News | Antisemitismus (Bibliographie) - Shoah und linkes Selbstverständnis - Theorie des Antisemitismus Moishe Postone – Antisemitismus und Nationalsozialismus, 1979.

Genialer Versuch, die Vernichtung der europäischen Jüd*innen durch eine neo-marxistische Erkenntnistheorie zu erklären - und eine solidarische Spiegelung für die antikapitalistische Linke aus jüdischer Perspektive.

Information

Wie Peter Ullrich bereits in seiner Rezension schrieb, hat der verhältnismäßig kurze Artikel «Antisemitismus und Nationalsozialismus» (1979) bzw. «Die Logik des Antisemitismus» (1982) bzw. «Nationalsozialismus und Antisemitismus» (1988) einen immensen Einfluss auf die deutsche Linke, insbesondere die sogenannten Antideutschen. Postone entfaltete darin eine neo-marxistische Theorie des Antisemitismus. Er prägte so den Begriff «verkürzte Kapitalismuskritik» und trug zur Begründung des Begriffs «struktureller Antisemitismus» bei, also der Idee eines Antisemitismus ohne Jüd*innen. Beide Begriffe gehören heute zum Repertoire des Diskurses über Antisemitismus.

Wohl kein anderes Diskursfeld birgt für die Linke so große Sprengkraft. Am Begriff «struktureller Antisemitismus» scheidet sich «anti-imp» und anti-deutsch». Je nach Zugehörigkeit bilden beide Lager verschiedene Selbstverständnisse und Praktiken aus. Der jeweilige Habitus und Denkstil ist nur schwer zu vermitteln, Auseinandersetzungen artikulieren sich mitunter gewaltförmig.

Um es vorwegzunehmen: Ich denke, dass die Differenzmarkierung in den seltensten Fällen gut begründet ist. Eine gute Begründung würde nämlich stets konkret, das heißt zeit- und kontextspezifisch argumentieren. Je vehementer die Positionen sich jedoch gegenüberstehen, desto weniger spielen Zeit und Kontexte eine Rolle. So dient Postones Artikel den einen als allgemein, das heißt zeit- und kontextunabhängig, wahrer Text. Für die anderen steht er für eine Theorie ohne Praxis bzw. für theorieaffine Linke, deren einzige Praxis die Unterstützung Israels ist. Beiden Seiten soll hier eine dezidiert historisierende Perspektive entgegengehalten werden.

Die Neue Marxlektüre als historische Grundierung

Bereits der Titel des Aufsatzes birgt eine produktive Dissonanz. Denn dass Postone 1979 seinem Aufsatz den Titel «Antisemitismus und Nationalsozialismus» gab, dieser heute aber vor allem als «Nationalsozialismus und Antisemitismus» firmiert, verweist auf eine historische Entwicklung. Wohl die wenigsten haben sich die Mühe gemacht, beide Texte neben- und übereinander zu legen. Stattdessen ist der Umgang mit dem Aufsatz mitunter exegetisch und Postone wird zur Koryphäe stilisiert. Dabei handelt es sich bei seinem Aufsatz, wie bei jedem anderen Text, um das Ergebnis langjähriger Überlegungen, die ihre Vorgeschichte haben und nicht von vornherein in Stein gemeißelt waren.

Als der Aufsatz 1979 erstmal auf Deutsch publiziert wurde, bekam er einen Annex. Beinahe entschuldigend heißt es: «Dieser Artikel wurde von Moishe Postone ursprünglich für die New German Critique geschrieben, also einem amerikanischen Publikum». Postone habe diesem erläutern wollen, welche Wirkung die Ausstrahlung der TV-Serie «Holocaust» auf die Deutschen, insbesondere die Linken und Linksliberalen, hatte. Die New German Critique ist eine akademische Fachzeitschrift der German Studies. Der deutsche Ausschnitt wurde in der Frankfurter Studierendenzeitschrift Diskus publiziert.

