News | Geschichte Im Schlafwagen zur Macht

Vor 100 Jahren begann der faschistische «Marsch auf Rom»

Mit der Ernennung Benito Mussolinis zum Ministerpräsidenten und der Machtergreifung der «Fascisten» endete am 30.Oktober 1922 der «Marsch auf Rom». Die faschistische Bewegung und ihr Regime geriet zum Vorbild einer militanten Rechten im 20. Jahrhundert, auch des Nationalsozialismus, ihr Sieg zum Menetekel der Linken. Eine Flamme, die aus Mussolinis Sarg lodert, ist das Symbol jener Partei, deren Vorsitzende 100 Jahre später Chefin einer Regierung wird, die sie ihr «squadre» nennt.

Genosse Mussolini

Den Faschismus definieren hieße zuallererst, seine Geschichte zu schreiben, betonte Angelo Tasca, einer seiner wichtigsten Chronisten. (Tasca: 374) Die Geschichte des «Fascismus» beginnt als Sammlungsbewegung linker Befürworter des Kriegseintritts Italiens, organisiert durch Benito Mussolini. Als Führer militanter Streikaktionen gegen den italienischen Kolonialkrieg in Libyen war er 1912 zum charismatischen Führer des radikalen Flügels der Sozialisten aufgestiegen. «Nieder mit dem Krieg!» forderte er noch bei Kriegsbeginn 1914. Die sozialistische Partei Italiens stand mehrheitlich gegen den Krieg, während sich die meisten Parteien der sozialistischen Internationale als Propagandistender Kriegspolitik der jeweiligen Länder betätigten. Ihre Vertreter wie Emile Vandervelde, damals Vorsitzender der Internationale, reisten mit Berichten über Gräueltaten der deutschen Eroberer, die in Belgien angeblich Säuglingen die Hände abhackten, durch Italien und zeigten sich stolz über die Wirkungen auf die italienische Öffentlichkeit – und auf Mussolini. (Morelli: 64)

Das «Gesetz der Solidarität» verlange, dass das italienische Proletariat sein Blut für die Brüder im Belgien und im Frankreich der Menschenrechte und der Revolution vergieße, forderte Mussolini. (Mussolini: 19) Am 18. Oktober plädierte er öffentlich für den Kriegseintritt und wurde aus der Partei ausgeschlossen, im Dezember 1914 gründete er in Mailand die «Fascio d'azione rivoluzionaria». Vom Krieg erhoffte er sich, wie sein Lehrer Georges Sorel, eine Revolutionierung der Nation. In einem «nationalen Syndikalismus» sollten Sozialismus und Patriotismus zu einem sozialimperialistischen Konzept verbunden werden. (Freund: 295)

Erhard Korn war bis zur Pensionierung Rektor der Blankensteinschule Steinheim. Er ist aktiv in der Erwachsenenbildung, der Rosa Luxemburg Stiftung und im Vorstandsbereich Grundsatzfragen der GEW Baden-Württemberg. Er schreibt über Rechtspopulismus, Bildungspolitik, Kolonialismus und Arbeiterbewegung.

Schon seit dem 15. November konnte Mussolini mit Unterstützung etwa des nationalistischen und industrienahen Herausgebers der Mailänder Tageszeitung «Resto del Carlino» seine eigene Zeitung «Il Popolo d'Italia» herausgeben. Bald erkannten auch die Westalliierten die einzigartige Begabung Mussolinis als Agitator und förderten ihn mit erheblichen Geldbeträgen, die häufig über Abgesandte der französischen Sozialistischen Partei flossen. (Kirkpatrick: 57) Der König erklärte nach Geheimverhandlungen am 24.Mai 1915 Österreich den Krieg - gegen die Stimmung im Land und ohne Zustimmung des Parlaments.

Mussolini, der sich freiwillig gemeldet hatte, spornte die Soldaten an, und die Arbeiter rief er auf, mehr zu produzieren – «wir brauchen Kanonen, Bomben, Gewehre, (…) bis die Barbaren für immer geschlagen am Boden liegen.» (Mussolini: 24) In seiner Zeitung betonte er als «Sprecher der Kämpfenden» das klassenübergreifende Erlebnis des Schützengrabens, Kameradschaft, Disziplin, Opferbereitschaft.

