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Wie sich Veränderungen im digitalen Raum auf die Demokratie in Brasilien ausgewirkt haben

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João Brant ,

João Brant, Politik- und Kommunikationswissenschaftler, Brasilien. Collage aus Porträtfoto und Titel des Beitrags

Jair Bolsonaro kam mithilfe von koordinierten Fake-News Kampagnen, die über Messenger und soziale Medien verbreitet wurden an die Macht. Der Politik- und Kommunikationswissenschaftler João Brant untersucht wie sich die Veränderungen der digitalen Kommunikation auf die Demokratie in Brasilien ausgewirkt haben.
 

Seit 2013 wurde der Ausdruck Fake News alltäglich und allgegenwärtig. Gleichzeitig erhielt die extreme Rechte mehr Gehör und besetzte relevante politische Räume in vielen Teilen der Welt. Diese beiden Sachverhalte hängen zusammen, aber ihre kausale Beziehung ist nicht klar definiert. Die Wahl von Trump, Duterte und Bolsonaro; die Entstehung der AfD in Deutschland oder das Erstarken von Le Pen in Frankreich scheinen Ergebnisse eines multikausalen politischen Wandels zu sein.

Auch wenn die Verschärfung der Krise des Kapitalismus nach 2008 ein wesentliches Element zur Erklärung des Wachstums der extremen Rechten sein mag, ist es wichtig zu verstehen, wie die Veränderungen im digitalen Raum – verursacht durch das Wachstum sozialer Netzwerke und durch Geschäftsmodelle, die auf der extremen Verwertung persönlicher Daten basieren – dazu beigetragen haben, die Demokratie zu beeinträchtigen und den Raum für den Rechtspopulismus zu erweitern. Ein Teil dieses Phänomens ist global, ein anderer Teil hängt auch von den Bedingungen in den einzelnen Ländern ab.

In Brasilien wirkten sich Umfang und Heftigkeit der Desinformation auf dramatische Weise auf die Demokratie aus. Der perfekte Sturm, der sich aus der Allianz von konservativen Lagern und liberalen Institutionen, wie den Kommunikationsmedien und der Justiz, gegen die progressiven Regierungen von Lula und Dilma zusammenbraute, entwickelte sich in einem fragmentierten digitalen Raum und wurde in undurchsichtigen Messaging-Apps «begraben». Doch welche Auswirkungen hatte die intensive Nutzung von Fake News durch die extreme Rechte in Brasilien?

João Brant ist Forscher und Berater für Kommunikations-, Digital- und Kulturpolitik und hat unter anderem die UNESCO, die Ford Foundation, Global Partners und OBSERVACOM beraten. Brant war von 2015 bis 2016 Exekutivsekretär im brasilianischen Kulturministerium. Er promovierte in Politikwissenschaften an der Universität von São Paulo (USP) und erwarb einen Master in Kommunikationsregulierung und -politik an der London School of Economics. Derzeit ist Brant Direktor des brasilianischen Instituts Instituto Cultura e Democracia und koordiniert dort das Projekt zu Desinformation.

Globale Veränderungen und brasilianische Besonderheiten

In den 2010er Jahren gab es eine Reihe von Veränderungen der Organisation des digitalen Raums. Auf der einen Seite machte die zunehmende Verbreitung von Smartphones die Nutzung von sozialen Netzwerken populär. Gleichzeitig veränderten dieselben Netzwerke die Architektur des digitalen Raums und die Algorithmen seit 2009 erheblich. Das verschärfte den Kampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen. Es wurden zunehmend Mechanismen eingesetzt, um «Feedback-Schleifen zur sozialen Bewertung» zu erzeugen, die auf kleinen «Dopaminschüben» basieren, wie es der erste Präsident von Facebook, Sean Parker, ausdrückte.

