News | Parteien / Wahlanalysen - Westasien - Westasien im Fokus Hoffnung auf Veränderung

Die libanesische Aktivist*in Tamara Nasr erzählt

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Hanna Voß,

Tamara Nasr
Tamara Nasr Foto: Hanna Voß

Im Libanon finden inmitten der tiefen Krise des Landes im Mai Wahlen statt. Die Hoffnungen auf Veränderungen sind riesig: «Nie zuvor war die Bewegung gegen das Establishment so groß wie heute. Nie waren die Stimmen für eine Veränderung so laut. Und nie zuvor war sich die Bevölkerung durch die Reihen hinweg so einig,» schreibt Ulla Taha. Um Stimmen für Veränderungen abzubilden - einzelne Aktivist*innen und Oppositionsgruppen - werden wir in den nächsten Wochen hier Gespräche mit Menschen veröffentlichen, die sich für einen anderen Libanon einsetzen und für Wandel engagieren.

Im Libanon fehlt es an vielem: ausreichend Strom, Wasser, und seit dem Krieg in der Ukraine fehlt es an Weizen. 80 Prozent seines Weizens hatte der Libanon aus der Ukraine importiert, jetzt droht eine Lebensmittelkrise, zahlreiche Bäckereien mussten bereits schließen. Viele Libanes*innen sagen, es fehle schlicht an Hoffnung. Von den Wahlen, die am 15. Mai stattfinden, erhoffen sie sich kaum eine Veränderung, deshalb gehen sie, sobald sie können. Im vergangenen Jahr haben so viele Menschen das Land verlassen wie seit den Bürgerkriegsjahren nicht mehr. Wer geht, ist oft jung, denkt progressiv, wünscht sich einen demokratischen Libanon ohne sektiererisches Postenverhandeln. Aber wer ist noch da, um dafür zu streiten? Wer sind die, die im Land bleiben und weitermachen?

In einer Serie wollen wir diese Menschen vorstellen. Sie erzählen, was sie bewegt zu bleiben, auf welche Weise sie versuchen, Wandel in einem Land zu erzeugen, das sich so lange gegen welchen gewehrt hat. Sie waren dabei, am 17. Oktober 2019, sowie in den Tagen, Wochen und Monaten danach, als Hunderttausende Libanes*innen auf die Straßen gingen, das System aus Korruption, Misswirtschaft und Machtmissbrauch anprangerten, als die Thawra (arabisch für Revolution) startete. Sie kämpfen bis heute, nicht mehr nur auf der Straße, sondern im alltäglichen Leben und mit dem, was sie tun.

Aus dem Englischen: Hanna Voß, Programmmanagerin im Beirut-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Heute stellen wir Tamara Nasr vor, die zwar noch zu jung ist, um bei den Wahlen abstimmen zu dürfen, sich aber längst an einem potentiellen Wandel im Land beteiligt. Im vergangenen Jahr wurde sie zur Präsidentin des Studierendenrats der Libanesischen Amerikanischen Universität (LAU) gewählt. Bereits 2020 gewannen unabhängigen Kandidat*innen bei den Wahlen der Studierendenräte an mehreren Universitäten die Mehrheit der Sitze. Tamara Nasr sagt, wer keine Hoffnung mehr hat, muss selbst zur Hoffnung werden.

Tamara Nasr

... ist 19 Jahre alt und studiert mit einem Stipendium Architektur im dritten Jahr an der LAU in Beirut. Am Tag des Treffens war sie gerade zur neuen Präsidentin des Studierendenrats der Universität  gewählt worden.

Mein Hintergrund ist unpolitisch, meine Familie war nie wirklich einer Partei verbunden. Ich war 17, als die Oktoberrevolution begann, habe studiert und in einem Wohnheim in Hamra [Stadtteil in Beirut; Anm. d. Redaktion] gelebt. Ich war von Anfang an dabei, bin einfach hingegangen, auf den Märtyrerplatz, stand inmitten all dieser Demonstrierenden.

Ich gehärte noch keiner Gruppe an, und damals gab es nur an wenigen Universitäten schon einen Secular Club. Im Sommer 2020 kamen dann an meiner Uni, der LAU, Leute auf mich zu, und wir haben in einer ganz kleinen Gruppe von sieben Leuten angefangen.  

Bei den Wahlen 2020 haben dann viele unabhängige Kandidat*innen Sitze und Positionen gewonnen, und dann haben wir uns auch offiziell als Secular Club gegründet. Diese Clubs gab es an anderen Universitäten schon länger, wir haben das Momentum und die Stimmung genutzt, um auch an der LAU einen zu gründen. Wir haben als Instagram-Seite angefangen und nutzen das bis heute, weil wir alles immer ein bisschen geheim und inoffiziell machen müssen, da wir nicht offiziell registriert sind. Das wird von der Universität abgelehnt, weil die Studierendenclubs apolitisch sein müssen. Das Gute ist, als Präsidentin des Studienrats sitze ich nun auch in der Verwaltung.