Die Geburt des Faschismus

Bis zu 750.000 Soldaten verloren ihr Leben, 1 Million wurden zu Invaliden, 4 Millionen kehrten zurück in der Hoffnung auf ein besseres Leben. «Wir Überlebenden, wir, die wir zurückgekehrt sind, erheben Anspruch auf unser Recht, Italien zu beherrschen, auf dass es sich würdig erweise, seinen Platz unter den großen Nationen einzunehmen», verkündete Mussolini am Ende des Krieges. (Mussolini: 42)

160.000 junge Offiziere aus dem Mittelklassen, hunderttausende Unteroffiziere «die im Krieg befehlende und verantwortliche Positionen innegehabt hatten» verloren nun, «arbeitslos bleibend» ihre Bedeutung. (Gramsci: 915) Sie sahen Italien und sich selbst um den Erfolg geprellt und wurden daher erfolgreich von Mussolini umworben. Am 23.März 1919 gründete er in Mailand seine «Fasci die Combattimento», zu denen viele «Arditi» stießen, gewaltaffine Angehörige der Sturmtruppen, ebenso wie vom «allgegenwärtigen Paramilitarismus» geprägte Studenten (Reichardt: 383). Die Stimmung des verletzten Nationalstolzes wurde zum Zentrum der faschistischen Propaganda, die ansonsten aus einem Sammelsurium eher linker Forderungen bestand: Frauenwahlrecht und Republik, Achtstundentag und Mindestlohn.

Der Konflikt um das von Italien beanspruchte Fiume (Rijeka) geriet zum Fanal dieser Stimmung. Der Schriftsteller Gabriele D’Annunzio hatte es mit seinen «Legionären» besetzt und ein Regime errichtet, dem Mussolini die Rituale seiner Bewegung entlehnte, die Aufmärsche und patriotischen Reden, den Führer- und Uniformkult. D’Annunzio allerdings musste sich auf Druck der Alliierten und des Militärs zurückziehen, und für Mussolini, der nun zum Hoffnungsträger des Nationalismus aufstieg, war damit schon 1919 klar, dass eine «Revolution» nicht gegen die Armee und den sie repräsentierenden König erfolgreich sein könne. Zunehmend gab der Faschismus «seinen pseudo-revolutionären Charakter» auf und fand seine Funktion als «freiwillige Miliz zur Verteidigung der sozialen und nationalen Ordnung», wie der Nationalist und spätere Justizminister Alfredo Rocco formulierte, dessen Konzepten vom autoritär-korporativen Staat der Duce nach seiner Machtübernahme folgte. (Priester: 129)

Das Gespenst des Bolschewismus

«Mit der Niederlage Deutschlands wird über Europa ein neuer blühender Frühling ziehen,» hatte Mussolini 1915 versprochen. Doch schon vor dem Ende des Weltkriegs flammten die sozialen Konflikte verstärkt wieder auf. Arbeitslosigkeit und Inflation lösten eine Streikwelle aus. Die Unternehmer forderten Lohnverzicht und sperrten die Beschäftigten aus. Die Arbeiter im industrialisierten Norditalien antworteten im Sommer 1920 mit Betriebsbesetzungen, versuchten vergeblich die Produktion weiterzuführen. Die linken «Maximalisten» waren begeistert von der russischen Revolution und wollten sich der kommunistischen Internationale anschließen. Sie forcierten die Schaffung von Sowjets, die aber keine überörtliche Macht entwickeln konnten. Nur in Turin erlangen Räte «eine gewissen Reife und einiges Gewicht». (Tasca: 100) Die besetzten Fabriken glichen «belagerten Festungen», doch die Ausweitung zu einer nationalen Bewegung scheiterte. Ministerpräsident Giolitti verweigerte die von den Industriellen geforderte militärische Räumung der Fabriken und erzwang noch einmal einen Kompromiss, der den Arbeitern Kontrollrechte und soziale Verbesserungen einräumte. Das Vertrauen in die weitergehenden Perspektiven der Sozialisten allerdings begannen zu schwinden, die Fraktionskämpfe verschärften sich. Eine Minderheit der Maximalisten spaltete sich beim Parteitag in Livorno 1921 ab und gründete die «Partito Comunista d’Italia».

Die «Strafexpeditionen»

In der Poebene bewirtschafteten besitzlosen Saisonarbeitern die großen Güter. Ende des 19. Jahrhunderts versuchte Ministerpräsident Giolitti deren Radikalismus zu zähmen, indem er das Genossenschaftswesen förderte und die Kooperation mit den Sozialisten suchte. Die Sozialisten forderten in den roten Jahren nach dem Krieg die Sozialisierung des Bodens und setzten 1919 durch rigorose Streiks und Boykottmaßnahmen Rechte durch, welche die Verfügungsgewalt der Besitzenden einschränkten – gewerkschaftliche Arbeitsvermittlung, Einstellungsquoten, verbindliche Tarife, hohe Kommunalsteuern auf Grundbesitz. Gegen diese starke Stellung begannen die «agrari» anzurennen, vor allem ihre aus dem Krieg zurückgekehrten Söhne. Zudem war im Weltkrieg, begünstigt durch eine sozialpatriotische Politik, eine neue Schicht von kleinen Grundbesitzern gewachsen, die «zu fanatischen Verteidigern ihrer heiligen Eigentumsrechte» und zu den «ersten Rekruten des Fascismus auf dem Land» wurden. (Silone: 97) In den ländlichen «Fasci» und ihren Kampfabteilungen, den «Squadre d’azione», verbündeten sie sich mit den Großgrundbesitzern. «Die agrari und ihre Interessenverbände bezahlten oft die Squadristen, wenn sie nicht sogar den örtlichen Squadristenverbänden selbst vorstanden.» (Reichardt: 102)

Die Squadre waren militärisch geführt und organisiert mobil und fähig, die Kräfte lokal zu konzentrieren. Der Faschismus konnte sich nur deshalb so rasch entfalten, schrieb der Squadrist Umberto Banchelli in seinen Erinnerungen, «weil viele Offiziere der Carabinieri und anderer Waffengattungen unserem Werk mit Wohlwollen gegenüberstanden. Unteroffiziere und Mannschaften bemühten sich in einem edlen Wettstreit, dem Fascio zu helfen.» (Reichardt: 209) Ähnliches galt für das aktive Offizierskorps, das den «Squadrismus durch die Lieferung von Waffen und Lastkraftwagen» unterstützte. (Reichardt: 230)

Die erste Welle des Stoßtruppterrors traf Anfang 1921 die Emilia. Zunächst wurden oft die Arbeitskammern niedergebrannt, die als Zentrum der örtlichen Organisation wirkten. Kommunalverwaltungen wie lokale Parteibüros wurden verwüstet, die bei den Kleinhändlern «verhassten Konsumgenossenschaften buchstäblich in Schutt und Asche gelegt». (Reichardt: 290)

Eine konservative Zeitung berichtete: «Tag für Tag ziehen Strafexpeditionen aus. Das faschistische Lastauto fährt in ein bestimmtes Dorf und dort direkt vor das Haus eines bestimmten Gewerkschaftsführers. Bleibt der hart, tritt Gewalt an die Stelle der Argumente. In den meisten Fällen führen schon Drohungen zum Ziel. Wenn nicht, kommen die Revolver zu Wort.» (Reichardt: 106) Nicht selten wurden Sozialisten auf offener Straße totgeprügelt, häufiger aber wurden sie erniedrigt, indem man sie entführte, mit Rizinusöl abfüllte und nackt an den Straßenrand band.

«In jedem Falle erwiesen sich diese Gewaltaktionen als äußerst wirksames Mittel zur Einschüchterung und Demoralisierung, da nicht selten die Früchte jahrzehntelanger Organisations- und Spartätigkeit im Handumdrehen vernichtet wurden.» (Reichardt: 87) Schließlich wurden die Funktionäre zum Rücktritt, Landarbeiter, «quasi mit vorgehaltener Pistole», zum Eintritt in die faschistischen Gewerkschaften gezwungen. (Reichardt: 283)

Die Gemeinden und Genossenschaften appellieren an Behörden und Justiz, als diese schon mit den Faschisten sympathisierten oder ihn zumindest als nützlich ansahen. Die Gerichte sprachen Squadristen frei, wenn sie überhaupt Verfahren eröffneten. Justizminister Luigi Fera verfügte schließlich sogar, man möge alle Verfahren gegen Faschisten einschlafen lassen. (Reichardt: 244)

Der Marsch auf Rom

Die Unternehmer sahen sowohl in den Fabrikbesetzungen wie auch in den Mitbestimmungsrechten das Gespenst des Bolschewismus umgehen, da ihnen die alleinige Kontrolle über ihr Eigentum entzogen wurde. Giolitti, der «Bismarck Italiens», hatte bisher die Politik des sozialen Kompromisses gesucht, um die subalternen Klassen zu integrieren. Die Industriellen wandten sich nun vom liberalen Staat ab, der die Fabriken nicht gewaltsam geräumt hatte. Angesichts des Zusammenbruchs von Banken und Firmenkonsortien hofften auch die Kleinsparer auf den rettenden Staat, die Eliten setzten auf eine «Funktionalisierung der politischen Macht im Sinne der ökonomischen». (Priester: 161) Der liberale Staat mit dem von Sozialisten und katholischen Populari dominierten Parlament konnte dies nicht leisten, scheiterte etwa an der Aufhebung des politischen Preises für Brot.

