Am 4. September entscheiden die Chilen*innen, ob sie den Entwurf einer neuen Verfassung annehmen wollen. Das Referendum ist ein Meilenstein auf dem Weg aus der politischen Krise, in der sich das Land seit Oktober 2019 befindet. Beginnt damit für Chile eine neue Etappe mit einer Verfassung, die unter demokratischen Bedingungen entstanden ist?
Die feministische Bewegung hat eine herausragende Rolle während dieser politischen Krise gespielt. Der feministische Generalstreik, der vom Kollektiv Coordinadora Feminista 8M für den 8. März 2019 ausgerufen wurde, hat das bereits vorweggenommen. Er hat die Forderungen all jener Kämpfe hochgehalten, die die chilenische Bevölkerung seit Jahrzehnten aufgestellt hatte. Im verfassungsgebenden Prozess selbst erwies sich der Feminismus als treibende Kraft. Durch ihre inhaltliche Schärfe und ihren gesellschaftlichen Rückhalt konnten Feminist*innen entscheidende Transformationen vorantreiben, die jetzt im Entwurf für die neue Verfassung festgehalten sind.
Alondra Carrillo, Sprecherin der Coordinadora Feminista 8M wurde als Vertreterin der feministischen Bewegung sowie der Asambleas Territoriales des zwölften Distrikts von Santiago de Chile in den Verfassungskonvent gewählt. Mit ihr sprach Pablo Abufom vom Magazin Jacobin América Latina. Die ungekürzte spanischsprachige Version dieses Interviews erschien in der Reihe Convención Constitucional 2022, einer Zusammenarbeit zwischen Jacobin América Latina und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Buenos Aires.
Pablo Abufom: Wie beurteilt ihr von der Coordinadora Feminista 8M heute den verfassungsgebenden Prozess? Was ist dort von all den Debatten und programmatischen Entwicklungen der sozialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte eingeflossen? Wie sehr können wir uns über die Fortschritte freuen, die in der neuen Verfassung Eingang gefunden haben?
Alondra Carillo: In der ersten Woche des Verfassungsprozesses saß ich zusammen mit meinen Nachbar*innen auf einem Platz in La Florida und da wurde uns plötzlich klar, dass wir bald die Verfassung schreiben werden müssen. Wenn ich an die Entwicklungen seither denke und den finalen Entwurf betrachte, dann würde ich sagen: Die Bilanz ist ausgesprochen positiv. Es gibt sehr gute Gründe, uns zu freuen. Die Slogans, die seit 2006 auf den Bannern der Proteste standen, sind heute Teil der Verfassung.
Wir haben das Recht auf Bildung in Form eines öffentlichen Bildungswesens verankert, das auf allen Ebenen laizistisch, kostenlos und geschlechtergerecht ist. Ebenso haben wir das Recht auf soziale Absicherung verankert.
Auch das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und die Anerkennung der Gewerkschaften als Repräsentantinnen der Beschäftigten, die kollektive Verhandlung von Branchentarifen und das Streikrecht sind in der Verfassung festgeschrieben. Wasser wird unantastbares Allgemeingut und seine Nutzung für Mensch und Umwelt hat Vorrang. Endlich haben wir auch das Recht auf menschenwürdiges und angemessenes Wohnen verankert; der Staat kann unter Mitwirkung der Gemeinden direkt Wohnungen bauen, über Bauland verfügen und so Spekulationen verhindern. Er muss zudem Notunterkünfte für Frauen einrichten, die Opfer von Gewalt wurden. Der Staat bekennt sich zum Recht auf ein Leben frei von Gewalt für Frauen, Mädchen, Jugendliche und trans und nicht-binäre Personen. Kinder werden als Rechtssubjekte anerkannt und ältere Menschen haben das Recht, in Würde zu altern. Erstmals werden Menschen mit Behinderungen als Rechtssubjekte anerkannt. Auch unsere Rechte auf persönliche Autonomie und auf Identität sowie unsere sexuellen und reproduktiven Rechte sind festgeschrieben. Die Verfassung wurde von uns geschrieben und spricht daher in diesem Zusammenhang auch von dem Recht auf Lust. Und der Staat wird endlich demokratisiert, indem breite Teile der Bevölkerung ermächtigt werden, die Politik und die Gesetzgebung mitzugestalten und indem sich die Gemeinden und Regionen selbst regieren können. Es gibt viele Gründe, sich zu freuen, und es würde eine Weile dauern, sie alle aufzuzählen.
Aber die Bilanz ist auch positiv, weil uns dieser intensive und schnelle politischen Lernprozess ermöglicht hat, eine neue Sprache zu sprechen: eine Sprache, die zu beherrschen und in der sich artikulieren können sehr wichtig ist, wenn es um politische Auseinandersetzungen geht. Wenn man bedenkt, dass die Verfassung sprachlich sehr abstrakt ist, ermöglicht diese neue Sprache uns, den allgemeinen Anliegen, Hoffnungen oder Wünschen eine sehr konkrete Form zu geben: Wir wollen ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt – was bedeutet das in Bezug auf unseren Auftrag an den Staat? Wie kann sich das in staatlichen Leistungen widerspiegeln? Was bedeutet es in Bezug auf den internationalen Menschenrechtsrahmen, auf den wir uns beziehen, um diese Garantien durchzusetzen? Das sind Fragen, die es uns ermöglicht haben, diesen Wunsch nach einem würdigen Leben oder einem radikal anderen Leben zu konkretisieren oder einen Schritt weiter zu gehen, um ihn zu verwirklichen. Und außerdem konnten so Überlegungen, die seit Langem in den sozialen Bewegungen entwickelt wurden, in Verfassungsnormen dargestellt werden – heute sind sie Teil des Verfassungsentwurfs.
Der Verfassungsprozess hat die Situation verändert: Die sozialen Bewegungen sind nun nicht mehr in der Rolle, immer nur Forderungen an den Staat zu stellen, die dieser dann erfüllen kann oder nicht. Jetzt haben sie den Raum zu gestalten, Bedingungen zu schaffen und daher mit einer ganz anderen historischen Verantwortung zu denken. Das ist etwas, was wir in diesem Ausmaß noch nicht erlebt haben.
Ja, absolut. Weil es darum geht, eine Verfassung zu schreiben, sind wir angehalten, in einem sehr weiten zeitlichen Rahmen zu denken. Denn es geht darum, dass wir uns für die Zukunft, die wir schaffen wollen, auch verantwortlich fühlen. Und dieser Gedanke tauchte immer wieder in den Unterhaltungen der Nachbar*innen auf, dass dies ein Prozess «für meine Söhne, für meine Töchter» sei. Es handelt sich also gleichzeitig um eine generationenübergreifende Verantwortung, die es uns ermöglicht, uns vorzustellen, Werkzeuge zu haben, um die Realität, in der wir leben, zu verändern.
Dabei geht es selbstverständlich nicht um eine unmittelbar anwendbare politische Maßnahme, sondern eher um eine Vision ...
Nein, es geht nicht um unmittelbare Anwendbarkeit. Dennoch geht es darum, den Menschen Werkzeuge an die Hand zu geben. Wir wollen eine Verfassung, die wie ein Werkzeugkasten ist, und jetzt haben wir die Möglichkeit, diese Werkzeuge zu schaffen. Welche sind das? Welche brauchen wir? Welche Form müssen sie haben? Wofür müssen sie nützlich sein?