroffenen sind daher einerseits vielfältig – andererseits stellen sie immer nur einen Ausschnitt dar.

Historische Deutungen des Radikalenerlasses

Wenn die Kategorie der Betroffenen als umstrittene Kategorie der Gegenwart zu verstehen ist, lohnt es sich, den Blick auf die Art und Weise des Erzählens zu richten. Welche Narrative stehen Betroffenen zur Verfügung? Und wie beeinflussen diese Erzählungen wiederum unsere Vorstellungen von dem, was Betroffene ausmacht?

Die unterschiedlichen Erzählweisen sind weniger durch die historischen Ereignisse selbst geprägt als durch ihre Nachgeschichte. Jemand, der sein Leben nach eigenen Maßstäben als Erfolgsgeschichte wahrnimmt, wird sein Berufsverbot anders erinnern und erzählen als eine Person, die sich als gescheitert begreift. Faktoren wie Klasse, Bildungsweg oder Geschlecht prägen die individuellen Erlebnisse, Erinnerungen und ihre Repräsentation. Auch die heutige Sicht auf früheres politisches Engagement spielt eine Rolle, ebenso wie die jeweilige Gruppenzugehörigkeit.[3] Hierzu gibt es allerdings – und das sagt viel über den Stand der historischen Aufarbeitung des Themas – bisher kaum Forschungsliteratur.

Die DKP-nahen Initiativen gegen die Berufsverbote skandalisierten (angedrohte) Berufsverbote regelmäßig als Angriff auf die verfassungsmäßigen Grundrechte.[4] Damit drehten sie die Anschuldigung der Verfassungsfeindlichkeit, die gegen politische Linke erhoben wurde, um – die wahren «Verfassungsfeinde» säßen seit jeher in Regierung und Verwaltung, während die von ihnen Verfolgten in der Tradition «fortschrittlicher» demokratischer Bewegungen vom frühen 19. Jahrhundert bis zum antifaschistischen Widerstand stünden.[5]

In der Folge trug vor allem die DKP den Kampf gegen Berufsverbote. Ihre Mitglieder waren überproportional betroffen, und das Narrativ der Grundrechtsverletzung bot ihr eine Möglichkeit, den Schulterschluss «aller Demokraten» zu fordern – und so eine punktuell erfolgreiche Bündnispolitik bis ins linksliberale Lager zu begründen. Die Thematisierung des Radikalenbeschlusses geschah dabei stets auf eine stark personalisierte Erzählweise: Den auf die Frage der Verfassungstreue hin konstruierten «Fällen» der Behörden wurden Fallgeschichten entgegengestellt, die umfassender waren und auch die Auswirkungen behördlicher Entscheidungen thematisierten. Die Skandalisierung des Vorgehens der Behörden mit dem Ziel, Empörung hervorzurufen, war dabei das Grundmotiv nahezu aller Fallschilderungen. Es entsprach der Logik dieses personalisierenden Ansatzes, dass möglichst skandalträchtigen Fällen mehr Aufmerksamkeit zukam als eher unspektakulären Verfahren.

Die Deutung als Grundrechtsangriff war 1972 keineswegs alternativlos: Im Umfeld maoistischer K-Gruppen, aber auch einiger Gewerkschaftsgliederungen, wurde der Erlass eher als Angriff auf Arbeitnehmer*innenrechte gedeutet, als Instrument «der Bourgeoisie» um den Betriebsfrieden im öffentlichen und privaten Sektor zu wahren. Für eine solche Betrachtungsweise sprachen etwa Entlassungen kommunistischer Betriebsräte nach «wilden Streiks», aber auch die für viele Linke enttäuschende Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972.[6]

Daher skandalisierten die K-Gruppen zwar einzelne Berufsverbotsfälle, tendenziell jedoch nicht in vergleichbarer Breite. Das Grundgesetz galt hier häufiger als abzuschaffende Manifestation kapitalistischer Herrschaft. Auch eine gewisse Intellektuellenfeindlichkeit mag eine Rolle gespielt haben – immerhin war die Hälfte aller Berufsverbotsfälle im Bildungsbereich angesiedelt, revolutionäre Politik hatte sich aber nicht an studierten Beamt*innen, sondern an «der Arbeiterklasse» zu orientieren. Und es mochte im Einzelfall auch einem (vermeintlich) radikaleren Selbstbild entsprechen, ein Berufsverbot als Preis einer revolutionären Existenz zu akzeptieren. Fakt ist, dass selbst in den Zeitungen der K-Gruppen Berufsverbote von DKP-Mitgliedern einen großen Raum einnahmen; umgekehrt kam dies kaum vor.[7]