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Vor zehn Jahren starb Eric Hobsbawm, der eigensinnige Marxist und weltberühmte Historiker

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Florian Weis,

Eric Hobsbawm.
Bild: picture alliance / akg-images / Purkiss Archive / A

Eric Hobsbawms marxistisch geprägte Interpretationen des «langen 19. Jahrhunderts» (1789–1914) und des «kurzen 20. Jahrhunderts» (1914–1991) machten ihn zu einem weltberühmten Historiker. Als er am 1. Oktober 2012 in London im Alter von 95 Jahren starb, fielen die Nachrufe entsprechend positiv aus. Auch wenn manche Betrachter*innen seine Bedeutung relativieren wollten oder ihn für eine ihres Erachtens zu unkritische Sicht auf den Kommunismus sowjetischer Prägung kritisierten: Hobsbawm galt als herausragender Denker mit seinem Blick auf das weltweite Geschehen und originellen Zugängen.

Vor allem sein 1994 erschienenes Buch «Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts» machte ihn auch in Deutschland zu einem der großen Deuter der jüngeren Geschichte. Kurz danach erschien das Buch des französischen Historikers François Furet«Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert» und fand als konkurrierende, antikommunistische Großdeutung enorme Beachtung. Bereits in Hobsbawms letzten Lebensjahren zeichnete sich jedoch Furets weitaus geringere Bedeutung ab.

Zeitzeuge und Vermittler

Eric John Ernest Hobsbawm wurde am 9. Juni 1917 in Alexandria in Ägypten als Kind eines britisch-jüdischen Vaters (Leopold Percy Hobsbaum, ursprünglich Obstbaum) und einer österreichisch-jüdischen Mutter (Nelly Grün) geboren. Im Sinne von Issac Deutscher definierte er sich in seiner Autobiographie «Gefährliche Zeiten» als «nichtjüdischer Jude». Seine Kindheit verbrachte Eric Hobsbawm größtenteils in Wien, ehe er nach dem frühen Tod beider Eltern 1931 zu Verwandten nach Berlin zog. Wien, die multinationale ehemalige Hauptstadt des Habsburger Reiches, beeinflusste ihn vor allem kulturell. Seine vergleichsweise kurze Zeit in Berlin war für den jungen Hobsbawm dagegen politisch prägend; er wurde hier in den Endjahren der Weimarer Republik zum Kommunisten.

Dr. Florian Weisist Historiker, Referent für Demokratie und Migration am IfGder RLS und Mitglied u.a. des Gesprächskreises Geschichteder RLS.

Mit seinen Verwandten siedelte Hobsbawm 1933 nach Großbritannien über. Als britischer Staatsbürger war das – wiewohl er Jude und Kommunist war – auch ohne Flucht möglich. Er konnte in Cambridge studieren, obwohl sich seine Familie seit der Wiener Zeit in angespannter finanzieller Lage befand. Dort schloss er sich sowohl der elitär-exzentrischen Diskussionsgruppe der «Apostel» als auch der Kommunistischen Partei an. Während des Zweiten Weltkriegs diente er erst im Pionierkorps und anschließend im «Army Educational Corps». Wie Hobsbawm arbeiteten viele Linke in Bildungs- und Schulungsfunktionen der britischen Streitkräfte, was ein wenig dazu beigetragen haben mag, dass die Angehörigen der Streitkräfte bei den Wahlen 1945 überproportional stark für die siegreiche Labour Party stimmten. Früh zeigte sich, dass Hobsbawm an einer breiten Wissensvermittlung über die akademische Welt hinaus interessiert war.

Aufstieg von den Rändern her

Nach dem Krieg kehrte Hobsbawm nach Cambridge zurück, aber seine akademische Karriere kam dort nur schleppend voran. 1947 ging er ans Londoner Birkbeck College, dem er jahrzehntelang verbunden bleiben sollte. Birkbeck war damals weit davon entfernt, zum elitären akademischen Zentrum der Colleges in Oxford und Cambridge zu zählen. Doch Hobsbawm war nicht der einzige britische Historiker, der von den Rändern der akademischen Welt aus langsam zu großer Bedeutung und Reputation gelangte. Auch wenn er einer Karriere in den beiden Eliteuniversitäten kaum abgeneigt gewesen sein dürfte, öffnete Birkbeck ihm doch die Türen auch zu geschichtsinteressierten Menschen, die sich in Abendkursen weiterbilden wollten – keine schlechte Grundlage für einen Historiker der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung.

In gewisser Weise blieb Hobsbawm ein akademischer Außenseiter, jedoch ein zunehmend geachteter, prominenter und als Autor auch international ausgesprochen erfolgreicher. Seit den 70er Jahren nahm ihn schließlich auch das britische Kulturestablishment auf, was ihm keineswegs unlieb war. Gastprofessuren, seine regelmäßige Tätigkeit an der New School in New York, Vorträge und Publikationen machten ihn einer akademischen ebenso wie einer breiteren Leserschaft bekannt, in so unterschiedlichen Ländern wie Brasilien (wo der frühere und eventuell künftige Präsident Lula da Silva von ihm beeinflusst wurde), Indien und den USA.

Hobsbawm wurde also zu einem einflussreichen öffentlichen Intellektuellen, der bis heute als methodisch, regional und thematisch außerordentlich breit aufgestellter Historiker herausragt. Für ihn war Geschichte nie nur nationale oder europäische Geschichte. Lange bevor etwa der mittlerweile überstrapazierte Begriff des Eurozentrismus aufkam, berücksichtigte Hobsbawm in seinen zahlreichen Werken neben Europa auch Lateinamerika, Nordamerika ebenso wie Nordafrika und große Teile Asiens. Sein Blick reichte auch über den des Historikers hinaus: Viele Jahre war er nebenberuflich als Zeitungskritiker tätig, hegte eine ausgeprägte Vorliebe für den Jazz und befasste sich etwa mit «Räubern als Sozialrebellen». Dass ihm jenes Buch über «Banditen» auch die Kritik einbrachte, er sei einer sozialromantischen und damit unmarxistischen Sichtweise erlegen, hat ihn wenig gestört.

