Kurz nach der russischen Invasion in die Ukraine hat Versobooks am 25. Februar mit Ilya Budraitskis über den politischen Kontext des Angriffs gesprochen. Wir dokumentieren das Interview bei uns, weil es aus der Perspektive russischer Linker den Krieg einordnet, aber auch Fragen der Linken im Westen beantwortet: Warum waren viele Linke vom Ausmaß der Militäraktion so überrascht? Und wie können wir uns jetzt solidarisch zeigen?
Wie sieht die Lage aktuell aus? Wie groß ist der Schaden?
Ilya Budraitskis schreibt für verschiedene russische und internationale, linke Medien und ist Autor des Buches Dissidents among Dissidents: Ideology, Politics and the Left in Post-Soviet Russia. Er lehrt an der School of Social and Economic Sciences und am Institute of Temporary Art in Moskau.
Das ist schwer einzuschätzen. Die Berichte der beiden Seiten widersprechen sich enorm. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass Dutzende ukrainische Bürger*innen sowie Militärangehörige auf ukrainischer und russischer Seite gestorben sind. Russische Truppen rücken aus verschiedenen Richtungen voran, auch vom belarussischen Territorium aus. Sie wollen die beiden größten Städte einnehmen, Kiew und Charkiw. Es gibt auch Berichte von Explosionen in der russischen Grenzstadt Belgorod. Die nächsten Tage werden entscheidend sein. Offenbar geht Russland davon aus, seine militärischen Ziele schnell zu erreichen und die ukrainische Führung zu einer vollständigen Kapitulation zu zwingen. Obwohl der Westen die Ukraine nicht militärisch unterstützen will, erweist sich die ukrainische Armee als schlagkräftig, und die von Putin verkündete «Sonderoperation» könnte sehr wohl zu einem festgefahrenen, langen Krieg eskalieren. Es wurde schon berichtet, dass russische Wehrpflichtige – zwischen 18 und 20 Jahren – am Krieg teilnehmen. Noch will die militärische Führung dies verheimlichen, auch gegenüber den betroffenen Familien. Wenn es aber so weitergeht wie bisher, wird das nicht mehr lange möglich sein.
Zahlreiche westliche Mainstreammedien haben die Wahrscheinlichkeit einer bevorstehenden Invasion immer wieder betont. Viele Linke waren hingegen skeptisch. Waren Sie vom Ausmaß des Angriffs überrascht?
Wie die meisten Berichterstatter*innen in Russland habe ich bis zuletzt nicht geglaubt, dass ein großflächiger Angriff auf die Ukraine möglich wäre. Die aggressive Ausrichtung der russischen Außenpolitik und den hybriden Einsatz der russischen Armee im Donbass-Krieg habe ich aber schon klar gesehen. Westliche Linke, die bis vor kurzem noch Russland als Opfer dargestellt und von einem ukrainischen «Nazi-Regime» gesprochen haben, tragen jetzt eine Mitverantwortung für den Krieg. Und wenn sie sich selbst und ihren Anhänger*innen gegenüber aufrichtig sein wollen, sollten sie ihren Fehler öffentlich zugeben.
Welche Ziele verfolgt Putin militärisch und politisch in kurz- und langfristiger Hinsicht? Was beabsichtigt Putin in der Ukraine? Und was erhofft er sich von der Invasion für die russische Innenpolitik?
Putin hat seine Ziele in seiner Ansprache an die Nation am 24. Februar deutlich gemacht: Zerstörung der militärischen Infrastruktur der Ukraine, Erzwingen der Kapitulation und Ersetzen der Führung durch ein Regime, das Russland loyal ist. Er hat auch erklärt, dass diese «Sonderoperation» zwingend sei (Russland verteidige sich also durch einen Angriff) und den «Genozid» im Donbass beenden solle. Seiner Ansicht nach ist die Ukraine ein künstlicher Staat und historisch russisches Territorium. Diese Interpretation widerspricht ganz klar der früheren offiziellen Propaganda, die den bloßen Gedanken an eine Invasion ins Lächerliche zog.
Zum historischen Kontext dieser Invasion: Welchen Stellenwert haben die von Putin seit Anfang 2021 verfolgten Maßnahmen zur weiteren Festigung seiner Macht und zur Zerschlagung der organisierten Opposition?
Sicherlich hat die politische Unterdrückung des vergangenen Jahres zur Zerstörung der organisierten Opposition beigetragen, die jetzt eine Antikriegsbewegung hätte anführen können. Die Unterdrückung zielte aber auch darauf ab, in der Gesellschaft eine Stimmung der Angst zu verbreiten und das Interesse an Politik niedrig zu halten. Doch selbst jetzt lässt sich beobachten, dass die Gesellschaft in ihrer Haltung zum Krieg tief gespalten ist. Es gibt keine patriotische Einigkeit.