Die großen privaten Universitäten im Libanon haben alle diese Studienräte. Die wurden aber immer genauso von den Einflüssen der Altparteien beeinflusst wie alles andere in diesem Land. Es gibt aber auch Universitäten, an denen so etwas gar nicht erst existiert.  

Die unabhängigen Kandidat*innen haben bei der Wahl 2021 9 der 29 Sitze gewonnen. Das ist weniger gut als 2020, und wir hatten noch größere Hoffnungen. Es ist so: Die meisten Fachbereiche innerhalb der Universität bekommen drei Repräsentant*innen. Jeder Studierende kann nur für einen Kandidierenden stimmen. Da uns nicht erlaubt ist, als Club anzutreten, ist es vorgekommen, dass mehrere unabhängige Kandidat*innen kandidiert haben. Auf diese Weise wurden die Stimmen unter ihnen aufgeteilt, und wir haben weniger Sitze bekommen als wir hätten kriegen können. Wir hätten sicherstellen sollen, dass für jeden Bereich nur ein:e unabhängige*r Kandidat*in antritt.

Abgesehen davon haben natürlich auch die Altparteien versucht, die Wahlen zu beeinflussen. Viele Studierende sind auch gar nicht erst zur Wahl gegangen, weil sie, auch wenn sie an säkulare Ideen glauben, nicht davon ausgehen, dass die unabhängigen Kandidat*innen etwas bewirken können. Sie haben das Vertrauen in den Wandel und ihre eigene Stimme verloren.

Es gibt so etwas wie ein kollektives politisches Trauma. Die Menschen verstehen sich nicht als politisch agierende Wesen und nehmen von diesem Gedanken Abstand, weil es sofort von der sektiererischen Identität überlagert, das heißt, auch von den jeweiligen Führern instrumentalisiert wird. Wenn sie sich davon lösen, ist die einzige Alternative nur, sich von Politik im Ganzen zu lösen.

Deshalb haben wir diese permanenten Diskussionen mit Studierenden. Wir wollen, dass sie zu uns kommen und mit uns darüber sprechen, wie Politik auch aussehen könnte. Wir wollen diese Mini-Umwelt kreieren, in der Politik wirklich passiert. Wir können auch als Plattform fungieren, auf der Menschen sich politisch ausprobieren können, um dann später auch in anderen Kontexten politisch aktiv zu sein.

Wenn man sich die meiste Zeit in der Beiruter Blase aufhält, glaubt man wirklich, dass der Wandel so nah ist. Man sieht ja, dass alle um einen herum genauso denken wie man selbst. Aber wenn ich dort herauskomme, bin ich doch immer wieder überrascht zu sehen, wie hoch bei manchen noch das Level der Indoktrinierung und der Angst ist. Angst vor Menschen, die einer anderen Community angehören.

Dann hat man auch bei den Jüngeren solche, die irgendwie automatisch mit einer Partei affiliiert sind, auch wenn sie überhaupt nicht mehr hinter ihr stehen. Sie schämen sich dann geradezu, dass sie einen Sitz für die Lebanese Forces gewonnen haben, aber irgendwie sind sie ganz automatisch, wie fremdgesteuert, für sie angetreten. Und dann gibt es auch die, die diese Leute dann für immer mit den Lebanese Forces verbinden, ihnen keine zweite Chance einräumen, selbst wenn sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben.

Im neuen Studienrat versuchen wir von nun an, Reformen anzustoßen, uns viel mit Studierenden zu treffen, um zu erfahren, was sie beschäftigt, was ihre Probleme sind, und natürlich auch unseren Einfluss in der Verwaltung geltend zu machen. Was aber oft passiert, ist, dass Reformen verschoben werden. Ich werde natürlich versuchen, unsere Anliegen so stark es geht voranzutreiben.

Wir werden ganz normal mit den Vertreter*innen der anderen Parteien zusammenarbeiten, wir sehen sie genauso als Vertreter*innen der Studierenden, das ist sehr wichtig. Wir werden nicht zulassen, dass Differenzen uns davon abhalten, im besten Sinne der Studierenden zu handeln. Wenn wir das nicht hinbekommen, sind wir genau wie die anderen.

