Die Vorstellung von Videospielen in der Öffentlichkeit ist bis heute sehr einseitig: die Protagonisten sind muskelbepackte Männer, die mit Waffengewalt für «das Gute», also westlich-geprägte Werte vor verschiedenen geopolitischen oder historischen Schauplätzen kämpfen. Der grundlegende Konflikt, auf den die Geschichten aufbauen, dient oft nur der Rechtfertigung von Gewalt. Es gibt keine inhaltliche Auseinandersetzung mit imperialistischen, rassistischen oder toxisch-maskulinen Strukturen, die sie aufgreifen, eher werden sie genau dadurch reproduziert. Frauenfiguren treten selten bis gar nicht als handelnde Charaktere auf, sondern werden objektiviert als Motivation oder Ziele, die der Protagonist erobern oder beschützen kann oder muss.
All dieser Problematiken zum Trotz sind diese Spiele sehr erfolgreich und ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftszweig. Für die Produktion dieser Titel, wie zum Beispiel die Spiele der «Call of Duty»-Reihe, werden oft Budgets im zwei- bis dreistelligen Millionen Bereich aufgebracht, begleitet von riesigen Werbekampagnen spielen sie häufig ein zigfaches ihrer Produktionskosten wieder ein.
Lisa Passing ist Programmiererin und Creative Technologist. Sie arbeitet an den Schnittstellen von Technik und Kultur, baut Videospiele und ist seit vielen Jahren in der Indie-Gameszene aktiv.
Natürlich treffen nicht alle diese Überspitzungen auf Videospiele mit großen Budgets zu. Die vergleichsweise neue «The Last of Us»-Reihe punktet zum Beispiel mit ungewöhnlichen Beziehungen und Dynamiken zwischen den Protagonist:innen, im zweiten Teil schlüpfen die Spieler:innen sogar in die Rolle einer queeren Frau. Auch diese Spiele sind finanziell erfolgreich, halten sie doch an vertrauten, Waffen basierten Spielmechaniken fest. Aber trotzdem, sie stellen bereits die Ausnahme der Regel dar.
Warum gibt es nicht mehr Spiele, die sich trauen auch nur ein bisschen vom Status quo abzuweichen, wenn sie ebenfalls finanziell erfolgreich sein können? Kurzum, das wirtschaftliche Risiko und Erfolgsdruck für Studios ist enorm, die Budgets dürfen nicht in den Sand gesetzt werden. Deswegen stützen sie sich auf bewährte Erfolgskonzepte und auf die kaufkräftige Zielgruppe erwachsener Männer, die sich in den spielbaren Protagonisten wiederfinden wollen. Und deswegen bleibt die Videospiellandschaft im AAA-Bereich (sprich «Triple-A», die großen Blockbusterspiele) weiterhin homogen, propagiert überholte Geschlechterrollen und antifeministische Werte, mit seltenen, geringfügigen Ausnahmen.
Trotzdem lohnt es sich Videospiele im Auge zu behalten. Abseits des sehr stark kapitalistisch-kommerziellen Mainstream blüht die unabhängige Spieleszene, die sogenannte Indie-Szene. Dort entfaltet sich das Potential, das Videospiele als Medium tatsächlich besitzen.
Spielen und Spiele machen
Analog zur Freien Szene im Theater oder der Film- und Musikindustrie gibt es auch um das Medium Videospiel eine kreative und nicht zwangsläufig an finanziellem Erfolg interessierte Landschaft. Es geht darum Geschichten zu erzählen, Erfahrungen zu teilen, Neues zu lernen und dabei die Chancen des Mediums zu erkunden und zu nutzen.
Im Gegensatz zu Film, Musik und Literatur, die ebenfalls als Kommunikationsmittel dienen, sind Videospiele unumgänglich mit Interaktivität verbunden. Spieler:innen greifen in die Geschichte ein und werden direkt mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen und Aktionen konfrontiert. Die Barrieren der Immersion, des Eintauchens und sich Verlierens, sind durch Zusammenwirken von audiovisuellen Reizen und eigenem Handeln geringer, Spieleerfahrungen fühlen sich wie richtig gelebte an. Es ist gar nicht ungewöhnlich, dass Videospiele Menschen in ihren Bann ziehen. Sie erfüllen alle Bedingungen von Spiel als Lern- und Wachstumskonzept mit dem Bonus nicht nur an die eigene Lebensrealität gekoppelt zu sein.
Umso nachvollziehbarer ist dann wiederum der Drang die eigene Lebensrealität für andere erlebbar zu machen und sich im Medium auszutoben. Spiele wie Minecraft, die einen Sandkasten und Bausteine zur Verfügung stellen und der Kreativität der Spieler:innen Freiraum lassen, sind in ganz unterschiedlichen Ziel- und Altersgruppen beliebt. Unter anderem auch, weil das Spiel zum Werkzeug umfunktioniert wurde, zum Beispiel um Grundlagen der Programmierung zu erklären.
Wenn Spiele nicht zu ihrer Konsumierung, sondern auch zum Schaffen einladen, dann nähern wir uns einem der wichtigsten Ziele der Demokratisierung des Mediums Videospiel. Ein Spiel zu schreiben ist nicht trivial, es braucht viele unterschiedliche Fähigkeiten und viel Zeit und Arbeit. Glücklicherweise gibt es eine große Community die Werkzeuge für unterschiedliche Vorkenntnisse schreibt. Die Idee ist es, Barrieren zum Medium zu verringern und es mehr Menschen zu ermöglichen, ihre eigenen Geschichten spielerisch zu erzählen.
Ganz vorne stehen hier die kostenlosen, Browser basierte Tools Twine, zum Schreiben interaktiver Geschichten, und Bitsy, mit dem sich kleine 2D-Spiele in Pixelgrafik erstellen lassen. Beide setzen keine Programmierkenntnisse voraus und können online mit anderen geteilt werden.
Wer die entsprechenden Fähigkeiten besitzt oder aneignet kann dann natürlich ausgefeiltere Spiele realisieren, entweder allein oder im Team. Und so ist die Indie-Szene bunt zusammengesetzt: Hobby-Entwickler:innen, kleine Teams und Studios, Queereinsteiger:innen und Ehemalige aus der AAA-Branche. Für sie alle steht im Vordergrund ihre eigenen Ideen zu verwirklichen, aber auch sich gegenseitig zu unterstützen und zu ermächtigen.
Spiele von vielen für viele
Es ist die Mischung vieler Perspektiven, die langsam aber sicher Barrieren der Zugänglichkeit zum Medium abbauen und damit zur Demokratisierung beitragen. Wir brauchen diese Umwälzung damit Videospiele ihr volles, gesellschaftlich relevantes Potential entfalten können.
Denn eigentlich spielen wir alle, wir spielen nur unterschiedlich und wir würden dementsprechend unterschiedliche Spiele erfinden. Abseits von stereotypen, toxischen und diskriminierenden Spielen, die gerade den Markt beherrschen, können mehr Spiele für unterschiedliche Gruppen und ihre Wünsche und Bedürfnisse entstehen, sie können andere Lebensrealitäten erfahrbar machen, problematische Strukturen aufdecken und Empathie stärken.
Und so gibt es einige Spiele, die sich der Stärke ihres Mediums bewusst sind, und beeindruckende Geschichten erzählen und uns ins Grübeln bringen.
«Bury me my love» lässt uns in die Schuhe einer syrischen Frau auf ihrer Flucht nach Europa schlüpfen. Wir interagieren mit ihrer Familie und Freunden durch Chats auf ihrem Telefon und erfahren, warum sie sich auf den Weg gemacht hat und was sie dabei durchlebt.
Ein ähnliches Motiv, aber von der andern Seite zeigt uns «Papers, Please», in dem wir als Grenzbeamter in einem fiktiven autokratischen Staat über Ein- und Ausreise von Menschen entscheiden. Für die Spieler:in ist es, im wahrsten Sinne des Wortes, ein (Puzzle-) Spiel und Balanceakt dazwischen, ein Rad im System zu sein, persönlichen Vorteil auszubauen und über Schicksale anderer Menschen zu entscheiden.
Neben sehr offensichtlich politisch motivierten Spielen geht es aber auch oft um Selbstbestimmung und die Auseinandersetzung mit Diskriminierung oder Themen wie mentaler Gesundheit. Bei «Say No! More» lernen wir persönliche Grenzen zu ziehen und ganz schlicht «Nein» zu zusätzlicher, unbezahlter und emotionaler Arbeit zu sagen. Wie es ist sich als Schwarze Frau gegen Belästigung in der weißen Mehrheitsgesellschaft verteidigen zu müssen, durchleben wir in «Hair, nah». In «Consume Me» navigieren wir durch die Welt mit einem ungesunden Fokus auf Essen, Schönheitsideale und Diäten. Dies ist nur ein kleiner, persönlicher Einblick in die facettenreiche Fülle von Spielen, die es zu entdecken gibt und die einen Perspektivwechsel ermöglichen.
Dass es sich lohnt, in Spiele auch als Lehr- und Bildungsmittel zu investieren, hat der Fernsehsender Arte bereits verstanden und startete eine eigene Videospiel-Sparte. Neben dem oben genannten «Bury me my love» finden sich in der Liste der Veröffentlichungen auch technisch oder ästhetisch ausgefallene Titel, oder solche, die sich respektvoll mit anderen Kulturen und deren Folklore auseinandersetzen.
Ein besonders interessantes Projekt namens «Call of Prev» befindet sich gerade in der Umsetzungsphase und wird durch das Staatsministerium für Kultur und Medien gefördert: Hier wird ein quelloffenes Spiel für Präventionsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickelt, das verschiedene Arten von Menschenfeindlichkeit thematisiert. Der besondere Kniff ist, dass die Jugendlichen sich ihre eigenen Level bauen können und so persönliche Erfahrungen für andere spielbar machen, sie können sich durch das Medium Spiel ausdrücken und untereinander austauschen.
Abseits der Markt dominierenden Videospiele, deren inhaltliche Entwicklungen größtenteils zum Stillstand gekommen sind und deswegen bis heute stereotype und diskriminierende Titel veröffentlichen, gedeiht die unabhängige Indie-Szene. Dort finden sich kreative und progressive Spiele, die sich die Konzepte des spielenden Lernens und des Geschichtenerzählens zu Nutzen machen, um persönliche Erlebnisse zu teilen und uns für Themen außerhalb unserer eigenen Bubble zu sensibilisieren.
Es ist wichtig, dass wir das Potential von Videospielen verstehen und es für eine offene, empathische und feministische Welt einzusetzen wissen und das Spielfeld nicht den kapitalistisch, patriarchalen Strukturen überlassen.