Im Libanon finden inmitten der tiefen Krise des Landes im Mai Wahlen statt. Die Hoffnungen auf Veränderungen sind riesig: «Nie zuvor war die Bewegung gegen das Establishment so groß wie heute. Nie waren die Stimmen für eine Veränderung so laut. Und nie zuvor war sich die Bevölkerung durch die Reihen hinweg so einig,» schreibt Ulla Taha. Um Stimmen für Veränderungen abzubilden - einzelne Aktivist*innen und Oppositionsgruppen - werden wir in den nächsten Wochen hier Gespräche mit Menschen veröffentlichen, die sich für einen anderen Libanon einsetzen und für Wandel engagieren.
Im Januar haben wir den libanesischen Journalisten Jad Ghosn zu den Chancen der oppositionellen Gruppen bei den Parlamentswahlen im Mai 2022 befragt. Im April hat Ghosn bekannt gegeben, selbst für eine dieser Gruppen anzutreten und kandidiert bei den Wahlen für einen Listenplatz im Metn-Distrikt, östlich von Beirut, für Citizens in a State.
Jad Ghosn, im Mai finden im Libanon Wahlen statt. In den vergangenen zwei Jahren sind zahlreiche neue Gruppen, Initiativen und auch Parteien entstanden. Sie wollen eine Veränderung des Systems, sie bezeichnen sich als unabhängig, aber sie haben zum Teil ganz unterschiedliche politische Vorstellungen. Was erwarten Sie von diesen Bewegungen? Können sie als Opposition tatsächlich Veränderungen voranbringen?
Wer diese Prozesse und auch das Prinzip Opposition im Libanon verstehen will, muss sich die politischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre angucken, nicht nur die der letzten zwei. Ich würde diese Zeit in verschiedene Phasen einteilen. Wir haben die Zeit direkt nach dem Krieg, als Syrien den Libanon besetzte und die meisten politischen Akteure Alliierte Syriens waren.
Wie lässt sich die Opposition in dieser Zeit beschreiben?
Die politische Ordnung, die das Friedensabkommen von Ta’if 1989 auf den Weg gebracht hatte, bestand zwischen den USA, Saudi-Arabien und Syrien. Was jetzt passierte, war, dass alle Schwierigkeiten, die in dieser Zeit im Land entstanden, Syrien zugeschrieben wurden. Sie waren die letzte politische Entscheidungsinstanz und somit ein willkommener Schuldiger für alles. Opposition bedeutete also vor allem, antisyrisch zu sein. Andere Themen wurden schon damals vernachlässigt, nur vereinzelte Parlamentarier*innen machten etwas klassischere Opposition, argumentierten auch inhaltlich gegen die Wirtschaftspolitik von Rafiq Hariri. Außerdem wurden einstige Kriegsherren zu Staatsmännern gemacht.
Was passierte dann?
Mit dem US-Krieg im Irak, der UN-Resolution 1559, die den Rückzug aller ausländischen Truppen aus dem Libanon vorsah, und einigen anderen Entwicklungen kollabierte die politische Ordnung, die Ta’if auf den Weg gebracht hatte. Die gesamte Atmosphäre veränderte sich, die Stimmung war eindeutig für den Abzug Syriens. In diesem Klima passierte das Attentat auf Rafiq Hariri, und die syrische Besatzung verließ das Land. Eine neue politische Ära im Libanon begann.
In dieser Zeit entstanden auch die beiden Blöcke, 8. und 14. März, angelegt an eine prosyrische Demonstration am 8. und eine antisyrische am 14. März 2005?
Bei beiden Lagern handelt es sich um multikonfessionelle Gruppen, hauptsächlich Maroniten und Schiiten im 8. März, vor allem Sunniten, Maroniten und natürlich die Drusen um Walid Jumblatt im 14. März. Aber zu beiden gehören auch noch weitere kleinere Gruppen.
Das Interview führte und übersetzte Hanna Voss, Programmmanagerin im Beirut-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Wie veränderte das den politischen Diskurs?
Von jetzt an spielte sich jede politische Diskussion nur noch zwischen diesen beiden Polen ab. Fragen des richtigen Wirtschaftens, nach der Rolle von Regierung und Demokratie existierten nur noch im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung, immer nur zwischen 8. und 14. März. Doch wenn jemand wie Nabih Berri, Mitglied beim 8. März, lautstark Korruption beim 14. März anprangert, selbst aber korrupt ist wie kein Zweiter, bleiben diese Diskussionen eben nicht nur unglaubwürdig, sondern auch an der Oberfläche.
Welche Rolle spielten dann die großen Zusammenstöße im Mai 2008 in Beirut, als vor allem Unterstützende der Zukunftspartei von Saad Hariri auf der einen und von Amal und Hisbollah auf der anderen Seite aufeinander losgingen?