Die Folge dieses Langzeitverhaltensexperiments, an dem wir alle teilnehmen, ist eine Veränderung jener Mechanismen, die bestimmen, wie die öffentliche Debatte organisiert wird und sich Informationen verbreiten. Die Grundsätze des professionellen Journalismus, der von einer begrenzten Anzahl von Medien betrieben wird, wurden durch Grundsätze der Aufmerksamkeitsökonomie ersetzt. Eine auf dem öffentlichen Interesse basierende Verwaltung von Informationen wurde durch die Anziehungskraft von Inhalten ausgetauscht, die auf persönlicher und sozialer Bestätigung beruhen. Der Vorschlag einer gemeinsamen öffentlichen Agenda wurde endgültig durch ein fragmentiertes und segmentiertes Umfeld ersetzt. Die historische Glaubwürdigkeit von Informationsquellen wurde verwässert und durch die Fähigkeit einfacher Titel ersetzt, welche sich die Tendenz zur Bestätigung der Nutzer*innen zu eigen macht.

Diese Faktoren haben sich als systemische Anreize für Fehlinformationen erwiesen, und zwar durch die Art und Weise, wie digitale Plattformen selbst Diskurse «belohnen», die ein größeres User Engagement hervorrufen (und damit Gewinn machen), sowie durch die Schwierigkeit, einen Gegenpol und eine rechtliche Verantwortung für die Verbreitung falscher Informationen zu schaffen, die individuelle oder kollektive Rechte beeinträchtigen.

In Brasilien hat sich diese Situation durch die intensive Nutzung von Instant-Messaging-Anwendungen verschlimmert. Diese kombinieren die Modalitäten der zwischenmenschlichen Kommunikation mit viraler Massenkommunikation. Aufgrund ihres Aufbaus und der fehlenden Regulierung muss der/die Verfasser*in bei der viralen Verbreitung über private Messenger keine moralische und rechtliche Verantwortung für die veröffentlichten Inhalte übernehmen. Dies beeinträchtigt den Empfang von Nachrichten, schafft Anreize für Gerüchte und Fehlinformationen und verhindert eine Rechenschaftspflicht im Falle unerlaubter Nachrichten.

All diese Veränderungen fanden inmitten einer politischen Krise statt, die dadurch verursacht wurde, dass die Operation Lava-Jato zur Korruptionsbekämpfung mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Mobilisierung der Rechten und den Lagern der politischen Mitte gegen die Regierung der Arbeiter*innenpartei PT nach ihrem vierten Sieg in Folge bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zusammenfiel. Die Essenz dieses Prozesses nährte eine anti-politisches und anti-systemisches Sentiment, das die Entstehung einer Kandidatur wie der Bolsonaros ermöglichte.

Fake News als systematische politische Strategie

In diesem politischen Kontext wussten Bolsonaro und seine politischen Unterstützer*innen den neuen digitalen Raum gut für sich zu nutzen, insbesondere weil die geschlossenen Netzwerke eine «Wahlverwandtschaft» mit dem Rechtspopulismus aufweisen. Wie die Anthropologin Letícia Cesarino betont, ist das Umfeld geschlossener Gruppen durch einen engen Takt, Vertrauen auf der Grundlage persönlicher Beziehungen, die Verschmelzung persönlicher, sozialer und beruflicher Kontexte und die Isolierung von Widersprüchen gekennzeichnet.

Daraus resultierte die Schaffung eines riesigen geschlossenen Kommunikationsnetzes, das professionelles Handeln, bei dem viel Geld im Spiel ist, mit organischem Handeln verbindet, und das parallele, abgeschlossene Realitäten hervorbrachte, die sich in ihrer Gesamtheit nicht abbilden lassen.

Auch wenn die tatsächliche Dimension des Problems unsichtbar ist, erschreckt bereits der sichtbare Teil. Wie aus einem Artikel der unabhängigen brasilianischen Onlinepublikation Agência Pública hervorgeht, der sich auf Untersuchungen der Staatlichen Universität von Minas Gerais und der Universität São Paulo stützt, waren sieben der zehn am häufigsten in WhatsApp-Gruppen geteilten Bilder in den ersten drei Monaten der Pandemie fake, und 60 Prozent brachten Covid-19 mit einer chinesischen Verschwörung in Verbindung.