Es geht eigentlich darum, die vermeintlich kleinen Meilensteine anzustoßen, die im Grunde sehr groß sind. Wir müssen einfach präsenter werden, uns selbst immer wieder einfordern. Wir arbeiten innerhalb des Systems, um es zu verbessern, auch wenn wir an dem System selbst so vieles auszusetzen haben und es ändern möchten. Wir möchten Menschen Hoffnung, die sie verloren haben, zurückgeben. Wir wollen auf eine Weise arbeiten, wie ein gesundes politisches System arbeiten sollte.

Auf nationaler Ebene ist ein Problem, dass die Leute, die einen Wandel wollen, in großen Teilen das Land verlassen haben. Das Wahlrecht macht es ihnen zudem nicht leicht, aus dem Ausland zu wählen. Bei den letzten Wahlen zum Beispiel sind einfach sehr viele Stimmen verlorengegangen, das darf nicht noch einmal passieren. Zudem sind die oppositionellen Gruppen oftmals sehr unterschiedlich, das sorgt natürlich auch für Misstrauen und Spannungen. Aber auf die eine oder andere Weise müssen sie kooperieren.

Ich bin zu jung, ich darf in diesem Jahr noch nicht wählen. Aber auch, wenn ich schon 21 wäre, könnte ich hier und heute nicht sagen, wen ich wählen würde.

Ich kann sagen, dass ich Angst habe. Angst, hier stecken zu bleiben, während die Situation immer schlimmer wird. Und gleichzeitig habe ich dieses unglaublich starke Gefühl, dass ich in keinem anderen Umfeld leben und existieren möchte als in diesem. Mein Plan ist, nach meinem Abschluss einen Master im Ausland zu machen und dann so schnell es geht zurückzukommen.

Dann möchte ich meinen Beitrag leisten, vielleicht sogar schon vom Ausland aus. Aber insbesondere als Architektin, die sich auch für vieles andere interessiert, möchte ich hier arbeiten. Die Geschichten, die ich erzählen möchte, sind alle hier. Allen Wandel, den ich erreichen möchte, will ich hier erreichen. Ich habe kein Interesse, zu einer anderen Gesellschaft etwas beizutragen als zu dieser.

Architektur hat so viel damit zu tun, wie wir leben. Man kann sehen, dass Beirut in Vorbereitung auf einen neuen Krieg wiederaufgebaut wurde. Die Teilungen sind gewollt, die Gebäude sind schusssicher. Viele Vororte sind miteinander überhaupt nicht verbunden, sie sind an einer einzigen großen Straße gelegen. Das heißt, im Fall der Fälle wäre es einfach, eben nur diese eine Straße zu sperren. Es gibt Grenzen überall in der Stadt. Wer so aufwächst, blickt auch anders auf eine Stadt. Es prägt dich, und es hat auch mich geprägt.

Auch die Art, wie man als Architekt*in in einer Stadt arbeitet, ist extrem politisch. Die Dinge, die man vorschlägt, zeigen, was man sich auch gesellschaftspolitisch für eine Stadt wünscht. Es beinhaltet die eigenen Vorstellungen, Ansichten, Ideale und Träume. Und auch, welchen Standpunkt gegenüber der Vergangenheit man hat.

Was mich beunruhigt, ist, dass die politischen Parteien Angst bekommen. Sie merken, dass sie an Zustimmung verlieren. Und wenn diese Leute Angst haben, sind sie zu allem fähig. Als ein Ergebnis davon könnte es bis zur Wahl immer mal wieder zu Zusammenstößen kommen. Aber ich glaube nicht, dass wir uns so sehr spalten lassen würden, dass es wieder zu einem Bürgerkrieg kommen könnte. Nicht nach allem, was passiert ist. Nicht nach der Oktoberrevolution, der Explosion.

Doch die Altparteien werden die Schwachstellen ausnutzen. Mit Geld, mit dem Versprechen, das eigene Leben und das der Liebsten zu verbessern. Sie sind sehr gut in diesem Spiel. Und auf der anderen Seite ist das, wofür die Unabhängigen kämpfen, wesentlich abstrakter als das, was die Alten anbieten: ein Stück Land, einen Job, Brot und Wasser.

Es gibt diese riesengroße Hoffnung, dass die Kinder ihre Eltern beeinflussen können. Nicht nur die politisch affiliierten Eltern, sondern auch die, die nie gewählt haben. Diese Menschen würden jetzt vielleicht auch nicht einfach für die neuen Kandidat*innen stimmen, weil sie sie nicht kennen und ihnen nicht trauen. Aber dann kommen ihre Kinder und sagen, ich kenne sie aber, das sind gute Leute, du kannst ihnen trauen. Das ist extrem wichtig und kann eine riesengroße Rolle spielen. 

Ohne Hoffnung kann man nicht leben. Wenn Menschen sagen, es gibt keine Hoffnung mehr, dann sage ich: Engagiere dich, werde Teil einer Bewegung, sei die Hoffnung.