Warum Frankfurt? In der Stadt am Main hatte der jüdische Kanadier Postone seit 1972 gelebt. Er arbeitete am Institut für Sozialforschung, also jener berühmten Institution, die 1923 durch den Mäzen Hermann Weil und seinen Sohn Felix gegründet, 1931 von Max Horkheimer geleitet und von diesem 1951 wiedereröffnet worden war. Theodor W. Adorno hatte bis zu seinem Tod 1969 als geschäftsführender Direktor fungiert. Danach, unter dem Soziologen Ludwig von Friedeburg und dem Statistiker Rudolf Gunzert, wandte sich das Institut immer stärker der empirischen Sozialforschung zu.

Ab Mitte der 1960er Jahre hatte sich in Frankfurt eine nicht-empirisch Strömung entwickelt, die Postone maßgeblich prägen sollte: die sogenannte Neue Marx-Lektüre. Zu ihren Hauptbegründern zählten die beiden Adorno-Schüler Helmut Reichelt und Hans-Georg Backhaus. Sie grenzten sich dezidiert von «substantialistischen» Lesarten des Kapitals ab. Nach diesen habe Marx seine Theorie auf der Substanz «Arbeit» bzw. «gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit» begründet. Individuelle Produzenten handelten zwar für sich rational, aber erst im Austausch – also wenn die Produkte bereits hergestellt sind – stelle sich heraus, ob ihre Arbeit gesellschaftlich anerkannt werde, sprich: ihre Erzeugnisse Absatz finden. Floss mehr Arbeitszeit in ein Produkt als gesellschaftlich notwendig war, also als das Gros der Produzenten für die Herstellung vergleichbarer Produkte benötigt hatte, war die Arbeit umsonst. Wenngleich folglich dem Individuum seine Arbeit rational erscheint, offenbart sich die kapitalistische Produktionsweise gesamtgesellschaftlich als irrational.[1]

Reichelt und Backhaus unternahmen eine andere Lektüre des Kapitals. Dass sie sich gegen die Interpretation des Staates als Instrument der herrschenden Klasse und das geschichtsdeterministische Weltbild vom zwangsläufigen Sieg des Proletariats wandten, war insofern nicht besonders, als dass dies schon etliche vor ihnen getan hatten – zu den bekanntesten zählt heute Antonio Gramsci, dessen Konzept der Hegemonie auf die 1920er Jahre zurückgeht. Die Besonderheit bestand nicht in der empirischen, sondern in der theoretischen Fundierung des Arguments. Reichelt und Backhaus lasen das Kapital selbst nicht länger als eine Analyse der ökonomischen Verhältnisse, sondern als eine Ideologiekritik. In den Fokus rückte das «automatische Subjekt», über das Marx im ersten Band schrieb:

«In der Zirkulation G – W – G funktionieren dagegen beide, Ware und Geld, nur als verschiedne Existenzweisen des Werts selbst, das Geld seine allgemeine, die Ware seine besondre, sozusagen nur verkleidete Existenzweise. Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt.»[2]

Im Angesicht des «automatischen Subjekts» erscheinen die unterschiedlichen Formen des Kapitals, die verschiedenen Ausdrücke des Werts, nicht länger als eine Abfolge. Alles passiert in der Totalität der Warenwelt zur selben Zeit und immerfort. Nicht mehr der Mensch erscheint als ursächlich für die Welt, sondern das Kapitalverhältnis selbst. Für Reichelt und Backhaus nahm folglich der Begriff «Fetisch» einen zentralen Platz ein.[3] Mit diesem beschrieb Marx nicht nur, wie der konkrete Gebrauch eines trivialen Dings in den Hintergrund trete, sobald dieses als Ware gesehen werde. In der Welt der Waren erschienen die sozialen Beziehungen der Menschen als gesellschaftliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, also als «Natureigenschaften der Produkte». Das Kapitalverhältnis erscheint dann nicht länger als historisch geworden und veränderbar, sondern als natürlich.