Alle Führer stiegen im Anschluss in dasselbe Flugzeug, flogen nach Doha in Katar und beratschlagten drei Tage lang, was zu tun sei. Danach kamen sie alle zusammen wieder zurück. Das allein hat das Vertrauen in den politischen Prozess beschädigt. Ta’if blieb erhalten, aber einige Veränderungen wurden hinzugefügt. Allen Parteien, auch denen, die in der Minderheit waren, wurde eine Vetomacht zugestanden. Das zeigt, wie unausgegoren und faul unser System in der Entscheidungsfindung ist. Es bedeutet, seit damals, bis heute, kann unsere Regierung keine wirklich ernsthaften Entscheidungen treffen.
Hatte dieses System denn nicht auch Vorteile? Immerhin blieb es dann einige Zeit ruhig.
Ja, von 2008 bis 2011 herrschte eine gewisse politische Stabilität im Land. Doch durch das Vetorecht entstand ein besonders ineffizientes System, das außerdem anfällig für Korruption ist. Denn natürlich wird dann versucht, die Zustimmung der anderen zu kaufen. Hinzu kommt, dass die Verwaltung auf diese Weise immer weiter und weiter gewachsen ist, denn auch dort bestand jede Partei auf ihrem Stück Kuchen. Heute arbeiten rund 350.000 Menschen im Verwaltungsapparat, auch das hat die Korruption begünstigt.
Warum waren die negativen Auswirkungen in dieser Zeit für den Libanon trotzdem überschaubar?
Weil der Libanon Glück hatte. Während der Finanz- und Wirtschaftskrise holten ab 2008 viele im Ausland lebende Libanes*innen ihr Geld von Banken in den USA und Europa und legten es stattdessen bei libanesischen Banken an. Außerdem stieg der Ölpreis auf ein Rekordhoch. Das brachte zwischen 2008 und 2012 mehr als 50 Milliarden überschüssige Dollar aus den Golfstaaten in den Libanon. Das Geld hätte genutzt werden können, um dem Kollaps vorzubeugen, den wir heute erleben, aber stattdessen wurde damit der öffentliche Sektor vergrößert. Natürlich immer im Sinne des Klientelismus. Große Programme wurden verabschiedet, um die Gelder auf die verschiedenen Konfessionsgruppen zu verteilen.
Wie stand es damals um die libanesische Lira?
Die Überschüsse aus dem Golf wurden auch genutzt, um die Lira gegenüber dem Dollar zu stabilisieren. Das bedeutete, dass Importe für den Libanon günstig waren, was wiederum die lokale Produktion enorm schwächte, denn die Produktionskosten waren hier im Vergleich nun sehr hoch. Selbst damals haben wir gelegentlich milde Formen von Rezession gesehen, doch mit der nächsten Dollarflut ins Land war das vergessen. Keine Partei, kein Politiker hat das je adressiert. Riad Salameh, Präsident der Zentralbank, gewann sogar internationale Preise und wurde überall für seine Methoden gefeiert.
Die nächste Phase setzen Sie bei 2011 an. Was veränderte sich in dem Jahr?
Mit dem arabischen Frühling veränderte sich die Situation in vielen arabischen Hauptstädten. Und es veränderte auch die politische Ordnung, die das Doha-Abkommen von 2008 für den Libanon geebnet hatte. Politische Akteure, die einst miteinander am Tisch gesessen und es ausgearbeitet hatten, waren mit internationalen Akteuren affiliiert, die sich jetzt bekriegten. Seit 2011 war es deshalb nicht mehr möglich, eine Regierung ohne diese sehr lange Phase des Verhandelns, in der es mitunter auch überhaupt keine Regierung gab, zu bilden. Auch die Dollarüberschüsse aus dem Golf flossen nicht mehr in den Libanon, sondern an die verschiedenen Kriegsschauplätze der Region, nach Syrien zum Beispiel. Und auch die Libanes*innen im Ausland holten ihr Geld zurück auf ihre amerikanischen und europäischen Konten, da sich die Situation beruhigt hatte.
Was war die Folge?
Seit dem Bürgerkrieg hatten wir ab 2011 das erste Mal für drei Jahre in Folge die Situation, dass mehr Dollar das Land verließen als hineinkamen. Das blieb so bis 2019.
Bis dahin würden Sie deshalb die nächste Phase festmachen?
Ja. Im Zuge des arabischen Frühlings gab es auch in Beirut das erste Mal Proteste, die das Ende des konfessionellen Systems forderten, aber das war nach ein paar Monaten wieder vorbei. Doch es trat das erste Mal ein neuer Akteur als solcher auf den Plan: die Zivilgesellschaft. Die Wahlen von 2013 fanden nicht statt, die nächsten gab es erst wieder 2018. In dieser Atmosphäre des politischen Stillstands kam es 2015 zur Müllkrise und zu neuen Protesten, bei denen es nicht nur um den Müll, sondern auch um Korruption und die Abschaffung des konfessionellen Systems ging. Damals entstanden neue, wie es im Libanon heißt, „politische Gruppen“. Neue Parteien will ja niemand.
