Ich erinnere mich an ein Foto von Gus Hall in meinem Schulbuch. Der wichtigste Kommunist Nordamerikas war oft in der DDR zu Gast. Das wohl letzte Mal kam er zum 40. Geburtstag der Republik und saß in der ersten Reihe. Als ich im Sommer 2002 zu meiner ersten Reise in die USA aufbrach, musste ich feststellen, dass ihn in New York niemand, mit dem ich sprach, kannte. Nur der Demokrat Ted Deutch aus Florida grinste verschmitzt, als ich ihn in diesem Sommer im US-Kongress besuchte, und sagte: «Klar kenne ich Gus Hall.» Aber er schien der Einzige zu sein. Also machte ich mich auf die Suche nach seiner Geschichte.
Stefan Liebich war von 2009 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags für Die LINKE und zuvor Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Seit Januar 2022 ist er Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dieser Beitrag ist Teil seines Projekts «Progressive America».
In einem Café im verschneiten Toronto in Kanada traf ich C.J. Atkins. Der junge Mann ist bei einer Organisation namens «Proud Politics» aktiv, die sich gegen die Diskriminierung von Politiker*innen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung wendet. «Ich bin in Arkansas geboren und aufgewachsen, einem sehr konservativen Südstaat», erzählt er. «Meine Mutter war Arbeiterin in einer Fabrik und Gewerkschaftsmitglied. Sie nahm an Streiks teil, und ich habe begonnen, darüber nachzudenken, wie Arbeiter*innen behandelt werden. Ich habe gelesen, bin auf Marx gestoßen und habe Gleichgesinnte online getroffen. In Arkansas gab es nicht so viele Linke. Bill und Hillary Clinton, weiter kam man hier nicht.» 1999 trat er mit 17 Jahren in die Kommunistische Partei ein.
Seit 2016 arbeitet er als Redakteur bei der traditionsreichen Parteizeitung «People’s World». C.J. Atkins erzählt, dass dort ein Dutzend Menschen fest angestellt sind. Treue Leser*innen vermachen an ihrem Lebensabend ihr Erbe oder einen Teil davon der Zeitung oder der Partei. «Aber unsere größte Einnahmequelle ist unser Gebäude in New York.» C.J. Aktins ist auch Mitglied des National Board, des Politbüros der Partei. «Als ich der Partei beitrat, war Gus noch im Amt, aber seine Zeit war fast vorüber. Damals wusste ich es nicht, aber später fand ich heraus, dass im Wesentlichen bereits andere die Partei leiteten. Mein Eindruck war, dass Gus nicht loslassen konnte.»
Die Geschichte der kommunistischen Partei reicht zurück bis ins frühe 20. Jahrhundert. Nach Lenins Revolution in Russland spalteten sich zwei Gruppen von der Sozialist Party USA ab, die dann als kommunistische Parteien auftraten. Sie wurden auf Druck der Komintern aus Moskau zur Communist Party USA. Der aus einer finnischen Einwandererfamilie stammende Matt Halberg war damals bereits mit dabei. Sein Sohn, Arvo Kustaa, folgte mit 17 Jahren dem Werben seines Vaters. Nach zwei Jahren Studium in Moskau engagierte sich der junge Arvo gewerkschaftlich und meldete sich im zweiten Weltkrieg freiwillig zur US Navy, um gegen die Faschisten zu kämpfen. Noch während er in Guam stationiert war, wurde er in den Parteivorstand gewählt. Unter dem Namen Gus Hall führte er von 1959 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 die Partei und gehörte damit zu den am längsten amtierenden kommunistischen Parteiführern weltweit. Er kandidierte viermal als Präsident der USA und saß für seine Überzeugungen lange im Gefängnis.
«Es gibt Leute, die darauf schwören, dass Gus Hall genau der Typ war, als der er bei uns dargestellt wird», erzählt C.J. Atkins. «Ein einfacher Mann der US-Arbeiterklasse.» Aber es gibt auch andere Sichten auf ihn. Er war wohl sehr strikt. Anhörungen der Parteikontrollkommission waren unangenehm, und es gab in der Zeitungsredaktion stets die Sorge, ob sie etwas aus dem achten Stock – da war sein Büro – zu hören bekämen.
