Rainer Rilling - seit 1986 Mitherausgeber der Blätter - veröffentlichte seinen ersten Aufsatz über die „antigewerkschaftliche Ideologie der NPD“ im Jahre 1968 in dieser Zeitschrift. Schon ein Jahr später folgte (mit Reinhard Kühnl und Christine Sager) eine Monographie über die NPD. Früh zeichneten sich die Schwerpunkte und Interessen dieses jungen Autors aus der Kreativabteilung des Marburger SDS ab. Unter der geistigen Schirmherrschaft des „Dreigestirns Abendroth, Maus, Hofmann“ lernte er, theoretische Kapitalismuskritik – auf der Basis der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie – durch empirische Forschung auf die Höhe der Zeit zu bringen. Damit sollte gleichzeitig der praktischen Politik Argumente an die Hand gegeben werden, die sie in der Auseinandersetzung mit antidemokratischen Bestrebungen, Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, Indienstnahme der Wissenschaft für die Zwecke der unmittelbaren Kapitalverwertung usw. stark machen. Der Schwerpunkt seiner frühen Arbeiten lag im Bereich der „Kriegsforschung und Vernichtungswissenschaft“ (1970), die dann natürlich auf die Wissenschaftspolitik ausgreifen und schließlich auch den „militärisch-industriellen Komplex“ – im Herrschaftszentrum der USA – in den Blick nehmen. So entstanden in den 70er Jahren zahlreiche Arbeiten zur Wissens- und Wissenschaftssoziologie, die schon mit der Dissertation (1973) vergleichend angelegt waren und bis zur Habilitation (1980) mit Sozialismusstudien erweitert wurden. Die Texte von Rilling stießen übrigens unter kritischen DDR-Wissenschaftlern auf ein größeres Interesse als in der BRD; denn sie waren deutlich an der normativen Selbstbeschreibung des jungen sozialistischen Staates (und auch an den kontroversen Debatten, die noch in den 50er Jahren geführt wurden) orientiert.
Als Privatdozent und seit 2002 als Professor an der Marburger Philipps-Universität lehrt Rilling politische Soziologie. Forschungsaufenthalte in den USA und in Großbritannien dienten nicht nur dem Studium der mächtigsten Militärmacht der Welt, sondern mehr und mehr auch jener Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des amerikanischen Kapitalismus, die den europäischen Linken oftmals ein Rätsel geblieben ist und sie immer wieder – wegen der Mixtur von abstoßenden sozialen Widersprüchen, von gewaltigen ideologischen Integrationspotentialen, von intellektuellen und kulturellen Hochleistungen, aber auch aufgrund der Radikalität sozialer Basisbewegungen – fasziniert hat. Besonders gut hat mir vor Jahren ein Artikel in „utopie kreativ“ (2002) gefallen, indem er sich mit der zeitweilig modischen Behauptung vom „Antiamerikanismus der deutschen Linken“ auseinander setzte.