Auf die gleiche Art hat die Parlamentarische Untersuchungskommission zu den Handlungen und Unterlassungen der Regierung während der Pandemie in Brasilien (CPI da Covid) die Existenz einer komplexen Organisation zur Schaffung, Verbreitung und Finanzierung von Fake News mit tragischen Folgen nachgezeichnet. Trotz des eindeutigen Gutachtens konnte die CPI da Covid aufgrund fehlender Gesetze die Situationen nur als «Anstiftung zum Verbrechen der Nichteinhaltung von Gesundheitsnormen» einordnen, bisher ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen.

Wie in anderen Teilen der Welt handelt es sich auch bei der Desinformation in Brasilien um einen plattformübergreifenden Vorgang, der offene und geschlossene Netzwerke in komplexen Operationen kombiniert, um neue Informationsfluten zu erzeugen und alte Lügen wieder aufzuwärmen. In diesem Zusammenhang wird die massenhafte und häufige Verbreitung falscher und irreführender Nachrichten zu einer politischen Strategie, die darauf abzielt, die Glaubwürdigkeit der politischen Gegner zu untergraben und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen und das Wahlsystem zu erschüttern.   

Ohne Ausweg?

Was Brasilien vielleicht von anderen Ländern in Lateinamerika unterscheidet ist, dass der perfekte Sturm, der Bolsonaro 2018 an die Macht brachte, ein extrem strukturiertes Netzwerk der Untergrundkommunikation (über Messaging-Apps) hinterlassen hat, das weiterhin täglich mit gefälschten und irreführenden Nachrichten versorgt wird. Anekdotische Beweise aus egal welchen Familiengesprächen zeigen, dass ein Teil der Bevölkerung in einer Realität lebt, die hauptsächlich von gefälschten und irreführenden Nachrichten aus Bolsonaros Lager genährt wird.

Ohne die schädlichen Eigenschaften der Struktur sozialer Medien zu nutzen, ist das progressive Lager gegenüber dem Rechtspopulismus klar im Nachteil. In der gegenwärtigen Situation hängen positive Ergebnisse für das progressive Lager in den Netzwerken von der Zuwendung prominenter Persönlichkeiten und Influencer ab, diese relevanten Themen aufzugreifen und über die traditionellen Blasen der Linken hinauszutragen.

Eine demokratische Gesellschaft kann sich nicht damit abfinden, dass ein erheblicher Teil der von der Bevölkerung konsumierten Informationen falsch oder irreführend ist. Dies wirkt sich unmittelbar auf die kollektive Dimension des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Zugang zu Informationen aus, die sich in einer gut informierten Gesellschaft auf die Entscheidungsfindung auswirkt.

Die Lösung dieses Problems hängt von einer vielschichtigen Strategie ab, die Änderungen der Rechtsvorschriften, gerichtliche Untersuchungen, Überwachung und Fact-Checking sowie Medienerziehung kombiniert. Letztlich würde dies eine Umkehrung des Geschäftsmodells erfordern, das auf einer Aufmerksamkeitsökonomie basiert, die durch persönliche Daten gefüttert wird. Um nicht naiv zu klingen, müsste diese Forderung in einer globalen politischen Agenda konkretisiert werden.

Im Zuge des Vorwahlkampfes hat das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo drei Expert*innen gebeten, die aktuelle Situation in Brasilien wenige Monate vor den Wahlen jeweils unter ihrer fachlich-spezifischen Brille zu beleuchten:

Bianca Santana, Aktivistin der Schwarzen Bewegung in Brasilien und Journalistin (u.a.) informiert über den Widerstand gegen Bolsonaro und weist darauf hin, dass es ein fataler Fehler wäre, nur auf die Wahlkampagnen zu setzen und die Mobilisierung auf den Straßen außer Acht zu lassen.
João Brant beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Rechten und Fake News weltweit. Er nimmt Brasilien als ein Beispiel, um das Gefahrenpotenzial der Entwicklung des digitalen Raums für die Demokratie aufzuzeigen.
Rodrigo Lentz von der Universidad de Brasilia untersucht die Rolle des Militärs in der brasilianischen Politik und zeigt dass die bewaffneten Kräfte ihr eigenes politisches Projekt haben.

Die drei Artikel wurden in einem illustrierten Faltblatt auf Spanisch veröffentlicht. Die Texte liegen nun auch in deutscher Übersetzung vor.