Vor dem Hintergrund eines derartigen Fetischs geraten die Konzepte «Klassenverhältnis» und «Kapitalverhältnis» notwendig in Konflikt. Während erstes ein Herrschaftsverhältnis mit konkreten Macht- und Abhängigkeitsstrukturen thematisiert, beschrieb die Neue Marx-Lektüre mit letztem den Kapitalismus als ideologische Totalität. Können für die einen die Proletarier sich von den Ketten der Kapitalisten befreien, können für die anderen sie das erst dann, wenn sie sich des Denkstils und der Begrifflichkeiten des Kapitalismus entledigt haben. Sind für die einen Rassismus, Antisemitismus und andere Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Instrumente der herrschenden Klasse, um ihre Herrschaft zu verschleiern, entstehen sie für die anderen aus dem Kapitalverhältnis selbst.[4]

Im linken Erfahrungsraum zur materialistischen Antisemitismustheorie

Die Neue Marx-Lektüre bildete die Grundierung für Postones Erfahrungen in Deutschland. Dass er diese insbesondere in studentisch geprägten linken Milieus machte, davon zeugt bereits der erste Absatz von «Antisemitismus und Nationalsozialismus». Die «Neue Linke» fungiert darin sowohl als Gegenstand seiner Analyse als auch als Adressatin. Für sie sei die Ausstrahlung der 1978 produzierten und im Jahr darauf auch in der BRD ausgestrahlten TV-Serie «Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss» ein Schockerlebnis gewesen. Postone schlussfolgerte: Dass dies so gewesen sei, habe offenbart, wie unvollständig das in der Linken verbreitete «Bild des Nazismus» sei. Sowohl die orthodoxen Marxisten als auch die nicht-dogmatischen Linken hätten den Antisemitismus des Nationalsozialismus nur als Randerscheinung behandelt, wodurch seine Vernichtungslager unerklärbar blieben oder zu bloßen Beispielen imperialistischer Massenmorde würden.

Postones Analyse war geprägt von konkreten Erfahrungen. Der 68er-Generation konstatierte er zwar ein Interesse am Nationalsozialismus, dieses habe jedoch im Gefühl der Abscheu und Schuld gewurzelt, woraus letztlich eine Abwehrreaktion resultierte. Man habe sich schuldig gefühlt für das Fehlen eines veritablen deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Diesen als Abstraktum zu verhandeln, auch vermittels des omnipräsenten Begriffs «Faschismus», habe erlaubt, die eigenen politischen Aktivitäten als «Lernen aus der Vergangenheit» zu imaginieren. In Wirklichkeit fand eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus jedoch nicht statt. Welche Identitätspolitik solcher Praxis zugrunde lag, zeigte sich Postone zufolge an der Umkehrung des Verhältnisses zu Israel im Zuge des sogenannten Sechstagekriegs: «Keine westliche Linke war vor 1967 so philosemitisch und prozionistisch. Vermutlich keine identifizierte sich in der Folge so stark mit der palästinensischen Sache.»

Postone hielt dagegen: Holocaust und moderner Antisemitismus müssten ausführlich beschrieben werden, um ihre qualitative Besonderheit zu begreifen. Erster sei nicht Ausdruck eines äußeren Ziels, sondern Selbstzweck gewesen, weswegen er auch nicht durch «objektivistische Theorien» – z. B. durch die gängigen Kapitalismustheorien – erklärt werden könne. Der Antisemitismus hingegen zeige sich als «eine Ideologie, eine Form des Denkens», die beanspruche, die Welt zu erklären. Die Qualität der den Juden zugesprochenen Macht unterscheide ihn von anderen Formen des Rassismus.

Folglich war es Postones Anspruch, ein «historisch-erkenntnistheoretisches Beziehungsgefüge» aufzuspannen, innerhalb dessen genauere Analysen erfolgen könnten. Diesen Vorgang bezeichnete er als «materialistische Erkenntnistheorie». Ihr sollte Marx‘ Begriff des Fetischs zugrunde liegen. Auf dieser Grundlage erkannte Postone, dass all jene Merkmale, die der moderne Antisemitismus den Juden zuschreibe – Abstraktheit, Universalität, Mobilität, Nicht-Fassbarkeit – Merkmale des Werts seien. Als positives Gegenbild fungierten dabei konkrete Arbeit, das «Natürliche», Gemeinschaft, Blut und Boden. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten sei somit keine «Bewusstseinsmanipulation» gewesen, sondern Ausdruck eines ideologischen Antikapitalismus – eines Antikapitalismus, der sich durch den «einseitigen Angriff auf das Abstrakte» auszeichne.[5] Während in kapitalistischen Fabriken in erster Linie Werte produzierte würden, die als notwendige Form jene konkreter Güter annähmen, sei Auschwitz die «groteske arische antikapitalistische Negation» gewesen, also eine Fabrik zur Vernichtung des Werts, in der die Deutschen am Ende auch noch die gegenständlichen Überreste des konkreten Gebrauchswerts verwerteten: Kleider, Gold, Haare, Seife.