Mehr Gewicht hat hingegen der Vorwurf, dass Hobsbawm den neuen feministischen Bewegungen seit den 60er und 70er Jahren sowie ihren historischen Forschungsansätzen wenig Verständnis entgegenbrachte. Sie schienen ihm, der Klassenfragen und die Erwerbsarbeit für den zentralen Ausgangspunkt marxistisch inspirierter Geschichtswissenschaft, Gesellschaftsanalyse und Politik hielt, zu sehr auf Identitätsfragen auszuweichen. Diese Haltung brachte ihn auch in Konflikt mit manchen seiner Studierenden, die ihn ansonsten als akademischen Lehrer außerordentlich schätzten. Ähnlich fiel auch sein Unverständnis gegenüber anderen Ausprägungen der Linken im Gefolge der 1968er Bewegungen und an popkulturellen Trends aus. Für ihn blieben etwa der Jazz und die Opernmusik die zentralen musikkulturellen Bezugspunkte.

Parteimitglied mit eigenem Kopf

Hobsbawm blieb der britischen Kommunistischen Partei (CPGB)fast bis zu ihrer Auflösung 1991 als Mitglied verbunden, weit länger als manche seiner Genoss*innen, die sich nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 von der CPGB ab- und der «New Left» zugewandt hatten. Jedoch gehörte Hobsbawm nie zu den besonders aktiven und linientreuen Parteimitgliedern. Die kritische Sicht des Parteiapparates auf den eigenwilligen und gerade in den 50er Jahren bohemienhaften Hobsbawm lassen sich durch die intensive Abhörpraxis des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 belegen, wie Richard Evansin seiner Biographie «A Life in History» gezeigt hat.

Während die Überwachung der Kommunistischen Partei durch britische Behörden also nicht weniger intensiv ausfiel als in anderen westeuropäischen Ländern, kam es dort nie zu einem Parteiverbot oder einer systematischen Berufsverbotspraxis wie in der Bundesrepublik Deutschland. Politisch war die CPGB nach 1950 wenig erfolgreich, doch brachte sie eine bemerkenswerte Zahl brillanter Historiker*innen hervor, die sich um die - bis heute erscheinende - sozialhistorische Zeitschrift «Past & Present» herum sammelten. Genannt sei hier nur exemplarisch E. P. Thompson, der als einflussreicher Historiker etwa zur «Entstehung der englischen Arbeiterklasse» geforscht hatte und berühmt geworden war. Mit Hobsbawm verbanden ihn viele Gemeinsamkeiten, aber auch eine spürbare Rivalität.

Politisch orientierte sich Hobsbawm zunehmend an der italienischen Kommunistischen Partei (PCI) und am Eurokommunismus. Mit dem späteren italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitanoetwa verband ihn eine langjährige Freundschaft. Für die in den 80er Jahren einflussreiche Zeitschrift «Marxism Today» steuerte er eine Vielzahl von Artikeln bei, wobei er dort schon 1978 in einem wegweisenden Text vermutete, dass der Aufstieg der klassischen Arbeiter*innenbewegung an sein Ende gekommen sei («The Forward March of Labour Halted?»). Auch neue Spaltungslinien innerhalb der Arbeiter*innenschaft, sei es zwischen Facharbeiter*innen und Sozialleistungsempfänger*innen oder zwischen zugewanderten und bereits länger einheimischen Arbeiter*innengruppen, thematisierte Hobsbawm frühzeitig: Für ihn waren es der Bedeutungs- und Machtverlust der traditionellen Arbeiter*innenorganisationen und ihre demzufolge nachlassende Bindungs- und Immunisierungskraft, welche die Arbeiter*innen verstärkt für eine rassistische Rechte anfällig machten.

Damit griff er vielen Diskussionen um den Rechtsruck im Arbeiter*innenmilieu vorweg. Aber als Kronzeuge für manche heutige «liberal-progressive» Bewertung, die rechte und rassistische Haltungen hauptsächlich als ein Problem von Arbeiter*innen ausmacht und dabei die Anfälligkeit der eigenen bürgerlichen Milieus gerne übergeht, kann er nicht herangezogen werden. Hobsbawm war überzeugt, dass diese immer vorhandene Anfälligkeit für regressive Positionen durch die Konzentration auf den Klassenkonflikt, Wertschätzung der industriell-manuellen Arbeit, Identifikation mit den eigenen Organisationen und politische Bildungsarbeit eingehegt werden konnte.

Obgleich er sich Zeit seines Lebens als Marxist verstand und auch nicht pauschal von den kommunistischen Hoffnungen abwenden mochte, wurde er als Zeitanalytiker und Intellektueller auch von zentristischen Modernisierer*innen in der Labour Party wie Neil Kinnockoder Gordon Brown, mit dem die Hobsbawm-Familie befreundet war, hoch geschätzt. Bewundert von Lula da Silva oder Michael Foot, präsent in marxistischen Zeitschriften bis in die bürgerlichen Feuilletons, von interessierten Laien bis in die fachwissenschaftliche Welt wahrgenommen – Eric Hobsbawm war in den letzten Jahrzenten seines langen Lebens zu einer Instanz geworden, dessen Werke auch nach seinem Tod bedeutsam bleiben.

Dieser Text erschien zuerst in der Tageszeitung ndvom 1./2. Oktober 2022.