News | Soziale Bewegungen / Organisierung - Südosteuropa Die neue Linke in Südosteuropa

Eine Studie zu Entstehungsbedingungen, Kämpfen, Erfolgen und Misserfolgen linker Akteur*innen

Information

Am Morgen des 15. April 2009 wurde die Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften in Zagreb von Studierenden besetzt. Was als ein weiterer Studentenstreik gegen die ausufernde Kommerzialisierung der Hochschulbildung begann, wurde alsbald zur Chiffre der Wiedergeburt der Linken im postsozialistischen Balkan. Inspiriert wurden die Zagreber Student*innen von einer kurzlebigen Studentenbesetzung in Belgrad, die 2006 stattgefunden hatte. Sie organisierten ihren Kampf mit einem Ziel (freie Bildung), einer Methode (Blockade und Besetzung) sowie einer Form (Vollversammlung oder Plenum). Die Besetzung trug dabei alle Merkmale der sich entwickelnden neuen Balkan-Linken: ein breites Bündnis linker und fortschrittlicher Akteur*innen, Verteidigung von Allgemeingütern, die Ausarbeitung einer antikapitalistischen Kritik an den postsozialistischen Verhältnissen sowie der Einsatz horizontaler und partizipativer Demokratie.

Jeder, der einigermaßen mit der schier endlosen «Transition» der postsozialistischen Gesellschaften zu Marktwirtschaften und liberalen Demokratien seit 1989 vertraut ist, wird erkennen, wie deplatziert diese Zagreber Ereignisse für die Menschen in dieser Region wirken mussten; einer Region, in der sowohl die sozialistische Ideologie als auch die sozialistische und kommunistische Arbeiterbewegung auf dem Müllhaufen der Geschichte landen sollten.

Krunoslav Stojaković leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Belgrad und Tuzla (Bosnien-Herzegowina).

Der Zusammenbruch des sozialistischen Blocks hatte nicht nur ganze politische Systeme von der Landkarte getilgt, sondern auch die Organisationsstrukturen und kulturellen Traditionen der Arbeiterbewegung. Buchstäblich über Nacht wurde das Eintreten für Solidarität und soziale Gleichheit politisch, sozial und kulturell an den Rand gedrängt. Auch ihre materiellen Symbole sollten durch die Zerstörung und Entfernung von Denkmälern, die Umbenennung von Straßen und die Änderung des öffentlichen Vokabulars hastig ausgelöscht werden.

Indes, der Finanzcrash von 2008 und sein globaler Charakter erleichterten – nach zwei Jahrzehnten nahezu absoluter Dominanz neoliberaler und rechtskonservativer Ideologien und Akteure – eine allmähliche Wiederbelebung antikapitalistischer Kritik in den Medien und der Öffentlichkeit. Die Ideen der neuen Linken stießen somit auf neues Interesse, Neugier und sogar Unterstützung in den Bevölkerungen, die von den Jahren des Kapitalismus, der neoliberalen Umstrukturierung, der Austerität, der massenhaften Gewalt und Diskriminierung von Minderheiten, des extremen Nationalismus und der autoritären Führungseliten erschöpft waren. In den postjugoslawischen Staaten hatten die Bürger*innen in den 1990er Jahren eine Reihe verheerender Kriege erlebt, die bis zu 130.000 Menschenleben forderten. Millionen Menschen wurden vertrieben und ohne Wohnung und Arbeit zurückgelassen. Der «Aufschwung» der Nachkriegszeit erfolgte in Form von Privatisierungskampagnen, die ausländischen Unternehmen und Banken lukrative Geschäfte ermöglichten und eine neue Wirtschaftsoligarchie hervorbrachten, die eng mit der postsozialistischen politischen Elite verbunden und oft nicht von ihr zu unterscheiden war. Diese Rahmenbedingungen brachten linke Denker*innen und Ideen zurück in die Öffentlichkeit. Sie ermöglichten eine Wiedergeburt der Linken auf dem postsozialistischen Balkan.

Was also ist die neue Balkan-Linke? Wir verwenden den Begriff in unserer Studie nicht nur für Organisationen, die sich offen als der Linken zugehörig definieren, sondern auch für progressive politische und soziale Bewegungen, die viele Werte und Ziele der Linken teilen. Mit anderen Worten, wir beziehen uns auf Ereignisse, Aktionen, Initiativen, Bewegungen, Gruppen und Akteur*innen, die nicht unbedingt eine klar definierte und vollständig organisierte politische Einheit darstellen.

Das Buch «The New Balkan Left. Struggles, Successes, Failures» von Igor Štiks und Krunoslav Stojaković kann als kostenloses PDF auf der Homepage des Belgrader Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung heruntergeladen werden.