Die Wirkmacht der (fehlenden) Resonanzräume

So genial Postones Überlegungen, so wenig Anklang fanden sie zunächst. Während Klaus Theweleits Männerphantasien (1977/78) für die Neue Linke zum Standardwerk avancierte,[6] wurde «Antisemitismus und Nationalsozialismus» nur wenig rezipiert. Postones Gedanken blieben dem theorieaffinen Publikum der Diskus verhaftet, welche immerhin einen weit über Frankfurt hinausreichenden Ruf genoss. Noch im selben Jahr wurde sein Aufsatz auch in der Sponti-Zeitschrift AUTONOMIE. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft abgedruckt. Welche Wirkung er erzielen konnte, bleibt jedoch fraglich. Die Herausgeber*innen hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits gespalten. Unter dem veränderten Namen AUTONOMIE. Neue Folge waren bereits die ersten Ausgaben fernab von Frankfurt produziert worden.

Bemerkenswert, gar folgerichtig erscheint, dass Postone nicht bei seinen eigentlichen Adressatinnen, den bundesrepublikanischen Linksradikalen, sondern im bildungsbürgerlichen Milieu Anklang fand. 1982 erschien sein Aufsatz unter dem Titel «Die Logik des Antisemitismus» in der Kulturzeitschrift Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Dem Medium entsprechend, adressierte Postone nicht länger nur die Linke, sondern auch die Liberalen und Konservativen. Während jene – wie beschrieben – den Nationalsozialismus zuvorderst als Spielart des Kapitalismus begriffen, befassten diese sich zwar mit der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden, täten dies aber insbesondere, um den Bruch zwischen Drittem Reich und der BRD zu betonen und bagatellisierten dabei den Antisemitismus als bloßes Vorurteil. Beide Seiten isolierten damit den Holocaust auf ihre jeweils eigene Weise und würden der Qualität des Antisemitismus nicht gerecht.

Für die Merkur ordnete Postone seine Gedanken neu. Einer kurzen Einleitung folgen vier Abschnitte. Im ersten wird das Wesen des Holocausts und des modernen Antisemitismus beschrieben. Daran schließen Überlegungen auf Grundlage von Marx‘ Fetischbegriff an. Neu eingeführt wird der Begriff «Antinomie», um den Gegensatz zwischen Konkretem und Abstraktem zu beschreiben, in welchem die gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus erscheinen. Drittens stellt Postone heraus, dass der fetischisierte Antikapitalismus nicht wahllos, sondern «begründet» die Juden als sein Objekt wählte. Im vierten Abschnitt werden die Gedanken noch einmal pointiert und wortgewaltig zusammengefasst.

Wenngleich die Neustrukturierung seiner Gedanken einen neuen Text schuf, finden sich im Vergleich zu 1979 keine neuen Inhalte wieder. Zwar tauchen der Begriff «Antinomie» und eine kurze Auseinandersetzung mit Georg Mosses The Crisis of German Ideology (1964) neu auf. Doch waren sie bereits Teil des englischen Originals von 1980, sind also den deutschen Übersetzungen von 1979 zum Opfer gefallen. Umgekehrt ist daher interessant, was angesichts der neuen Leser*innenschaft gekürzt worden war. So findet beispielsweise Klaus Theweleit keine kritische Erwähnung mehr. Der offensichtlich einem linken Diskurs entstammende Begriff «Quasi-Staatskapitalismus» ist absent. Und auch die Frage nach dem deutschen und jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird nicht länger verhandelt. Mit ihr verschwinden die psychologisierenden Überlegungen zur Frage, was dies mit gegenwärtiger linker Praxis zu tun habe und somit auch: Israel, den Palästinensern und dem (Anti-)Zionismus.

