News | Geschichte Von der Wertlosigkeit der Sachen

Dem SPD-Linken Jochen Steffen zum Hundertsten

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«Viele spotten heute über den Traum einer sozialistischen Gesellschaft. Lasst sie spotten! Der Traum kann Wirklichkeit werden: Eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, eine Gesellschaft, in der der Mensch mit seinen Bedürfnissen das Maß aller Dinge ist, eine Gesellschaft, in der der Mensch nicht geknebelt und gefesselt wird durch die Herrschaft seiner eigenen Fetische, sei es Profitstreben oder sei es Konsumzwang.»[1]

Der SPD-Politiker, Journalist und Kabarettist Joachim (Jochen) Steffenwurde am 19. September 1922 in Kiel geboren. Er wuchs in einem kleinbürgerlichen Haushalt auf. Auf der Straße, in Grundschule und Sportverein hatte er intensiven Kontakt zu Kindern aus Arbeiterfamilien, die Werften lagen in unmittelbarer Nachbarschaft. Als erstes Mitglied seiner Familie besucht Jochen Steffen ab Ostern 1933 die ‚höhere Schule‘, das Kieler Reformrealgymnasium.

Im November 1936 tritt Steffen der Marine-Hitlerjugend bei, Vater und Freunde mögen ihn motiviert haben. Über seinen Ausschluss hat Jochen Steffen widersprüchliche Angaben gemacht. Die Aussage in einem Interview 1980, er sei bereits 1937 aus der HJ «rausgeschmissen» worden, steht die von ihm getroffene Angabe in seiner Entnazifizierungsakte entgegen, nach der der Ausschluss 1940 erfolgt sei, weil er sich dem Eintritt in die NSDAP verweigert habe[2].

Siegfried Schröderist Politikwissenschaftler und hat bis Mai 2022 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet, u.a. als Büroleiter in Ost- und Südafrika. Er ist Anfang der 1970er Jahre durch die Politik Willy Brandts und die Positionen Jochen Steffens politisiert worden und erinnert sich an begeisternde Auftritte Steffens auf Landesparteitagen und Juso-Treffen in Schleswig-Holstein.

Wehrmacht

Wie nahezu alle seine Klassenkameraden meldet sich Jochen Steffen ‚freiwillig‘ zum Militärdienst, in der Hoffnung, so Einsatzort und Waffengattung beeinflussen zu können - eine Einberufung wäre 1941 angesichts der sich wendenden Kriegssituation ohnehin nicht mehr abzuwenden gewesen. In Gotenhagen (bis 1939 und seit 1945 wieder Gdynia) lernt er 1943 seine spätere Ehefrau Ilse Zimmermann kennen, beide sind bei der Flugabwehr eingesetzt.

Jochen Steffen hat sich öffentlich kaum zu seiner Wehrmachtszeit geäußert. Laut seines Sohnes zeigt Steffen in seinen Feldpostbriefen «ein erhebliches Maß an Identifikation mit der nationalsozialistischen Legitimation des Krieges und der Propaganda des NS-Staates.»[3] Ähnlich äußert sich Gertrud Lenz vom Archiv der sozialen Demokratie (FES), wenn sie sowohl für Jochen Steffen als auch für Ilse Zimmermann konstatiert: «Die beiden in Hitler-Deutschland sozialisierten jungen Menschen stellten das Dritte Reich bis zuletzt als politisches System nicht in Frage ... Beide verstanden sich in dieser Zeit als deutsche Patrioten, die bis zur Kapitulation der deutschen Wehrmacht ihre Pflicht als Wehrmachtsangehörige erfüllten.»[4]

Dennoch war Jochen Steffen wohl kein überzeugter Nazi. Nach dem Krieg wurde er, vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen, vor allem aber durch erschütternde Zeugnisse von KZ-Überlebenden, zum überzeugten Antifaschisten. Sein Mitläufertum hat ihn zeitlebens belastet: «Die Nationalsozialisten waren so, wie sie es selbst von sich sagten; sie taten, was sie angekündigt hatten. Wir anderen ließen geschehen, was nicht geschehen durfte. Ich wusste sehr früh, dass ich Kompromisse schloss, schwieg oder innerlich Zugeständnisse machte, wo ich laut hätte ‚Nein!‘ sagen müssen.»[5] Vergangenheitspolitisch – wenn auch nicht Schwerpunkt seiner Arbeit – setzte sich Steffen u.a. bei der Aufklärung der Heyde / Sawade-Affäreein, durch die ein bereits wieder in Landesdiensten stehender Nazi-Euthanasiearzt enttarnt und seines Dienstes enthoben werden konnte[6].