Als der schwarze Bürgerrechtler Henry Winston, der mit Gus Hall die Partei jahrzehntelang führte, 1986 starb, schaffte Hall dessen Amt kurzerhand ab, was viele falsch fanden. Obwohl Hall öffentlich behauptete, dass seine Partei unabhängig sei, berichtete die Moskauer Tageszeitung «Iswestija» 1992, dass sie zwischen 1971 und 1990 40 Millionen Dollar an sowjetischer Hilfe erhalten habe. Die Mittelsmänner, die das organisierten, arbeiteten auch für das FBI und wussten, was der Vorsitzende für sich und seine Familie abzweigte, berichtete das konservative »Commentary«-Magazin im Jahr 2020.
Der Kampftag der Arbeiter*innenbewegung, der 1. Mai, hat in Chicago seinen Ursprung. Das Haymarket Memorial auf dem Forrest Home Friedhof erinnert daran. Hier soll auch Gus Halls letzte Ruhestätte sein. Als ich an einem regnerischen Nachmittag die Gräber abschritt, konnte ich sie nicht finden. Ich ging in das Friedhofsgebäude und fragte eine junge Frau, die dort arbeitete, ob sie mir wohl helfen könnte, das Grab von Gus Hall alias Arvo Kustaa Halberg zu finden. «Wann wurde ihr geliebter Verwandter denn beigesetzt?» Ich antwortete, dass es sich um keinen Verwandten handelt, sondern hier ein viermaliger Präsidentschaftskandidat begraben liegt. «Und, wie viele Leute haben ihn gewählt?», fragte sie. Ich verschwieg, dass er nie die 0,1-Prozent-Marke erreicht hatte. Ob denn noch niemand zuvor nach ihm gefragt hätte? Sie verneinte, fand aber seine Grabstelle und druckte mir eine kleine Karte aus, die mich dahin zurückführte, wo ich bereits gesucht hatte. Ich startete einen weiteren Anlauf, aber kurz bevor der Friedhof geschlossen wurde, gab ich auf. Offenbar hatte Gus Hall auf einen Grabstein für seine Urne verzichtet.
Scott Marshall war einer der engsten Weggefährten von Gus Hall. Er erzählt, wie er, als der KP-Vorsitzende damals seine Universität in Chicago besuchte, um eine Rede zu halten, andere Prioritäten hatte. «Ich war bei einem Konzert der Band ‹Sam The Sham & The Pharaos›, die gerade mit ‹Wooly Bully› einen großen Hit hatten. Wahrscheinlich hätte ich eine große Karriere in der Partei gemacht, wenn ich bei Gus statt beim Konzert gewesen wäre», amüsiert er sich. Gus Hall wurde trotzdem sein Mentor und Freund. Wenn Scott Marshall nach New York kam, übernachtete er in Halls Haus. Er erzählt freimütig, wie die Partei Geld von sozialistischen Staaten bekam, wie das manchmal auch bei Gus Hall im Keller lag. Alles sei für die Partei verwendet worden, beteuert er. Nichts für ihn selbst.
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus hätten viele Parteimitglieder begonnen, Dinge in Frage zu stellen. Etliche – auch Angela Davis, die wohl bekannteste Kommunistin der USA – haben die Partei verlassen und andere Organisationen gegründet. Und dann begann das neue Jahrtausend. «Als Gus im Sterben lag und sehr krank war, trat er trotzdem nicht zurück. Und weil ich ihm nahe stand, sagten die anderen: ‹Du musst mit ihm reden.› Niemand sonst wollte es tun. Und so tat ich es. ‹Gus, es ist an der Zeit zurückzutreten. Gib uns die Chance, uns weiter zu entwickeln.› Und Gus hat ja gesagt.» Kurz darauf, am 13. Oktober 2000, starb Gus Hall.
John Wojich leitet heute die Redaktion von «People’s World» und hat eine bewegte Zeit innerhalb der Partei hinter sich. Viel zu erzählen hat der bärtige Mann mit den langen blonden Haaren vor allem aus seiner Zeit als Chef des Freundschaftskomitees der USA mit der DDR. «Wir hatten ein bisschen Ärger, wenn die Delegationen aus der DDR zurückkamen. Sie haben dann bei unseren öffentlichen Veranstaltungen über die großartigen Dinge dort gesprochen, aber eben auch über Probleme. Und es gab dann Leute in der Partei, die sagten, das sollten sie nicht tun. Ich fand das falsch. Wir wollten in dem Moment schließlich Gesprächsbarrieren abbauen und nicht die Leute zu Anhängern des Kommunismus machen.»
In ihrer Blütezeit konnte die KP der USA auf 70 000 Mitglieder und sogar eine Handvoll gewählter kommunaler Abgeordnete verweisen. Sie unterstützte die Anti-Hitler-Koalition und die New-Deal-Politik von Präsident Franklin D. Roosevelt. Aber dann kam die McCarthy-Zeit, in der eine paranoide Angst vor Kommunist*innen kultiviert wurde. Gus Hall wurde verurteilt, floh nach Mexiko, wurde dort illegal vom FBI gekidnappt und saß acht Jahre im Gefängnis. Nach seiner Freilassung wurde ihm der Führerschein entzogen, und ein Chauffeur fuhr ihn fortan von seinem Haus in einem Vorort ins Büro nach Manhattan.
Das Haus der kommunistischen Partei steht in bester Lage gegenüber des berühmten Chelsea Hotels und wirkt wie ein normales Geschäftshaus. Nur auf der Klingel für die 7. Etage steht klitzeklein «CPUSA». «Das ist ein Vermächtnis von Gus», erzählt der Parteivorsitzende Joe Sims. «Seine Generation hatte die Weisheit, dieses Grundstück zu kaufen. Wir haben früher das gesamte Gebäude benötigt. Aber dann standen einige Stockwerke leer, und so beschlossen wir, um die Jahrtausendwende eine strategische Entscheidung zu treffen, das Gebäude zu renovieren und einige der Räume zu vermieten. Jetzt sind wir in der Lage, unsere Ausgaben vollständig durch die Mieteinnahmen zu decken.»
Joe Sims’ Ko-Vorsitzende lebt am anderen Ende der USA, an der Westküste in Los Angeles. Ich treffe sie an einem sonnigen Tag in dem «Los Angeles Workers Center», wo bereits die internationale Kampagne zur Freilassung von Angela Davis ihren Sitz hatte. Rosanna Cambron kam mit ihren Eltern aus Mexiko und setzte sich schon früh für die Gleichberechtigung ihrer Landsleute ein. Sie lernte ihren Mann, einen Kommunisten, kennen und der empfahl ihr eine Marxismus-Schule. «Das hat mich in die Partei gebracht, und nun bin ich seit über 40 Jahren dabei.» Dass deshalb sogleich das FBI bei ihrer Familie und ihren Nachbarn anklopfte, erfuhr sie erst später.
In Los Angeles steht die Bürgermeister*innen-Wahl an. «Die Demokratin Karen Bass hat gezeigt, dass sie jemand ist, die die arbeitenden Menschen vertritt», meint Rosanna Cambron. «Und deshalb ist es für uns wichtig, sie zu unterstützen. Nicht unbedingt als Partei, das wird nicht funktionieren. Aber als Mitglieder. Wenn ich sagen würde, dass ich als Bürgermeisterin von Los Angeles kandidieren würde, welche Chancen hätte ich?» Die kommunistische Partei der USA ist heute bis auf wenige Ausnahmen in der Gewerkschaftsbewegung und als Teil von Kampagnen nahezu einflusslos. «Die Arbeiter*innen von Los Angeles sind noch nicht bereit, eine kommunistische Bürgermeisterin zu wählen», sagt Rosanna Cambron. «Wir als Kommunist*innen müssen realistisch und ehrlich zu uns selbst sein und nicht egoistisch. Und wir wissen schon, was wir nicht wollen: Das ist ein Republikaner.»
Die Chancen stehen gut, dass dies verhindert werden kann. Bei der Wahl am 7. Juni hat Karen Bass 43 Prozent der Stimmen erhalten und gilt bei der Stichwahl am 8. November als Favoritin.
Dieser Beitrag erschien zuerst in nd.