Der Neustrukturierung nach durchaus verständlich, den Streichungen nach aber recht erstaunlich, fand «Antisemitismus und Nationalsozialismus» unter Linken in seiner Gestalt von 1982 Verbreitung. Dazu trug Dan Diner bei, der 1979 – ebenfalls nicht nur in Frankfurt lebend, sondern in Kontakt mit der linksradikalen Szene –[7] gerade seine Habilitation abschloss. Mit dem Sammelband Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz (1988) formulierte der Historiker nicht nur zum ersten Mal seine wirkmächtige Interpretation des Nationalsozialismus als «Zivilisationsbruch». Teil der jüdischen Perspektive, die in den Historikerstreit (1986/87) eingebracht wurde, war auch Postones Aufsatz in der Form von 1982. Dennoch dauerte es bis in die 1990er Jahre, dass dieser auch in linken Milieus stärker rezipiert wurde. Dafür verantwortlich zeichnete sich unter anderen die Freiburger Initiative Sozialistisches Forum (ISF) um den Publizisten Joachim Bruhn (1955-2019). 1991 veröffentlichte sie den Aufsatz in ihrer Zeitschrift Kritik und Krise. Wenngleich anfänglich kritisch gelesen, wurde Postone in der Folge zum bedeutenden Referenzpunkt für die sogenannten Antideutschen.[8] Diese stellten sich nicht nur in die Tradition der Kritischen Theorie, sondern knüpften insbesondere auch an die Neue Marx-Lektüre an.

Die Wirkungsgeschichte von «Die Logik des Antisemitismus» (1982) bzw. «Nationalsozialismus und Antisemitismus» (1988) kann also einerseits als organisch und folgerichtig begriffen werden. Die antisemitismuskritische Linke hatte gute Gründe, anhand der öffentlichen Debatten rund um die Wehrmachtsausstellung (1995) und Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker (1996) zu konstatieren: In Deutschland hatte eine wirkliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Auseinandersetzung mit dem modernen Antisemitismus niemals stattgefunden. Eine antikapitalistische Praxis laufe demnach immer Gefahr, in fetischisierter Manier in den Antisemitismus umzukippen. Andererseits war ein wichtiger Bestandteil verloren gegangen, der 1979 in der Diskus noch vernommen werden konnte: Postone hatte dezidiert die Linke– dazu in einem durchaus vorsichtigen, fragenden, empathischen Ton – adressiert und auf ihre Defizite hingewiesen. In seinem Ursprung war der Artikel nicht nur ein marxistisch-theoretisches, sondern auch ein praktisch-solidarisches Reflexionsangebot – für den Publizisten Gerhard Hanloser gar die Artikulation eines «linksradikalen Juden», der den legitimen linken Antizionismus vor reaktionären Wendungen bewahren wollte.[9]

Das Problem der Vermittlung

So entwickelte sich in den 1990er Jahren auf der einen Seite eine akademische Linke, die im Reflektieren und Theoretisieren eine hinreichende, zum Teil sogar die einzig mögliche Praxis sah, und nur dann auf die Straße ging, wenn sie Antisemitismus oder Antizionismus witterte. Folgerichtig diente ihr «Antisemitismus und Nationalsozialismus» in der Version der bildungsbürgerlichen Merkur als Referenz. Auf der anderen Seite sortierte sich die Bewegungslinke neu und fand sich im Altermondialismus wieder, welcher 2001 im ersten Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre mündete. Sie erfuhr massive Repression (Seattle 1999 und insbesondere Genua 2001) und fokussierte die Ausbeutung im globalen Süden, immerfort auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt.

In ihrer Zuspitzung konnten die Standpunkte unterschiedlicher nicht sein. Die einen zogen sich in verrauchte Jugendzentren zurück und produzierten in männerdominierten, bio-deutschen Zirkeln – gefühlt immer mit einem Bein in der Depression stehend – theoretische Texte über die unentrinnbare kapitalistische Totalität. Die anderen suchten derweil weltweit nach der revolutionären Bewegung, kehrten immer wieder enttäuscht heim und entluden Enttäuschung und Überschwang regelmäßig in antisemitischen Semantiken.[10] Beide Seiten zu vermitteln, konnte kaum mehr gelingen. Man mag dies als folgerichtiges Resultat sich ausdifferenzierender Gesellschaften lesen. Die Neu- und Rekonfiguration geographischer und sozialer Räume, die Spezifizierung von Wissen und die Vervielfältigung von Identitäten unterliegen in der Globalisierung einer Dynamik, die auch vor Linken nicht haltmacht.

Vielleicht verweist die Rezeptionsgeschichte von «Antisemitismus und Nationalsozialismus» aber auch auf ein anderes Phänomen: das Problem der Vermittlung zwischen Intellektuellen und ihren Adressat*innen. Dies betrifft schon Marx selbst. Nicht von ungefähr fanden unterschiedliche Gruppen sich in seiner Theorie nicht oder nur unzureichend wieder – allen voran Frauen*, die die Reproduktion thematisierten.[11] Wenngleich Marx zuletzt als sensibler Theoretiker der Globalisierung interpretiert wurde,[12] haben viele Intellektuelle des globalen Südens seit Jahrzehnten Einwände formuliert.[13] Dazu gegenläufig verhielt sich die Neue Marxlektüre und auch Postone. Sie spitzten das Kapital idealtypisch zu und stellten Marx von den Füßen auf den Kopf.[14] Für all jene, die sich den «Verdammten dieser Erde» (Frantz Fanon) verschrieben haben, bringt dies ein Vermittlungsproblem mit sich. Was sollen sie – von der verraucht-depressiven Stimmung ganz zu schweigen – mit solch idealtypischen Darstellungen anfangen?

Postones Überlegungen sind oft als «Ökonomismus» oder «Ableitungsantisemitismus» kritisiert worden. Zum einen beschränkt sich Marx‘ Fetischbegriff nicht auf den ersten Band des Kapitals. Der Begriff umfasst mehr Dimensionen als Postone erkennen wollte. Selbst ein «Wertkritiker» wie Michael Heinrich kommt daher zu dem Urteil, dass Postone einer vorschnellen Vereindeutigung erlegen sei, indem er einen direkten und zwangsläufigen Weg vom Warenfetisch bis nach Auschwitz suggeriert habe.[15] Zum anderen spitzte Postone infolge seiner Darstellung des Kapitals letztlich auch den Nationalsozialismus idealtypisch zu. Dieser erscheint nur noch als Vernichtung, nicht länger als Prozess mit widersprüchlichen Dynamiken. Die vielen Jüd*innen, welche konkrete Nachbar*innen waren und in einfachen Verhältnissen lebten, kommen dabei genauso wenig vor, wie die Millionen Gojim[16], die als Opportunist*innen vor den Nationalsozialisten kuschten und mitliefen.[17]

Doch ist die idealtypische Ideologiekritik damit nicht zwangsläufig unnütz. Nicht zuletzt vermag sie es – im Sinne von Postones Aufsatz in seinen Versionen von 1979 –, die Kapitalismuskritik für antisemitische Verkürzungen zu sensibilisieren. Anstelle theoretischer Bekenntnisse bräuchte es aber den Willen zu verstehen: Wer sagt wo was mit welcher Intention? Empathie statt Vorwürfe, Verstehen statt Erklären sind die Voraussetzungen der Vermittlung. Unnütz dagegen ist die Zuspitzung: Ob Marx «substantialistisch», wert- oder ideologiekritisch gelesen werden muss, entspricht der Frage nach Henne und Ei. Man kann sie nicht beantworten und soll sich dennoch bekennen.[18] Für den Zwang zum Bekenntnis lieferte Postone schon 1979 die passende Kritik: «Theorie selbst wurde zu einer Form psychischer Verdrängung.»

In Hinblick auf den Holocaust formulierte Hannah Arendt 1964 den eindrücklichen Satz: «Da ist irgend etwas passiert, mit dem wir alle nicht fertig werden.» Postone gelang mit «Antisemitismus und Nationalsozialismus» ein genialer Versuch, die Vernichtung der europäischen Jüd*innen durch eine neo-marxistische Erkenntnistheorie zu erklären, sprich: mit dem Holocaust «fertigzuwerden». Seinen Aufsatz wegen dessen Dissonanzen nicht gleich zu verwerfen und stattdessen zu historisieren, entspricht dem Willen zu verstehen. Es bedeutet auch, den Artikel in einer Dimension ernst zu nehmen, welche bislang zu wenig gesehen wird: als eine solidarische Spiegelung für die antikapitalistische Linke aus jüdischer Perspektive.
 