Die neue Balkan-Linke entwickelt sich in einer Region, die in EU-Mitgliedsstaaten (Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien) und EU-Beitrittskandidaten (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Nord-Mazedonien, Montenegro und Kosovo) geteilt ist, wobei die Europäische Union diese Nicht-Mitgliedsländer in einer Art Ghetto mitten in Europa eingeschlossen hat. Trotz ihrer internationalistischen Sichtweise schwankt die Position der neuen Balkan-Linken gegenüber der EU zwischen kritischem Vorbehalt und Ablehnung. Ein Teil der wachsenden Skepsis gegenüber der EU und ihren Institutionen lässt sich auf die autoritäre Politik der Troika gegenüber der Syriza-Regierung in Griechenland zurückführen, die vielen Menschen auf dem Balkan als Hoffnungsschimmer gedient hatte. Noch ernüchternder ist jedoch die soziale und wirtschaftliche Not, unter der so viele Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten leiden. Eine Studie ergab beispielsweise, dass 2015 der Unterschied im BIP zwischen dem ärmsten EU-Mitgliedsstaat Bulgarien und dem reichsten, Luxemburg, bei 1:14 lag und zwischen Bulgarien und Dänemark, dem Land mit dem zweithöchsten Pro-Kopf-BIP in der EU, bei 1:7,6 – was bedeutet, dass der EU-Beitritt den neuen postsozialistischen Mitgliedern keine unmittelbare Erholung gebracht hat. Bestenfalls hat er einigen Staaten dringend benötigte Mittel für die Infrastruktur zugeführt, aber das Ausbleiben des erwarteten Wirtschaftswachstums nach der Integration hat Zehntausende von Menschen dazu gebracht, ihre Länder zu verlassen.

Kroatien, Rumänien und Bulgarien verlieren immer mehr Einwohner*innen, und ein ähnliches Migrationsmuster trifft auch auf Bosnien-Herzegowina, Serbien und Nord-Mazedonien zu.

In den neuen Mitgliedsstaaten hat der EU-Beitritt auch nicht dazu geführt, die Bedrohung durch neokonservative, nationalistische und rechtsgerichtete politische Akteure einzudämmen, von denen sich einige offen des historischen Faschismus bedienen, um Unterstützung zu generieren.

Dieser Text ist in der maldekstra, dem Auslandsjournal für globale Perspektiven von Links erschienen. Das Thema der Ausgabe #14 ist «Linke Bewegungen».

Die Tendenz, dem Geschichtsrevisionismus in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg institutionell entgegenzukommen, ist besonders besorgniserregend in Kroatien, wo er von Ustascha-Affinen und radikalen katholischen Organisationen stark gefördert wird, aber auch in Bulgarien, wo Rechtsradikale häufig an der Regierung beteiligt sind. Und im EU-Kandidatenland Serbien wurde die Kollaborationsbewegung der Tschetniks offiziell zu einer «zweiten antifaschistischen Bewegung» neben den kommunistischen Partisanen umdefiniert. Es ist daher nicht überraschend, dass die Linke auf dem Balkan die EU ambivalent wahrnimmt. Nichtsdestotrotz nehmen Akteur*innen der neuen Linken an den Wahlen zum Europäischen Parlament teil und arbeiten an der Bildung gesamteuropäischer Bündnisse, wie das Beispiel von Levica aus Slowenien zeigt.

In insgesamt sieben Kapiteln zeichnen wir den unerwarteten Aufstieg dieser neuen Linken nach. Wir beschreiben und analysieren verschiedene Kämpfe, anstatt uns nur auf bestimmte Ereignisse, Bewegungen oder Länder zu konzentrieren. Wir untersuchen zunächst die Rolle der Linken im Rahmen verschiedener Massenproteste, die oft durch Armut, Korruption und Autoritarismus ausgelöst wurden. Anschließend erörtern wir die Kämpfe für freie Bildungsmöglichkeiten auf allen Ebenen, die das Wiederaufleben dieser neuen Linken überhaupt erst ausgelöst und zu einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Unterstützung für progressive Politik geführt haben.

Auch verschiedene Formen des Arbeitskampfes standen und stehen wieder ganz oben auf der Agenda der Linken. Die neue Linke war zudem relativ erfolgreich bei der Initiierung zahlreicher gegenhegemonialer Kämpfe in den Bereichen Medien, Wissenschaft, Kultur und Kunst, wodurch der dringend benötigte Raum für eine breitere Akzeptanz linker Theorien und Argumente geschaffen wurde. Viele der Akteur*innen, über die wir in diesem Zusammenhang sprechen, engagieren sich in sogenannten Solidaritätskämpfen, wo in Not geratenen Menschen (beispielsweise bei Zwangsräumungen) ad hoc Unterstützung angeboten wird. Dazu gehört aber auch die Unterstützung von Flüchtlingen auf ihrer Flucht über die Balkanroute. Diese wiedergeborene Linke, mit all ihren Erfolgen und Misserfolgen, stellt eine wachsende soziale, kulturelle, mediale und intellektuelle Kraft in den heutigen Balkangesellschaften dar, die sich zwar erst noch als relevante politische Kraft durchsetzen muss, aber inzwischen wahrnehmbar die politische Arena betreten hat.