Ilse Steffen

Ilse Zimmermann und Jochen Steffen heirateten am 11. Mai 1945 in Schleswig. Für das folgende Jahrzehnt war Ilse Steffen, ausgebildete Schneiderin und Modellgestalterin, wesentlich für das Einkommen der Eheleute verantwortlich und ermöglicht so ihrem Mann Studium (1946-49) und Berufsfindung. Jochen Steffen arbeitete Anfang der 50er Jahre als wissenschaftlicher Assistent und als Dozent für Gewerkschaften. Nach der Geburt des Sohnes Jens-Peter (1954) und nachdem Jochen Steffen eine Stelle als Redakteur angenommen hatte, gab seine Frau ihren Beruf auf. Sie war ihm immer eine wichtige Beraterin und verlässliche Gefährtin, gerade in Zeiten immer häufiger auftretender Erschöpfungszustände. Viele Jahre lang war sie die Fahrerin Jochen Steffens, der nie einen Führerschein besaß.[7]

Ab 1956 arbeitet Steffen bei der sozialdemokratischen Flensburger Presse – er hatte bereits 1949 mit dem Verfassen von Kolumnen und Kommentaren bei der Kieler Volkszeitung seine journalistische Tätigkeit begonnen. Neben seinem parteipolitischen Engagement wird der Journalismus immer eine wichtige politische und Erwerbsarbeit für Steffen bleiben. Nach seiner Parteikarriere war er Kolumnist beim Spiegel und der noch jungen taz.

Seine Partei: die SPD

Jochen Steffen, geprägt durch den Niedergang der Weimarer Republik und durch Nazi-Deutschland, der «Nacht des 20. Jahrhunderts», so F.O. Wolf[8], wollte beim Aufbau eines demokratischen Deutschlands mitwirken. Schon im Mai 1946 trat er in die SPD ein, eine Mitarbeit in der KPD kam für ihn, der sich als klarer Antistalinist verstand, nicht in Frage. [9] Steffen hat viele Funktionen auf Landes- und Bundesebene der SPD wahrgenommen, u.a. im Bundesvorstand. In Schleswig-Holstein war er vor allem als kämpferischer Oppositionsführer bekannt, er war Landesvorsitzender von 1965 bis 1975 und führte von 1966 bis 1973 die Landtagsfraktion.

Steffen hat seine Parteiarbeit immer an theoretisch-praktischen Prämissen ausgerichtet. In seinen beiden wichtigsten Publikationen «Strukturelle Revolution»[10] und «Krisenmanagement oder Politik?»[11] hat er sie zusammengefasst. Ausgehend von einem tiefgehenden Humanismus, basierend auf den Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität, orientiert am jungen Marx, entwickelt Steffen eine Konzeption des Demokratischen Sozialismus – aus seiner Sicht das gesellschaftliche Konzept, das einzig aus der Barbarei des Kapitalismus herausführen kann.

Konfrontiert mit den Krisen der 70er Jahre (Energie, Beschäftigung, Umwelt), sah Steffen voraus, dass jegliche Reparaturpolitik – so notwendig sie aus humanen und Gründen der demokratischen Stabilität auch aktuell immer ist – nicht die wahren Krisenursachen beheben kann. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat ihm recht gegeben.

Die Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Schaffen, von seinen eigenen Produkten, habe dazu geführt, nicht mehr im Sinne der Humanität agieren zu können. Der Mensch «unterwirft sich vielmehr den Ergebnissen seiner eigenen Tätigkeit, die ihm als scheinbar von ihm unabhängige, selbständige und selbsttätige Dinge gegenübertreten als ‚Sachfragen‘ und ‚Sachzwänge‘. Der Schöpfer wird Sklave seiner eigenen Arbeit und ihrer Produkte.»[12] Um diesen Zustand zu beenden, bedürfe es systemüberwindender Reformen: Über Strukturpolitik, Investitionslenkung und Steuerpolitik müssten sowohl öffentliche als auch private Investitionen in die Regionen und Branchen gelenkt werden, die den Grundbedürfnissen der Menschen, nicht aber dem Profitstreben der Kapitaleigner dienten. Dabei darf auch eine Vergesellschaftung von Schlüsselbereichen nicht ausgeschlossen werden. «Diese Politik des ‚Humanen Egoismus‘ entwickelt Instrumente der Gegenmacht zu den multinationalen Unternehmen, sie schafft den Menschen Freiheitsräume und Entscheidung über ihr Leben heute und morgen und ermöglicht demokratische Teilnahme.»[13] Allerdings bleibt uns Steffen Vorschläge für die von ihm geforderte Beteiligung der Menschen an der Politikgestaltung über den Wahlakt hinaus schuldig. Und auch Konzepte für eine dafür notwendige politisch-öffentliche Mobilisierung hat er nicht umfassend entwickelt.