Weil sie einen so schlechten Ruf haben?
Könnte man sagen, ja. Außerdem bedeutet Partei im Libanon immer gleich mehr, sie ist eine Zugehörigkeitsgruppe, eine Art Stamm. Wenn du sie verlässt, bist du ein Verräter. Und das Vertrauen in den politischen Prozess als solchen hatte über die Jahre auch immer weiter abgenommen.
Trotzdem gab es Formen neuer politischer Organisation, wenn auch nicht als Parteien?
Die Gruppen, die entstanden sind, haben sich als Zivilgesellschaft bezeichnet. Mit direkter Politik wollten viele von ihnen nichts zu tun haben. Eine Debatte hat diesen Konflikt einmal mehr offengelegt und zwar zwischen der Gruppe Citizens in a State um Charbel Nahas und Beirut Madinati. Beide haben 2016 separat an den Gemeindewahlen teilgenommen, weil sie sich nicht auf eine gemeinsame Liste einigen konnten. Alle anderen Parteien, von Hisbollah bis zu den Lebanese Forces, sind als eine geeinte Liste angetreten, die kleine Opposition hatte zwei.
Woran lag das?
Citizens in a State wollte eine politische Kampagne gegen die regierende Klasse fahren. Sie waren der Ansicht, jedes Thema im Libanon ist letzten Endes ein politisches Thema. Beirut Madinati dagegen wollte die Wahlen depolitisieren, es ging ihnen darum, für eine lebenswertere Stadt, ein besseres Beirut zu streiten. Und genau diese Spaltung existiert bei den oppositionellen Gruppen bis heute: Es gibt jene, die alles politisieren und die, die das genaue Gegenteil wollen.
Wie schlug sich die Opposition bei den Parlamentswahlen 2018?
Schon damals bestand sie aus sehr vielen Gruppen. Es war bereits trendy, Opposition zu sein, viele wollten mitmachen. Es gab dann eine einzige große Liste im ganzen Land, und das Ergebnis war eine beispiellose Niederlage. Die großen Unterschiede zwischen den Gruppen blieben im Verborgenen, sie wurden nicht an die Oberfläche gebracht. Das machte das ganze Konstrukt sehr fragil, und es erschien den Wähler*innen weder glaubwürdig, noch solide.
Dann aber kam der 17. Oktober 2019, der Beginn des Aufstands, die Revolution. Was war passiert?
Im August 2019 begann der wirtschaftliche Kollaps, im September 2019 wurde das erste Mal seit dem Bürgerkrieg der Lirakurs angepasst. Das brachte den Menschen ihre schlimmsten Erinnerungen zurück. Die sozialen Verhältnisse hatten sich verschlechtert, das Misstrauen gegen das gesamte System war auf ein Höchstmaß gewachsen. Und dann ging es meiner Meinung nach einen ganzen Schritt weiter als all die Male zuvor: Erstmals hatten so viele Menschen wie nie begriffen, dass die Probleme des Libanon im Inneren liegen und nicht von außen kommen.
Inwiefern veränderte sich die Opposition im Nachgang?
Aus den vielleicht 15 Oppositionsgruppen wurden an die 300. Man kannte nicht mal mehr alle, es entstanden regionale Gruppen im Norden, in Tripoli, im Süden, manche waren nur Think Tanks, andere Bewegungen, es gab ja nach wie vor Citizens in a State, Beirut Madinati, und dann immer mehr, Minteshreen, LiHaqqi, einfach unüberschaubar viele.
Warum passierte diese, sagen wir, Ausfransung der Opposition?
Sie war entweder Ergebnis mangelnder Erfahrung, einer fehlenden Machtaufteilung zwischen den Gruppen, oder sie reflektierte einfach das alte Problem im Libanon, Gruppen im Sinne einer gemeinsamen Gesellschaftsidee zu vereinen und Kompromisse zu finden. Die Fragmentierung der libanesischen Gesellschaft macht es ungeheuer schwierig, eine Gruppe oder überhaupt jemanden zu finden, der alle vereinen kann.
Ist diese diverse Opposition denn ein Nachteil?
So, wie sie es momentan anstellt, schon. Jetzt hat man ein Mosaik aus sehr vielen sehr schwachen Oppositionsgruppen, deren Potenzial zwar stark ist, die so aber kaum etwas werden erreichen können. Zusätzlich stehen ihnen das Wahlsystem entgegen, nach dem Menschen dort wählen müssen, wo sie geboren wurden, nicht dort, wo sie leben und das viele Geld, das seitens der alten Parteien bis zu den Wahlen an ihre Leute geflossen ist und noch fließen wird.