[1] Zu den Vertreter*innen einer «substantialistischen» Marx-Lektüre gehören u. a. die Autor*innen des Argument-Verlags. Wolfgang Fritz Haug gründete ihn 1959 in West-Berlin und ist, zusammen mit anderen, der Herausgeber von Das Argument – Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften. Die Zeitschrift hatte insbesondere für die Studierendenbewegung der 1960er und 1970er Jahre große Bedeutung.

[2] MEW 23, Berlin 2008, S. 168 f.

[3] So schrieb Hans-Georg Backhaus: «Das Thema meiner Arbeiten ist im Grunde immer nur eines: das Problem des Fetischismus. Es stellt sich dreifach dar: als das der Gegenständlichkeit des ökonomischen Gegenstandes, dann als das Problem seiner widersprüchlichen Struktur, d. h. als das Problem von Einheit und Differenz und schließlich als das seiner Analyse auf der Grundlage nichtempirischer Theorien.» Vgl. Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik, Freiburg/Wien 2018, S. 34.

[4] Diese zugespitzte Darstellung wird der Realität mit ihren vielen Grautönen selbstverständlich nicht gerecht. Wie es auf Seiten der Bewegungslinken theorieaffine Mitglieder gibt, so gab es auch auf Seiten der Wertkritiker*innen kontroverse Debatten. Zur Frage des «automatischen Subjekts» siehe u. a. Jürgen Behre & Nadja Rakowitz: «Automatisches Subjekt? Zur Bedeutung des Kapitalbegriffs bei Marx», Vortrag Rote-Ruhr-Uni 15.11.2001, https://www.rote-ruhr-uni.com/cms/texte/Automatisches-Subjekt.

[5] Die Fokussierung auf das Kapitalverhältnis und die Interpretation des Antisemitismus als einen fetischisierten Antikapitalismus hat Postone die Kritik eingebracht, er würde den Antisemitismus ökonomistisch ableiten. Tatsächlich kann er nur schwer erklären, warum der Holocaust sich gerade in Deutschland ereignete. Für Postone zeichnete Kontinentaleuropa eine nachholende ökonomische Entwicklung aus, die dem Antisemitismus Vorschub leistete. In einem Absatz seines Artikels beschreibt er zudem die bürgerliche Emanzipation der Juden in Deutschland als Sonderweg. Damit öffnet er jedoch das Feld der Politik und macht damit einen Vermittlungszusammenhang zu seiner Marx-Lektüre auf, auf den er nur unzureichend eingeht.

[6] Für eine rezeptionsgeschichtliche Darstellung von «Männerphantasien» siehe Sven Reichardts «Klaus Theweleits ‚Männerphantasien‘ – ein Erfolgsbuch der 1970er-Jahre», https://zeithistorische-forschungen.de/3-2006/4650?language=en.

[7] Laut Gerhard Hanloser hatte Dan Diner im selben Heft der Zeitschrift Autonomie, in dem Postones Aufsatz erneut publiziert wurde, «einen noch heute mit außerordentlichem Gewinn zu lesenden Artikel […] zu jüdischer Sozialisation und linksradikaler Identität» beigesteuert. Vgl. Gerhard Hanloser: «Deutscher Vernichtungsantisemitismus – eine von ‚Antikaptialismus‘ angetriebene ‚Revolte‘?», in: Ders. (Hrsg.): Deutschland.Kritik, Münster 2015, S. 66 f.

[8] Ein Beispiel hierfür ist Gerhard Scheits Aufsatz «Bruchstücke einer politischen Ökonomie des Antisemitismus» aus dem Jahr 1997. Der Wiener Autor und Essayist folgt den Zusammenhang zwischen Judenhass und Ökonomie bis zu Aristoteles zurück. Damit knüpft Scheit den Antisemitismus zwar auch an die ökonomischen Verhältnisse. Er leitet den modernen Antisemitismus jedoch nicht aus dem Kapitalverhältnis her, sondern stellt ihn in eine longue durée. Trotzdem endet sein Text mit einem aus fünf Sätzen bestehenden Zitat aus «Nationalsozialismus und Antisemitismus» (1991). Vgl. Streifzüge 1/1997, https://www.streifzuege.org/inhaltsverzeichnisse/streifzuege-1-1997/.