Jochen Steffen konnte auf SPD-Bundesebene nie eine Mehrheit für seine linkssozialistischen Positionen erlangen, konnte aber unter der Ägide Willy Brandts (Parteivorsitzender 1964-1987, Bundeskanzler 1969-1974) zumindest in den 70er Jahren zu einer Öffnung der SPD nach links beitragen. Ihm selbst reichte das nicht, er legt seine Parteiämter und sein Landtagsmandat zwischen 1973 und 1979 schrittweise nieder. In einem Brief an Willy Brandt schreibt er: «Als Mensch, als Person und auch als Politiker halte ich den Widerspruch zwischen unseren Prinzipien und unserer tatsächlichen Politik – nebst ihren propagandistischen Begründungen – nicht aus.»[14]

Nach seinem Abgang von der politischen Bühne reüssiert Jochen Steffen als Kabarettist: In den 80er Jahren bis zu seinem frühen Tod 1987 kommt er auf seine früher in Kolumnen schon genutzte Kunstfigur des Werftarbeiters Kuddl Schnööf zurück und trägt «achtersinnige Gedankens und Meinungens von die sozeale Revolutschon und annere wichtige Sachens»[15] vor – in Missingsch, einer Mischform aus Hoch- und Plattdeutsch.

Was bleibt?

Auch wenn Steffen die Auswirkungen des Klimawandels, die Digitalisierung aller Lebensbereiche, das Ende der Ost-West-Konfrontation oder auch die große Bedeutung Chinas nicht voraussehen konnte, waren seine Positionen insbesondere zur Ökologiefrage, zur dauerhaften Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, zum Fetisch des wirtschaftlichen Wachstums sowie zur Entmündigung der ‚Produzent*innen‘ aller Werte treffsicher. Sie sind auch heute noch als analytisches Instrumentarium gültig und brauchbar für linke Politik. Steffen (wieder) zu lesen bzw. weiterzuentwickeln, lohnt sich. Der notwendige Bezug auf die alles beherrschende kapitalistische Produktionsweise und ihre ‚Kapitäne‘, die selbst nach massiven Krisen, staatlich-politisch gestützt, immer wieder als Sieger durchs Ziel gehen, ist aktueller denn je. Wenn man Steffens Analyseraster schließlich noch um zentrale Themen wie das Verhältnis zum Globalen Süden oder das Geschlechterverhältnis erweitert, wie F.O. Wolf es vorgeschlagen hat[16], lässt sich auch heute noch einiges von Jochen Steffen lernen.

Dabei muss sein Credo Berücksichtigung finden, dass immer auch schon der politische Prozess zur Verfolgung des Ziels des Demokratischen Sozialismus exakt die Prinzipien berücksichtigen sollte, durch die sich letztendlich diese Gesellschaftsform auszeichnet: Freiheit, Gleichheit und Solidarität.

 

Die Überschrift dieses Textes ist der Untertitel des Buches von Jochen Steffen: Strukturelle Revolution,Reinbek bei Hamburg 1974.


[1] Jochen Steffen auf dem SPD-Parteitag im Mai 1968 in Nürnberg, zitiert in: Siegfried Heimann: Hoffnungen und Enttäuschungen, in: Uwe Danker, Jens-Peter Steffen (Hrsg.): Jochen Steffen. Ein politisches Leben, Malente 2018, S. 196

[2] Vgl. dazu: Jochen Steffen: Personenbeschreibung. Biographische Skizzen eines streitbaren Sozialisten (herausgegeben von Jens-Peter Steffen), Kiel 1997, S. 258; auch: Jens-Peter Steffen: Biographie Jochen Steffen, in: Danker / Steffen, a.a.O., S. 513f; Uwe Danker: «Wir machen die Zukunft wahr» – Joachim Steffens Spur in der schleswig-holsteinischen Landespolitik, in: Danker / Steffen, a.a.O., S. 101 - 114

[3] Jens-Peter Steffen: Biographie Jochen Steffen, a.a.O., S. 542

[4]Gertrud Lenz: Ilse Steffen und der Personenbestand Jochen und Ilse Steffen im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in: Danker / Steffen, a.a.O., S. 423

[5] Jochen Steffen: Personenbeschreibung, a.a.O., S. 61

[6] Uwe Danker, a.a.O., S. 105ff

[7] Vgl. hierzu umfassend: Gertrud Lenz, a.a.O., S. 413 - 455

[8] So Frieder Otto Wolf in seinem Beitrag «Wo Jochen Steffen einfach recht hatte – und wie das heute darüber hinaus zu treiben und zu re-artikulieren ist», in: Danker / Steffen, a.a.O., S .475

[9] Jochen Steffen: Personenbeschreibung, a.a.O., S. 108ff

[10] Joachim Steffen: Strukturelle Revolution. Von der Wertlosigkeit der Sachen, Reinbek bei Hamburg 1976 (hier verwendete TB-Ausgabe, Erstausgabe 1974)

[11] Joachim Steffen: Krisenmanagement oder Politik, Reinbek bei Hamburg 1974

[12] ebd. S. 126

[13] Joachim Steffen: Krisenmanagement oder Politik, a.a.O., S. 87

[14] Gertrud Lenz, a.a.O., S. 447

[15] Jochen Steffen: Kuddl Schnööfs achtersinnige Gedankens und Meinungens von die sozeale Revolutschon und annere wichtige Sachens, Hamburg 1972

[16] Frieder Otto Wolf, a.a.O., S .487f