Wie wichtig sind die beiden abtrünnigen «Republiken» Donezk und Luhansk für den Konflikt?
Die Anerkennung der «Republiken» in Donezk und Luhansk war der wichtigste Vorwand für die militärische Operation. Dafür wurde bei der Bevölkerung vor Ort eine künstliche Panik erzeugt, auch durch die Ankündigung von Evakuierungen. Die Grenzen der Territorien, für die diese Anerkennung gilt, stehen nicht fest, und somit ist ein Vorstoß weit in die Ukraine hinein möglich.
Wie wird sich der Konflikt auf die politische Ökonomie der Region und darüber hinaus auswirken? Welche Folgen könnte ein längerer Konflikt haben?
Mit der Kriegsbegründung der russischen Führung stehen auch andere postsowjetische Grenzen wieder zur Diskussion. Sie sind laut Putin ebenfalls künstlich gezogen worden. Das haben die Regierungen der postsowjetischen Republiken verstanden. Keine von ihnen unterstützt das Vorgehen Russlands. Selbst Lukaschenko, der den russischen Truppen das Territorium von Belarus zur Verfügung stellt, hat sich öffentlich vom Krieg distanziert und will sich als neutrale Partei darstellen. Putin spekuliert darauf, dass ihn der Besitz von Atomwaffen vor einer militärischen Intervention des Westens auf seiner Behauptung zufolge «historisch» russischen Gebieten schützt. Es ist also schwer zu sagen, wann er genug haben wird. Wenn er die politische und militärische Kontrolle über die Ukraine erreicht hat, könnte Russland sich im postsowjetischen Raum weiter ausbreiten.
Wir erleben gerade große Proteste in Russland. Viele werden verhaftet. Wie schätzen Sie die Stimmung der russischen Bevölkerung ein?
Anders als 2014 gibt es heute in Russland keinen patriotischen Enthusiasmus. Ein Teil der Gesellschaft stellt sich klar gegen den Krieg mit der Ukraine, während die Mehrheit einfach glaubt, dass er bald vorbei ist und Russland den Frieden wiederherstellt. Es gibt nur sehr wenige revanchistische Stimmen, die den Krieg begrüßen und für einen geopolitischen Triumph Russlands Opfer auf sich nehmen würden. Jedoch haben die allermeisten Russ*innen in den langen Jahren von Putins Herrschaft die Haltung eingenommen, dass sie ohnehin nichts verändern können und alles ohne ihr Zutun beschlossen wird. Durch eine solche Entpolitisierung und Resignation könnte der Krieg eine Zeit lang passive Unterstützung erhalten. Wenn er sich jedoch in die Länge zieht und die meisten Russ*innen soziale Konsequenzen spüren, könnte die Stimmung kippen. Besonders wichtig ist dabei auch, dass Ukrainer*innen als kulturell und historisch sehr nah gelten. Viele Russ*innen haben ukrainische Wurzeln oder Verwandte in der Ukraine. Damit ist die Zustimmung zum Krieg sehr ungewiss.
Wie sollte die Linke außerhalb Russlands reagieren? Wie sollten wir Druck auf unsere Regierungen ausüben? Welche Forderungen sollten wir stellen?
Zunächst müssen wir ein Ende des Krieges und direkte Gespräche zwischen Putin und Selenskij fordern. Der Donbass muss entwaffnet und unter UN-Kontrolle gestellt werden. Es muss klar gesagt werden, wer den Krieg angefangen hat, ohne nach Ausreden zu suchen. Das alles bedeutet nicht, dass sich Linke hinter ihre jeweiligen Regierungen stellen sollen, vor allem im NATO-Block. Putin hat jetzt natürlich viel für die Rechtfertigung der NATO und ihrer stärkeren Präsenz in Europa getan. Wir müssen aber begreifen, dass Sanktionen die gesamte russische Bevölkerung treffen und das Land international isolieren – nicht nur die Regierung, sondern die ganze Gesellschaft. Somit könnten sie sich anders als erwartet auswirken und etwa das Regime stärken.
Übersetzt von André Hansen für Gegensatz Translation Collective. Das Interview erschien am 25. Februar 2022 zuerst auf https://www.versobooks.com/blogs/5280-should-we-have-seen-this-coming-ilya-budraitskis-on-the-invasion-of-ukraine.