Rif-Aleppo ist eine ländlich geprägte, einst dünn besiedelte Gegend, die inzwischen 1,3 Millionen Menschen beherbergt, davon circa 800.000 Menschen, die aus allen Teilen Syriens vertrieben und gezielt umgesiedelt wurden. Rif-Aleppo ist demographisch vor allem durch eine Mehrheit an ethnischen Araber*innen, aber auch Kurd*innen, Türkmen*innen und Tscherkess*innen etc. geprägt. Viele der Städte, wie etwa Azaz oder Qabassin, haben eine gemischte Bevölkerung und zwischen den Städten Azaz und Al-Bab liegen dutzende mehrheitlich kurdisch-bewohnte Dörfer.
Politisch und administrativ ist die Gegend durch ein hybrides Model geprägt: Formal wird sie komplett von der Türkei kontrolliert, diese bedient sich aber Strukturen der syrischen Interimsregierung, welche von der Oppositionsgruppe «Nationale Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte» geformt wurde, inzwischen ihren Sitz in Rif-Aleppo hat, aber kaum Legitimität innerhalb der syrischen zivilgesellschaftlichen Kräften genießt.
Hayyan Al-Faisal ist Aktivist im türkisch besetzten Rif-Aleppo, seinen Namen haben wir zu seinem Schutz geändert. Er kommt ursprünglich aus Deir ez-Zor, wo er politisch aktiv war, bis er vor dem IS fliehen musste. Seit Anfang 2017 lebt er in Azaz, wo er mit etlichen anderen vertriebenen Aktivist*innen verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen aufgebaut hat. Seit 2018 stehen die Interviewer*innen mit ihm in Kontakt und diskutieren, wie sich die Akzeptanz der seit 2016 anhaltenden türkischen Besatzung wandelt und welche emanzipatorischen Bewegungen es gibt.
Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.
Abdallah Alkhatib ist ein palästinensisch-syrischer Menschenrechtsaktivist aus Yarmouk, Damaskus. Seit 2011 war er Teil der friedlichen Bewegung gegen das Assad-Regime. 2017 gründete er mit anderen Aktivist*innen den literarischen Blog «sard.network».
Ansar Jasim/Abdallah Alkhatib: Du arbeitest vor allem in Rif-Aleppo und wir werden jetzt vor allem über die Situation der seit 2016/ 2017 von der Türkei besetzten Gebiete sprechen. Du lehnst es ab, im besetzten Afrin zu arbeiten, warum?
Hayyan Al-Faisal: Ich bin Teil einer informellen Gruppe von lokalen Aktivist*innen, die die Arbeit in Afrin aus zwei Gründen ablehnen: Kurd*innen können derzeit nicht zivilgesellschaftlich in Afrin aktiv sein, sie würden Verhaftung, Entführung oder auch Ermordungen riskieren. Zudem muss es zumindest eine Entschuldigung durch die syrische Interimsregierung, die syrischen Militärfraktionen vor Ort der sogenannten Nationalen Armee geben, für das, was in Afrin passiert ist. Es muss eine Anerkennung geben, dass dort dieses Verbrechen der Besatzung stattgefunden hat, dann muss die Rückkehr der Menschen erlaubt werden. Als politisch aktive Menschen in Rif-Aleppo ist es für uns wichtig zu sagen: Das, was in Afrin ist, ist nicht normal und darf nicht normalisiert werden. Wir erhalten dafür sehr viel Kritik, weil in Afrin zivile Vertriebene aus anderen Landesteilen leben und ihre humanitäre Situation sehr schlecht ist. Aber es ist klar: Wer in Afrin in irgendeiner Weise arbeitet, kann nicht unabhängig arbeiten, die Türkei kontrolliert dort alles. Damit unterscheidet sich die Situation von den anderen Teilen in Rif- Aleppo wie etwa Azaz oder Al-Bab. Es ist ein riesiges Problem, dass es keine engeren Beziehungen zwischen kurdischen Aktivist*innen aus Afrin und den anderen Teilen Rif-Aleppos gibt. Dadurch kommt es zu der Situation, dass es zu wenig aktive Solidarität mit Kurd*innen und den Menschenrechtsverletzungen der Türkei gegen Kurd*innen gibt. Punktuell können wir das überwinden – wie mit der Kampagne, die sich gegen die Entführung von kurdischen Mädchen durch die Fraktionen in Afrin gerichtet hat – aber es ist eher eine schwache Solidaritätsbewegung. Diese Beziehungen aufzubauen, wäre unsere Verantwortung als Aktivist*innen. Aber wir haben kaum irgendeine Hebelwirkung, wenn es um Afrin geht. Die Checkpoints sind extrem restriktiv und unsere Handys werden durchsucht, wenn wir von Rif-Aleppo nach Afrin fahren. Wenn wir dann vor Ort in Vorfälle, wie die Besetzung von Häusern von kurdischen Familien durch die syrischen Fraktionen eingreifen und uns dagegen aussprechen, dann nützt das den Betroffenen gar nichts. Sobald wir weg sind, wird die Reaktion gegen die kurdische Familie noch viel härter ausfallen. Ich fühle mich unglaublich machtlos, wenn ich vor Ort bin und solange es keinen Nutzen für die Kurd*innen hat, vermeide ich es komplett.
