News | Rosa-Luxemburg-Stiftung «Jedes mal macht es klick»

Warum sich junge Leute Woche für Woche zur Marx-Lektüre treffen. Episode 12: Interview.

Lektürekurse zum «Kapital», Begleitseminare und Wochenendveranstaltungen wie die Marx-Herbstschule werden zu Bausteinen einer systematischen Auseinandersetzung mit der Kritik der Politischen Ökonomie in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Warum mühen sich vorwiegend junge Menschen mit der Lektüre eines 2.000 Seiten dicken Wälzers ab? Ein Gespräch mit zwei Kapitalkurs-TeilnehmerInnen.

Wo seid ihr gerade?
Paul: Wir können erklären, was der Mehrwert ist. Wir haben die Grundbegriffe behandelt: Wert, Geld, Kapital. Aber diese Begriffe wandeln sich ja im Verlauf der Lektüre. Kris: Wir sind bei der Fabrikgesetzgebung angekommen. Marx erklärt, wie historisch Arbeitsschutzmaßnahmen eingeführt wurden.

Warum lest ihr das Kapital?
Paul: Ich möchte gerne ein fundiertes polit-ökonomisches Wissen haben. Kris: In der Linken herrschen ja oft sehr schlichte Vorstellungen davon vor, wie der Kapitalismus so funktioniert. Mit Marx kriegt man einen differenzierteren Blick. Außerdem erklärt er auf einer wissenschaftlichen Ebene ganz grundsätzliche Zusammenhänge. Paul: Und Marx kann komplexe Zusammenhänge einfach erklären. Kris: Naja – das sind schon dicke Bretter ... Paul: Klar, aber im Gegensatz zur Volkswirtschaftslehre löst Marx die Gesellschaft nicht in abstrakte mathematische Formeln auf.

Bekanntermaßen halten ja nicht viele die Lektüre durch.
Paul: Die Hälfte bei uns ist raus. Anfangs waren wir 55 Leute, jetzt sind wir noch etwa 25. Aber es sind einige dabei, die schon mal angefangen hatten. Manche brauchen einfach mehrere Anläufe, weil es zum Beispiel gerade zeitlich nicht ins Leben passt.

Warum seid ihr noch dabei?
Kris: Qualifizierte Angebote sind rar. Ich halte auch deshalb durch, weil es attraktiv ist, in der Gruppe zu lesen und zu diskutieren. Alleine würde ich das nicht machen. Das ist, wie mit dem Hund rauszugehen. Ohne Hund würde man sich wohl nicht so oft an die frische Luft begeben. Paul: Die Gruppe diszipliniert. Wenn ich Leute aus dem Kurs auf der Straße treffe, tauschen wir uns darüber aus, ob wir schon für das nächste Mal gelesen haben.

Ihr habt zwei Teamerinnen, die durch den Kurs führen. Vieles erarbeitet ihr euch aber auch selbst, in Kleingruppen.
Kris: Über die Methode gibt es immer wieder Diskussionen. Die einen wollen lieber Input «von vorne», Frontalbeschallung, das sind meist die mit Vorwissen, Philosophiefreaks. Die anderen finden es gut, dass viele Fragen untereinander geklärt werden. Dazu gehöre ich. Der Lerneffekt ist größer.

Was sind die Highlights des Kurses?
Kris: Die Begleitseminare mit externen ReferentInnen, die einzelne Themen vertiefen oder andere Aspekte aufgreifen, die Geschlechterverhältnisse beispielsweise, die historische Rezeption, die Entstehung des Werks, die Krise. Und gut sind auch die Momente, wo es richtig klickt, wo einem richtig was aufgeht. Paul: Und das ist in jeder Sitzung so. Spannend finde ich die Parallelen zur heutigen Zeit, etwa bei der Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich. Nach Marx ist das eine Methode der absoluten Mehrwertsteigerung des Kapitalisten. Kris: Mich treibt die Frage um: Was sind echte Errungenschaften von sozialen Kämpfen – und was dient doch nur der Optimierung der kapitalistischen Verhältnisse. Da sind wir uns in der Bewertung oft nicht einig. Die Rolle des Staates dabei finde ich interessant.

Was bringt die Lektüre für die politische Praxis?
Paul: Man sollte zum Beispiel ein anderes Verständnis von Arbeit gewinnen und gegen die Ökonomisierung der Menschen angehen. Der Arbeiter ist ja nur Mittel zum Zweck. Dem Zweck, Profit zu machen. Da würde ich ansetzen. Kris: Der Kapitalismus lässt sich nicht dauerhaft einhegen. Er bleibt immer instabil, wie die aktuelle Krise zeigt.

Ihr habt noch zweieinhalb Bände vor euch. Haltet ihr durch?
Paul: Soweit will ich jetzt noch nicht denken. Erst mal den ersten Band, dann vielleicht noch nach den Sternen greifen. Für mich wäre das die Extrarunde mit dem Hund. Kris: Ich werde den ersten Band wohl noch einmal lesen, werde mir aber auf jeden Fall alle drei Bände vornehmen. Die einzelnen Bände sind ja nicht wie Harry Potter, für sich abgeschlossene Storys. Sie bauen aufeinander auf. Also eher Herr der Ringe.

DIE FRAGEN STELLTE SABINE NUSS, REFERENTIN FÜR POLITISCHE ÖKONOMIE IN DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG