News | Soziale Bewegungen / Organisierung - Libanon / Syrien / Irak Sadr City: Eine Stadt zwischen Nähe zur Macht und «Stadt der Revolution»

Ein Gespräch mit irakischen Aktivist*innen

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Ansar Jasim,

Der Tahrir-Tunnel in Bagdad während der Proteste im November 2019
Der Tahrir-Tunnel in Bagdad während der Proteste im November 2019. Das Tuktuk-(Bild in der Mitte) ist eines der typischen Fortbewegungsmittel in Sadr City. Während der Proteste wurde es zum Symbol für Widerstand und zum Ausdruck der Rolle der irakischen Unterschicht in der Tashrin-Bewegung. Foto: Ansar Jasim

Ein Großteil der Protestierenden des Oktober Aufstands 2019 in Bagdad kommt aus dem Bagdader Stadtteil Sadr City. Seine Bewohner*innen sind als politische Akteure sehr präsent, zuletzt etwa mit der Besetzung des Parlaments Anfang August 2022. Im öffentlichen Diskurs werden sie jedoch vor allem als willige Gefolgsleute von Muqtada al-Sadr (Sadristen) und Mitglieder von Milizen dargestellt, womit enorme Gewalt gegen sie – insbesondere durch die US-geführte Besatzung und die ehemalige Zentralregierung unter Nouri al-Maliki – gerechtfertigt wurde. Ansar Jasim hat mit Aktivist*innen aus zwei linken Bewegungen gesprochen, die sich im Zuge der Tashrin-Bewegung[1] von Oktober 2019 gegründet haben und die in Sadr City aufgewachsen und aktiv sind.

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

JJ ist Mitglied von «Workers against sectarianism» (WAS), die Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung sind. In ihrem Podcast «A Girl from Sadr City» spricht sie über die Situation im Stadtteil.

Jamal Al-Sayigh ist Mitglied von «Harakat al-Aml» (Arbeiter*innen-Bewegung), eine Organisation, die als Reaktion auf die elitistische Herangehensweise der linken etablierten Parteien im Irak gegründet wurde. Diese haben nach Ansicht von «Harakat al-Aml» weder eine Antwort auf die Krise, noch sind sie bereit, von den Menschen in den Massenprotesten zu lernen.

Ansar Jasim: JJ, in deinem Podcast sagst du, dass du eine «Stimme aus Bagdad» bist. Warum stellst du dich so vor?

JJ: Weil Bagdad nicht so gehört wird, wie es gehört werden sollte. Es gibt überhaupt keine Stimmen, die draußen gehört werden, geschweige denn die von Frauen. Ich versuche mit wenigen Mitteln der irakischen Straße eine Stimme zu geben. Den Podcast als Format habe ich gewählt, weil es mehr Gefühl transportiert. Menschen außerhalb des Irak wissen nicht wirklich, was hier passiert. Was nach außen dringt, ist oberflächlich und vereinfacht. Meist geht es um den IS, um Terrorismus oder Konfessionalismus.

Ich versuche also, im Kleinen eine Vorstellung davon zu vermitteln, dass es nicht lediglich um Töten, Entführungen oder Ähnliches geht. Ich spreche über die Realität in meiner Stadt Sadr City. Darüber, welche Formen von Kontrolle es hier gibt, jenseits des Staates. Für mich als Frau bedeutet das totale Kontrolle über zivilgesellschaftliche Organisationen und Akteure.

In einer Folge erzähle ich von einem Mädchen, einer meiner Freund*innen, die von ihrem Bruder getötet wurde – in der Straße, in der ich den Podcast aufnehme. Die Zuhörer*innen müssen die Umstände der Aufnahme verstehen, um den Inhalt begreifen zu können und woher wir kommen. Manchmal finde ich es sinnvoll, bei meiner Arbeit aufzunehmen und manchmal in meinem Zimmer in «al-Madina»[2]. Wenn ich hier aufnehme, dann geht es mir auch darum, mit der Aufnahme selbst, die Umstände und die Geschichte zu verewigen. Es ist nicht nur wichtig, dass ich aufnehme, sondern auch wo ich aufnehme. Denn diese Umstände haben den Podcast ja erst hervorgebracht.

Da ist also eine gewisse Dialektik zwischen dem Ort und dem Inhalt.

JJ: Das Thema Frauen und Milizen wollte ich in der Straße, in der Frauen von Milizen umgebracht wurden, aufnehmen. Eines der ermordeten Mädchen kannte ich gut, wir sind gemeinsam diese Straßen entlanggelaufen, wir haben rumgehangen, gemeinsam geweint. Sie wurde umgebracht und ich lebe. Ich möchte diesen Frauen Raum geben im Podcast. Das Narrativ zu kontrollieren, heißt auch, ihnen eine Form von Leben zu geben.

Beim Aufnehmen spreche ich alleine mit mir selbst, oft verarbeite ich dann erst, was passiert ist. Ich erzähle etwa über die Zeit der konfessionellen Kämpfe, das ist Teil meiner Kindheit und aller Menschen hier in al-Madina. Ich war damals sieben oder acht Jahre alt. Über das Erzählen erlebst du das Ganze noch einmal und du kehrst zum Ort des Geschehens zurück. Wenn ich mit Menschen spreche, um ihre Geschichten zu erfahren und festzuhalten für den Podcast, dann übertrage ich ihre Erlebnisse und ihre Emotionen. Wir brauchen Raum, um unseren Geschichten Geltung zu verschaffen. Gerade beim Thema Feminizide wird uns oft die Deutungshoheit genommen. Es heißt dann, das Mädchen hätte Selbstmord begangen. Ich versuche, dem Narrativ der Milizen etwas zu entgegnen. Jede Folge ist für mich ein Teil eines Puzzles. Zusammen werden sie ein Bild.

Was ist das Gesamtbild, was du versucht zu malen?

JJ: Der Podcast soll ein Forum für marginalisierte Stimmen sein. Als Frau fühle ich mich solidarisch mit allen marginalisierten Gruppen. Homosexuelle zum Beispiel können in al-Madina nicht atmen. Ihr Leben steht still. Stell dir vor, du hast so viel Angst, dass du dich nicht mehr auf die Straße traust. Für mich ist der Podcast also eine Art Widerstand gegen die herrschenden Akteure. Er ist aber auch Ausdruck von Stolz: Es gibt so viele Vorurteile. Wenn Menschen hören, dass eine Frau wie ich aus al-Madina ist, dann erstaunt sie das.

Der Podcast ist Teil von «Workers against sectarianism», die im Zuge des Tashrin-Aufstands gegründet wurden. Welche Bedeutung hat Tashrin für dich?

JJ: Es gibt immer einen Grund für Revolution. Viele Menschen sagen heute, dass sie durch Tashrin inspiriert wurden. Aber für uns in Sadr City sind viele Aspekte der damaligen Revolutionsbewegung Teil unseres Alltags. Vor allem die Gewalt. Wenn du im Irak aufgewachsen und in meinem Alter bist, dann wirst du den meisten Teil deines Lebens gegen die Umstände hier rebelliert haben. Es gibt ständig Proteste. Die Leute haben keine Jobs, keinen Strom, kein Wasser, keine Rechte, keine Gerechtigkeit. Tashrin reiht sich da ein, nur, dass wir diesmal viel mehr waren. Das war die wahre Inspiration. Wir haben die Revolution erlebt. Gleichzeitig ist seitdem nichts passiert. Wir wurden gehört, gesehen, anerkannt – und seitdem wird die Situation nur schlechter. Der Rücktritt von Ministerpräsident Adil Abdelmahdi[3] hat keinen Wandel gebracht. Was wir also durch Tashrin eigentlich herausgefunden haben, ist, dass wir unwichtig sind.

Was Bagdad angeht, waren ja viele von den Protestierenden aus al-Madina und sind als politische Subjekte mit Forderungen aufgetaucht, die das Leben in Bagdads Innenstadt für fast ein Jahr lang lahmgelegt haben. Die Protestplätze waren geschlechterdurchmischt und es fand eine politische Auseinandersetzung statt, die so in al-Madina nicht möglich ist. War das merkwürdig für dich?

JJ: Es war keine Überraschung, dass die Leute aus al-Madina an den Demonstrationen teilnehmen – das tun sie immer. Denn das Leben hier ist total hart. Auf den Protestplätzen hat mit der Geschlechterdurchmischung etwas stattgefunden, das noch vor einer Generation total normal war, bis Dschaisch al-Mahdi (die «Mahdi-Armee») die dominante Kraft wurde und Religion einen neuen Stellenwert erhalten hat.
Dass die Leute aus al-Madina an vorderster Front standen, heißt eben auch, dass sie es sind, die den großen Preis in den Tashrin-Mobilisierungen gezahlt haben.

Wie ist der Stadtteil Sadr City historisch entstanden?

Jamal: Es war das Ende der Feudalzeit und der Beginn der vorkapitalistischen Strukturen, was dazu geführt hat, dass viele Bäuerinnen und Bauern auf dem Land nicht mehr überleben konnten. Sie sind nach Bagdad gekommen und haben dann mitten in der Stadt gesiedelt, samt der Wasserbüffel, die sie traditionell im Süden gehalten hatten. Das verärgerte die urbanen Autoritäten, die ein modernes Bagdad aufbauen wollten – die Kultur der ländlichen Gebiete gehörte für sie nicht dazu.

Der Name dieses Ortes hat sich ja schon viele Male geändert …

JJ: Ursprünglich wurde er als die «Stadt der Revolution» (Madinat al-Thawra) 1958 von General Abdelkarim Qasim gegründet, der kurz zuvor am 14. Juli die Macht errungen hatte. Dann wurde er durch Saddam Hussein zu «Saddam City» umbenannt, und seit 2003 heißt er «Sadr City». Trotz der Änderungen benutzen viele Bewohner*innen immer noch den ursprünglichen Namen, Madinat Al-Thawra.

Jamal: Die Flucht vom Land in die Stadt erzeugt auch eine neue gesellschaftliche Situation. Es wurden andere gesellschaftliche Autoritäten, wie etwa der Scheich des Stammes, mitgebracht. Tatsächlich spielen diese bis heute in al-Madina eine Rolle, über 50 Jahre nach dieser Migration. Das hängt auch damit zusammen, dass Madinat Al-Thawra räumlich von Bagdad isoliert wurde. Sie liegt am nördlichen Stadtrand, einem Ort der damals sehr weit weg war vom Bagdader Stadtzentrum.