Auch in den anderen Teilen von Rif-Aleppo gibt es viele Dinge, über die wir nicht reden können, aber generell gibt es mehr Raum für Widerstand: Vor einiger Zeit wurde eine kurdische Studentin – weil sie Kurdin ist – gezwungen, dass sie in der Universität ein Kopftuch trägt, als sie sich geweigert hat, wurde sie von der Universität geschmissen. Dazu muss man wissen, dass das auf den türkischen Einfluss hier zurückgeht, während zur gleichen Zeit die türkischen Beamtinnen hier oft unverschleiert sind. Das einzige, was wir nun tun können, ist diese Universität zu boykottieren und jegliche Zusammenarbeit zu untersagen. Einige der Lehrenden haben übrigens in Protest gekündigt. Solche Positionen können gefährliche Konsequenzen haben.
Im März war der 11. Jahrestag der syrischen Revolution. Auch in Rif- Aleppo wurde das gefeiert. Es gibt viele Aktivist*innen, die es kritisch sehen, die Revolutionsflagge hochzuhalten. Wie siehst du das?
Ich folge dem politischen Ansatz, dass «die Revolution eine Idee ist und eine Idee kann nicht sterben». Die Revolution als Praxis hat Zeiten, in denen sie nicht fähig ist, irgendwas zu tun. Wenn Revolution also lediglich aus Handeln bestünde, dann wäre die Revolution vorbei. Aber die Revolution als Idee, vielleicht als ideologischer Überbau, lässt uns dann wieder Praktiken schaffen, die revolutionär sind.
Viele der Organisationen, die strukturell aus dem Aufstand von 2011 hervorgegangen sind, halten Parolen der Revolution hoch, aber sie verfügen überhaupt nicht über ein politisches Verständnis von Revolution. Sie versuchen sich selbst zu reproduzieren im angeblichen Kampf gegen das syrische Regime. Damit rechtfertigen sie autokratische Handlungen, die sich gegen alle wenden. Als wir im letzten Jahr eine Dekade syrische Revolution gefeiert haben, wurde deutlich, dass diese Praxis zu einem Ritual geworden ist, dass mich an die Feiern zum 8. März der Baath-Partei[1] erinnert.
Personen, die diesen Organisationen widersprechen, werden von den Militärfraktionen in ihre inoffiziellen Gefängnisse gesteckt, und das wird dann als Teil der Revolution und der Verteidigung der Revolution gegen die Konterrevolution gerechtfertigt. Aufgrund der gesellschaftlichen Reichweite trauen die Fraktionen sich oft nicht, Aktivist*innen zu verhaften. Die leben dann oft mit der symbolischen Gewalt, dass es die konstante Bedrohung der Verhaftung gibt. Bei Zivilist*innen gibt es diese Hürde nicht und sie sind viel direkter Gewalt ausgesetzt.
Die Revolution, der ich angehöre, wendet sich gegen jegliche Formen der Unterdrückung. Die Idee der Revolution stützt sich auf das Recht auf Leben der Menschen durch soziale Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit, Organisationsfreiheit, die Freiheit, ihre Repräsentant*innen zu wählen, ihre religiösen und säkularen Vorstellungen auszudrücken.
Welche Beispiele revolutionärer Praxis gibt es aus deiner Sicht in Rif-Aleppo?
Die Selbstorganisation der Lehrer*innen-Bewegung in Rif- Aleppo hat mir viel Energie gegeben im letzten Jahr. Es gibt viel Gewalt gegen sie, aber auch gleichzeitig ein hohes Maß an Widerstand und Solidarität der lokalen Bevölkerung.
