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Die türkische Landwirtschaft in der Krise

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Svenja Huck ,

«Tatort Umweltverbrechen» – Agrarwirtschaft in der Türkei wird oftmals ohne Rücksicht auf natürliche Grundlagen betrieben. Der Fluss Gönen Çayı im Nordwesten der Türkei wird für die lokale Landwirtschaft, aber auch für die Lederproduktion verwendet. Extreme Verschmutzungen sind die Folge.
«Tatort Umweltverbrechen» – Agrarwirtschaft in der Türkei wird oftmals ohne Rücksicht auf natürliche Grundlagen betrieben. Der Fluss Gönen Çayı im Nordwesten der Türkei wird für die lokale Landwirtschaft, aber auch für die Lederproduktion verwendet. Extreme Verschmutzungen sind die Folge. Foto: Svenja Huck

Seit dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine werden neben den unmittelbaren Schäden durch den bewaffneten Kampf auch weitreichendere Folgen deutlich. Lebensmittelknappheit wurde plötzlich zu einem Thema in Europa, denn die Häfen der «Kornkammer Europas» sind blockiert. Die Türkei hat nun angeboten, einen Korridor für die Ausfuhr des Getreides zu sichern – nicht ganz uneigennützig, wenn man einen Blick auf die Lage der Landwirtschaft in der Türkei wirft.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert sie die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

Bisher konnte sich die Türkei über die Bedürfnisse ihrer eigenen Bevölkerung hinaus mit Weizen versorgen. Zusätzliches Getreide, das sie aus Russland und der Ukraine importierte, wurde zu Nudeln oder Keksen verarbeitet und anschließend wieder exportiert. Doch mittlerweile deckt das in der Türkei angebaute Getreide nur noch etwas mehr als 80 Prozent des eigenen Bedarfs ab. Die Agrarwirtschaft in der Türkei steht vor ernsthaften Problemen, deren Ursachen nicht nur im globalen Klimawandel zu suchen sind.

Dessen Auswirkungen sind vor allem im Süden und Südosten des Landes, sowie in Zentralanatolien sichtbar, wo es in den letzten Jahren viel zu geringe Niederschläge gab. Die Landwirtschaft greift dann auf Seen und Flüsse zurück, um die Wasserversorgung zu sichern – und schadet damit der Natur noch einmal zusätzlich. Bereits jetzt sind 22,5 Prozent der Landfläche in der Türkei höchst anfällig für eine Desertifikation, über 50 Prozent weisen mittlere Anfälligkeit auf.

Doch nicht nur der Klimawandel führt zu verkleinerten Anbauflächen, auch bewusste politische Entscheidungen zerstören das Ackerland. Im Mai verkündete der Bürgermeister der zentralanatolischen Stadt Konya, Uğur İbrahim Altay (AKP), dass 130 Hektar Agrarfläche an die Wohnungsbaubehörde TOKİ übergeben wurden. Laut Altay sollen mit dem Gewinn aus den Immobilien Bewässerungsanlagen in Konya finanziert werden, doch die örtliche Vereinigung der Agraringenieure kritisiert das Vorhaben. Eben jene Fläche werde seit mehr als einhundert Jahren für die Erforschung und die Amelioration des Ackerbodens genutzt, vor allem auch, um die türkische Landwirtschaft gegen die erwartete Dürreperiode zu wappnen. Es seien durchaus andere Flächen für eine Bebauung in Konya vorhanden, weshalb eine Zerstörung der Agrarflächen nicht notwendig sei.

Fruchtbare Flächen zu bebauen, um kurzfristigen Profit aus der Immobilienwirtschaft zu schlagen, führt nicht nur zu irreversiblen Schäden für die Natur, sondern erhöht auch das Risiko einer Ernährungskrise. Um das fehlende Getreide dennoch durch türkische Unternehmen produzieren zu lassen, wird im Landwirtschaftsministerium nun eine neue Idee verfolgt. Wie die Zeitung Hürriyet berichtete, plant Landwirtschaftsminister Vahit Kirişci in verschiedenen Ländern des globalen Südens Anbauflächen zu mieten, auf denen vorrangig Futtermittel angebaut werden sollen. Neben dem Sudan verhandele die Türkei aktuell unter anderem mit Venezuela über diesen Plan. Das dortige Landwirtschaftsministerium habe der Türkei eine Fläche von 400.000 Hektar für den Anbau von Getreide angeboten, wovon 70 Prozent in die Türkei exportiert werden würden. Das Projekt solle unter der Leitung von TİGEM, der Vereinigung der privatwirtschaftlichen Landwirte, abgewickelt werden, die in die gemieteten Flächen investieren würde.

Durch die Externalisierung der Landwirtschaft auf andere Kontinente wäre es noch schwerer, die Arbeitsbedingungen in türkischen Betrieben zu kontrollieren. Bereits jetzt sind es häufig Migrant*innen aus Syrien oder Afghanistan, die auf den anatolischen Feldern ausgebeutet werden. Sie sollen die türkischen Arbeitskräfte ersetzen, die keine Perspektive in der Landwirtschaft mehr sehen und in die Städte abwandern. Eine Studie der Economic Research Foundation of Turkey für das Jahr 2021 ergab, dass mittlerweile weniger als 500.000 Bäuerinnen und Bauern in der Türkei tätig sind, jährlich sinkt die Zahl rasant um 13,2 Prozent. Vor allem finanziell ist die Landwirtschaft kaum noch lukrativ. Durch die massive Inflation gibt es keine Garantie dafür, dass die Ausgaben für Treibstoff, Düngemittel und Bewässerung durch den Verkauf der Ernte ausgeglichen werden. Diese Verarmung treibt die Menschen in die Städte, vor allem diejenigen aus den jüngeren Generationen.

Vorschläge für eine progressive Landwirtschaftspolitik wurden beispielsweise auf der Landwirtschaftskonferenz der Arbeiterpartei der Türkei TİP im April diesen Jahres vorgestellt. Sie fordert die öffentliche Unterstützung kleiner Bäuerinnen und Bauern, den Aufbau von Kooperativen zwischen den Produzent*innen auf dem Land und den Verbraucher*innen in den Städten, sowie eine umfassende technologische Modernisierung der Landmaschinen, einhergehend mit einem Bildungsprogramm für die Landarbeiter*innen.