Hätte sich die Opposition denn stattdessen unter einem großen Schirm einen sollen, um ihre Chancen zu verbessern?
Nein, da bin ich klar dagegen. Dass die Opposition ein Lager ist, ist eine große Lüge. So kann sie nicht in die politische Tiefe gehen, die aber notwendig wäre, um den Problemen des Landes programmatisch zu begegnen. Ansonsten ist man zu lange damit beschäftigt, Unterschiede zu überwinden, die dann doch nicht überwunden sind.
Viele kleine Gruppen sind zu schwach, eine große aber auch – was dann?
Wir müssen nach echten politischen Programmen fragen. Mehr als zwei Jahre nach dem 17. Oktober 2019 haben manche Gruppen immer noch nicht mehr als drei Seiten Programm zu lesen. Wir brauchen eine Opposition, die die inhaltlichen Fragen beantwortet und Ideen liefert, wie diese umzusetzen wären. Wie politische Entscheidungen implementiert werden können. Man muss das politische System als Problem adressieren und Lösungen anbieten. Wofür sollen die Menschen sonst wählen? Es braucht komplett neue Standpunkte, keine Wiederbelebung der alten.
Was meinen Sie damit?
Meine Sorge ist, dass das alte Lagerdenken auch in der Opposition aufbricht, dass es statt 8. und 14. März vielleicht bald einen 8. und 17. Oktober geben wird. Wieder entlang der Fragestellung, ob man für oder gegen die Hisbollah ist. Das ist aber nicht die entscheidende Frage im Land. Es geht darum, ein politisches System zu schaffen, das als solches stark genug ist, sich mit der Frage der Hisbollah zu beschäftigen, mit dem Staat und funktionierenden Institutionen als Hauptakteur. Und wie dieses System aussehen und wie das erreicht werden soll, danach frage ich jeden politischen Wettbewerber, natürlich auch und erst recht die Oppositionsgruppen.
Wie ginge es dann weiter?
Auf der Basis von Programmen können Allianzen geschmiedet werden, nicht darüber, dass man sich Opposition nennt. Das können Aoun und Berri auch, das genügt nicht. Es braucht inhaltliche Ideen und Antworten. Daran angelegt kann es eine Art Landkarte oder Plattform geben, über die Menschen sich informieren können, wofür welche Gruppe inhaltlich steht. Wenn die Leute keine Entwicklung, keinen echten Fortschritt in neuen politischen Akteuren wahrnehmen können, verlieren sie die Hoffnung. Und noch mehr von ihnen werden das Land verlassen.
Aber die Menschen wollen doch Veränderung. Es gab große Erfolge für unabhängige Kandidat*innen bei den Syndikatswahlen, auch bei den Wahlen der Studienräte an mehreren Universitäten. Zeigt das nicht, dass die Menschen für Wandel bereit sind?
Ja, man kann spüren, dass viele Menschen etwas Neues wollen, dass sie wissen, dass es so nicht weitergeht. Aber das ist trotzdem ein sehr vorsichtiges Gefühl. Die libanesische Gesellschaft ist in Fragen von politischem Wandel eher konservativ als progressiv. Was es deshalb von jeder Gruppe braucht, die diesen Wandel möchte, ist, dass sie auch eine gewisse Vorstellung von Macht verkörpert. Die Menschen verlassen immerhin ihren starken politischen Führer für sie, für etwas Anderes. Sie brauchen dann die Gewissheit, dass auch weiter für sie gesorgt wird. Menschen, vor allem im Libanon, haben mehr Angst davor, was sie verlieren können, als dass sie sich nach dem sehnen, was sie gewinnen könnten.
Vor allem, wenn das, was sie gewinnen könnten, noch recht abstrakt ist?
Ganz genau. Genau deshalb verlange ich von all diesen Gruppen, ihre Ideen konkreter zu machen, sodass die Menschen wenigstens auf materieller Ebene verstehen können, was sie bekommen.
Welche Rolle spielen dabei die Medien?
Eine große. Wahre politische Macht besteht darin, die Themensetzung zu beeinflussen. Wenn einige Oppositionsgruppen das im Zuge der Wahlen schaffen, wäre das schon ein großer Erfolg. Und dann wird es darum gehen, die Karten zu verändern, die über Jahrzehnte hinweg am politischen Tisch des Landes gespielt wurden. Und so die Dynamiken von Politik im Libanon zu verändern. Es wird ganz, ganz langsam gehen. Und nochmal, nur mit Programmen. Wenn es keine Vorschläge gibt, wie politische Ideen umgesetzt werden können, ist es keine Politik, sondern Populismus.