Nach dem Tod der legendären Helga Koppel führte Rilling von 1983 bis 1998 die Geschäfte des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWI), in dem er sich seit der Gründung des Verbandes durch Werner Hofmann (1968) engagiert hatte. Dieser Verband sollte nicht nur ein Gegengewicht gegen konservative Kräfte in den Hochschulen („Bund Freiheit der Wissenschaft“) bilden, sondern auch in die Hochschulgesetzgebung und die Wissenschaftspolitik intervenieren sowie (durch den BdWI-Verlag, seine Zeitschrift „Forum Wissenschaft“ sowie durch Expertisen und Tagungen usw.) in wissenschaftliche Debatten selbst eingreifen. Angesichts des massiven Roll-Backs – nicht nur im Bereich der Wissenschaft und der Hochschulen – stand der BdWI, der noch einmal in der Friedensbewegung der frühen 80er Jahre ein wichtigen Beitrag zur Gründung des Informationsdienstes „Wissenschaft und Frieden“ leistete, meist auf einsamem Posten. Dass der schwächer werdende Verband diese schwierigen Jahre überhaupt überlebte, ist nicht zuletzt das Verdienst von Rainer Rilling, der in dieser Zeit daran arbeitete, mit der „Forschungs- und Informationsstelle“ (FIB) des BdWi einen (wenn auch zunächst) kleinen Think Tank zu etablieren, der mit eigenen Forschungen in politische Auseinandersetzungen zugunsten demokratischer Kräfte zu wirken vermag. Immer wieder setzte er sich dafür ein, diese Idee einer progressiven, durch kritische Theorie geleiteten Politikberatung auch institutionell umzusetzen, wobei ihm meist die Erfahrung vermittelt wurde, dass die Verfügung über materielle Ressourcen und der politische Einfluss solcher Think Tanks miteinander verflochten sind – und insofern der Marx’sche Satz, dass die „Gedanken der herrschenden Klasse in jeder Epoche die herrschenden Gedanken sind“ (MEW 3: 46) sich erneut bestätigte. Immerhin hat er maßgebend an der Gründung der Stiftung GegenStand (1999) mitgewirkt, die einmal im Jahr in der toskanischen Villa Palagione konferiert – und er gehört zu „Denkfabriken“ wie dem wissenschaftlichen Beirat von attac und dem Beirat von „wissentransfer“. Die posthume Edition (1999) der Werke des marxistischen Politikwissenschaftler Reinhard Opitz wäre ohne die großzügige Förderung durch Godela und Rainer Rilling nicht möglicht gewesen.
Seit 1999 ist er als Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Instituts für Gesellschaftsanalyse in Berlin an der Konstruktion eines größeren Think Tanks beteiligt. Nunmehr kann er bei Projekten gestaltend wirken, die mit bescheidenen Mitteln nicht zu realisieren wären – wie z. B. die Teilnahme am Weltsozialforum, der regelmäßige „atlantische Dialog“ zwischen deutschen und nordamerikanischen Intellektuellen, die Zeitschrift „Luxemburg“, die Automobilkonferenz und vieles andere mehr. Zur Analyse der Großen Krise seit 2008 hat er wichtige Beiträge verfasst. Dabei stehen diese im Kontext des übergreifenden Interesses, die Spezifik des heutigen Kapitalismus - des Finanzmarktkapitalismus und des kapitalistischen Weltsystems und seiner Machtstrukturen sowie die darin angelegten Herausforderungen an linke Politik - genauer zu begreifen. So hat er früh (keineswegs unkritisch) die Bedeutung des Buches „Empire“(2000) von Hardt / Negri – als Eröffnung einer neuen Periode kapitalismuskritischer Diskurse – gespürt. Seine eigenen Beiträge über „Risse im Empire“(2008) und „Imperialität“ (2009) fragen nicht allein nach den Veränderungen innerhalb der Weltordnung, sondern thematisieren immer wieder den Zusammenhang zwischen den Machtverschiebungen in der internationalen Politik (US-Decline; Ende des American Century), der Krise des Finanzmarktkapitalismus und der Bildung eines gegenhegemonialen „Blocks“.
Rainer Rilling war stets auf der Suche nach neuen Themen und Fragestellungen, die freilich für die Analyse von Herrschaftsverhältnissen im heutigen Kapitalismus von erheblicher Bedeutung sind. Das Internet, die Netzwerkkommunikation und die „Cyberdemokratie“ haben ihn ganz früh beschäftigt – auch als Produktivkraftentwicklung, die für die Linke fruchtbar gemacht werden muss (z. B. .das Internet-Portal linksnet, der Blog Mehring 1, die inzwischen unverzichtbare „Suchseite“). Dass er den Spaß an dieser Arbeit noch immer nicht verloren hat, zeigt sich auch darin, dass er gelegentlich Donald Duck als Agitor für seine Botschaften einbaut. Da ist viel zusammengekommen, in diesen 65 Jahren! Und doch verbindet sich der Glückwunsch mit dem Auftrag, den uns Herbert Marcuse auf seinem Grabstein mitgegeben hat: Weitermachen!
Frank Deppe