[9] Vgl. Gerhard Hanloser: «Deutscher Vernichtungsantisemitismus – eine von ‚Antikaptialismus‘ angetriebene ‚Revolte‘?», in: Ders. (Hrsg.): Deutschland.Kritik, Münster 2015, S. 68.

[10] Unter Semantik werden kulturell tradierte Denkmuster verstanden. Für eine Analyse des Antisemitismus als Semantiken argumentieren insbesondere Klaus Holz und Thomas Haury. Vgl. Christoph Gollasch: Rezension zu: Holz, Klaus; Haury, Thomas: Antisemitismus gegen Israel Hamburg 2021, in: H-Soz-Kult, 31.03.2022, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-112411.

[11] Eine der bekanntesten Marxistinnen, die Geschlechterverhältnisse und Reproduktion im Kapitalismus thematisiert, ist Silvia Federici. Die italienisch-amerikanische Philosophien sprach im Juni 2017 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin: https://www.rosalux.de/dokumentation/id/37498/geschlechterverhaeltnisse-und-reproduktion-in-marx-kapital.

[12] Vgl. Kevin B. Anderson: Marx at the Margins: On Nationalism, Ethnicity, and Non-Western Societies, Chicago 2010.

[13] Als einer der profiliertesten Kritiker kann der indisch-amerikanische Ethnologe Arjun Appadurai gelten. Mit Blick auf Gesellschaften des globalen Südens beschreibt er, dass Waren nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und kulturelle von Wert sind. Appadurai beschreibt «disjunkte» Prozesse und Ordnungen in Zeiten der Globalisierung, welche keiner Theorie einfach subsumiert, sondern für sich betrachtet werden müssen. Vgl. Arjun Appadurai (Hrsg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, New York 1986.

[14] Moishe Postone gehörte zu jenen Vertreter*innen, die auch noch das Marxsche Spätwerk maßgeblich vom Denken Hegels beeinflusst sahen. Analog zu Hegel, der in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) – mit dem Begriff «Geist» – die menschliche Entwicklung von der profanen Wahrnehmung über die Selbsterkenntnis bis zur Einsicht in den übermenschlichen Ablauf des Weltgeschehens darzustellen versuchte, habe Marx das innere Prinzip dessen dargestellt, was die Menschen im Kapitalismus zusammenhalte. Vgl. Moishe Postone: Time, Labor, and Social Domination, New York 1996, S. 75 f.

[15] Vgl. Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 192.

[16] Gojim ist die Mehrzahl des jiddischen Wortes «Goj», das Nichtjüd*innen – so wie auch den Autor dieses Textes – bezeichnet, manchmal auch von gläubigen Jüd*innen despektierlich gegenüber Jüd*innen, die sich nicht an die religiösen Regeln halten, verwandt wird. Für seine jüngste Verwendung im Erinnerungsdiskurs siehe Judith Coffey & Vivien Laumann: Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen, Berlin 2021.

[17] Auf «die Verdrängung von Betteljuden, Ostjuden, jüdischen Proletariern uns Proletariat aus der Theorie» hat bereits Gerhard Hanloser hingewiesen. Vgl. Gerhard Hanloser: «Deutscher Vernichtungsantisemitismus – eine von ‚Antikaptialismus‘ angetriebene ‚Revolte‘?», in: Ders. (Hrsg.): Deutschland.Kritik, Münster 2015, S. 64-101.

[18] U. a. Alexander Gallas hielt Moishe Postone eine «substantialistische» Kritik entgegen. Eine solche muss aber extern verbleiben und läuft letztlich auf ein Bekenntnis hinaus: Entweder Arbeitswertlehre oder Ideologiekritik. Vgl. Alexander Gallas: «Ökonomismus und politische Irrwege. Zur Kritik an Moishe Postones Variante marxistischer Antisemitismustheorie», in: Wissenschaftlicher Beirat Attac (Hrsg.): Attac-Reader: Globalisierungskritik und Antisemitismus. Zur Antisemitismusdiskussion in Attac, Frankfurt 2004, S. 48-53.