Wie ist diese Bewegung entstanden?
Die Lehrer*innen werden nicht vom Regime, sondern durch die Türkei bezahlt. Das türkische Bildungsministerium formuliert ihre Verträge und inkludierte einen Paragraphen, der besagt, dass sie sich nicht versammeln oder demonstrieren oder in zivilgesellschaftlichen Organisationen aktiv sein dürften. Deswegen haben sie begonnen, sich zu organisieren. Der durch die Türkei ernannte Lokale Rat hat die Bewegung als «unberechenbar» und als eine Bewegung verleumdet, die dem Regime und den USA anhängt. Denn wenn die Bewegung erfolgreich ist, dann stehen die Autoritäten vor dem Problem, dass sich dieses Beispiel ausbreiten könnte, dass die lokale Bevölkerung versteht, dass sie sich ihre Rechte einfach auf diese Art und Weise nehmen können.
Wie hat sich diese Bewegung entwickelt?
Ich will es gar nicht verbergen: Es gab, als die Bewegung 2018 begann, eine Art unausgesprochenen gesellschaftlichen Konsens vor allem in den nicht-kurdischen Teilen der Bevölkerung, die Türkei nicht zu kritisieren. Die Leute sahen, dass sie in einer relativen Stabilität lebten, während Zehntausende aus den anderen Teilen des Landes fliehen mussten. Somit gab es keinen Widerspruch, als viele der Lehrer*innen festgenommen wurden. Die Lehrer*innen wollten dann eine Gewerkschaft gründen. Das wurde durch die Türkei nicht nur abgelehnt, sondern jede*r, die*der das verlangt hat, hat ein Arbeitsverbot erhalten. Als es dann zu den extremen Preissteigerungen kam, eskalierte die Situation im letzten Jahr. Der Auslöser kam über die Kündigung eines syrischen Arztes – Uthman Hattawi – im Krankenhaus in Mari´, der sich einem türkischen Krankenpfleger widersetzt hatte, der ihn rassistisch behandelt hatte. Daraufhin entstand eine breite Solidaritätsbasis.
Die Polizei hat Drohstatements gegen die Lehrer*innen veröffentlicht. Das hat dazu geführt, dass die öffentliche Meinung, die davor eher geteilt war, sich mit den Lehrer*innen solidarisiert hat. Die Arbeiter*innen-Selbstorganisation der «fliegenden Händler*innen», die Frisör*innen und 90 Prozent der zivilgesellschaftlichen Organisationen haben sich solidarisch erklärt. Es wurde sehr schnell klar, wer selbstständig Entscheidungen trifft und wer von den lokalen Autoritäten kontrolliert wird. Gleichzeitig wurden Weisungen gegen Journalist*innen erlassen. All das hat das Fass in gewisser Weise zum Überlaufen gebracht. Die Lehrer*innen haben einen Forderungskatalog mit zehn Punkten erstellt, nur einer davon drehte sich um ihre Gehälter. Es ging im Wesentlichen um ihre Organisationsrechte, Gewerkschaftsgründungen, das Curriculum etc. Die Lehrer*innen haben monatelang protestiert und gestreikt.
So gründete sich dann die Gewerkschaft?
Genau, ich habe zwar viel Kritik, wie sie sich am Ende konstituiert hat, aber ich unterstützte sie voll und ganz. Es war ein total entscheidender Moment: Entweder gewinnen wir und gründen die Gewerkschaft und gewinnen dadurch mehr Freiheiten oder wir verlieren und hätten hier vielleicht gar nichts mehr machen können. Die einzelnen Unterabteilungen der Gewerkschaft sind nun über ganz Rif-Aleppo (ohne Afrin) verteilt und organisieren sich im überregionalen Zusammenschluss des «Rates der Gewerkschaft» (Majlis al-Naqaba). In diesem gibt es, soweit ich weiß, derzeit nur arabische Vertreter*innen.
An wen wird sich die Gewerkschaft wenden? An die Interimsregierung der syrischen Opposition?
Die Interimsregierung der syrischen Opposition hat ein Erziehungsministerium hier, aber das erkennen wir nicht an. In Rif-Aleppo gibt es ein hybrides Regierungsmodell, welches uns die Türkei auferlegt hat, bei dem einfach unklar ist, wer für was verantwortlich ist. Aber der Erfolg der Lehrer*innen hat dazu geführt, dass auf einmal alle diese Autoritäten sagen, «ich bin verantwortlich, und ich will die Sache beenden».