Der Sommer 1922 war geprägt vom Vormarsch des Terrors in den Städten, wo die Schwarzhemden mit augenzwinkernder Billigung der Justiz und Verwaltung jeweils ihre Kräfte konzentrierten und so nacheinander die roten Rathäuser Norditaliens eroberten und Gewerkschaftsbüros und linke Zeitungen verwüsteten. Der landesweite Generalstreik am 1. August 1922 geriet zu einem verzweifelten Aufbäumen der zunehmend mutlosen Arbeiterbewegung, bei zu geringer Beteiligung gebrochen durch Terror und durch faschistische Streikbrecher, die etwa die Eisenbahnen selbst fuhren. Mussolini stellte sich dar als Retter vor der «roten Gefahr». (Scheuer: 26)

Nur selten gelang wie in Parma eine erfolgreiche Gegenwehr. Hier hatte im August 1922 mit den «Arditi del Popolo» eine überparteiliche Abwehrbewegung die Verteidigung der proletarischen Stadtviertel organisiert und sich erfolgreich gegen die etwa 10.000 Squadristi des Faschistenführer Italo Balbo behauptet. (Staid: 71) Diese «Einheitsfronttaktik» wurde aber von Sozialisten und der neu gegründeten «Partito Comunista d’Italia» abgelehnt. Amadeo Bordiga, der damalige Führer der Kommunisten, sah in Mussolini wie im Reformisten Turati nur ein anderes Gesicht der gleichen bürgerlichen Herrschaft.

1921 hatten die Faschisten erstmals 35 Abgeordnete ins Parlament entsandt auf den von Ministerpräsident Giolitti organisierten Wahllisten des liberalen und nationalen «blocco nazionali». (Schieder 24) Die squadristische Gewalt fand die Unterstützung des antisozialistischen Bürgertums, lief aber nach der Zerschlagung der sozialistischen Infrastruktur Gefahr, dysfunktional zu werden, wenn sie nicht mehr als ergänzender Teil der staatlichen Gewalt wahrgenommen wurde. (Reichardt: 209)

Die Führer der Squadristi drohten mit einem «Marsch auf Rom» und mussten mit Versprechungen diszipliniert werden, während Mussolini gleichzeitig mit Militär und Großindustrie verhandelte, sich als Retter des Vaterlands darstellte und eine Doppelstrategie versuchte. «Der Faschismus kann das Tor (zur Macht) mit dem Schlüssel der Legalität öffnen, aber er kann auch gezwungen sein, es mit dem Schwertschlag des Aufstandes einzurennen», schrieb er im April 1922.

Nicht an der Spitze eines faschistischen Staatsstreichs, sondern im Schlafwagen zog Mussolini in Rom ein und wurde vom König zum Ministerpräsidenten ernannt. Das Parlament trat im November sämtliche Machtbefugnisse an Mussolini ab, der die parlamentarischen Formen beibehielt, die Macht in der «diktatorischen Demokratie» aber bei sich konzentrierte. Mussolinis Sieg bedeutete eine doppelte Niederlage der Arbeiterbewegung, die vor dem Faschismus und die ihrer Transformationsversuche – auf dem Land des reformerischen, in den Industrieregionen des Versuchs, dem bolschewistischen Weg zu folgen. Im Gefängnis und im Exil reflektierte die geschlagene italienische Linke die Ursachen. Und noch 2022 schlug Paul Mason vor: «Die Geschichte dieser Machtergreifung sollte eine Pflichtlektüre sein, und zwar nicht nur für Antifaschisten und Demokraten.»


 

Literatur

Freund, Michael (1932/1972): Georges Sorel. Der revolutionäre Konservatismus, Frankfurt.

Gramsci, Antonio (2012): Gefängnishefte Band 4, Hamburg.

Kirkpatrick, Ivone (1997): Mussolini, Berlin.

Mason, Paul (2022): Faschismus, Frankfurt.

Morelli, Anne (1922): Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe.

Mussolini, Benito (1925): Reden. Eine Auswahl aus den Jahren 1914 bis 1924, Leipzig.

Priester, Karin (1972): Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen, Köln.

Reichardt, Sven (2002): Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln.

Scheuer, Georg (1985): Genosse Mussolini. Wurzeln und Wege des Ur-Faschismus, Wien.

Schieder, Wolfgang (2010): Der italienische Faschismus, München.

Silone, Ignazio (1934/1984): Der Faschismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung, Frankfurt.

Staid, Andrea (2020): Arditi del Popolo, Bodenburg.

Tasca, Angelo (1938/1969): Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus, Wien.

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